Menschen mit besonderen sexuellen Neigungen

12.5 Menschen mit besonderen sexuellen Neigungen


Da das Sexualverhalten des Menschen nicht von einem Instinkt geleitet wird, sondern durch eine Vielzahl sozialer Einflüsse geprägt ist, entwickeln verschiedene Menschen auch verschiedene sexuelle Neigungen und ein unterschiedliches Sexualverhalten. Eigentlich müssen hieraus nicht notwendig Probleme entstehen, aber die meisten Gesellschaften stellen bestimmte sexuelle Normen auf, durch die - wenn sie einengend und rigide sind - das Verhalten einer großen Anzahl von Menschen als abweichend definiert wird.


In unserer eigenen Gesellschaft sind die sexuellen Normen traditionell sehr eng und unrealistisch gewesen. Es gab daher immer viele Menschen mit „sexuellen Problemen" oder, genauer gesagt, mit sozialen Problemen, die aus ihrem Bedürfnis nach sexuellem Ausdruck entstanden. Ihr Verhalten passte sich den vorgeschriebenen Normen nicht an und sie sahen sich daher eingeschränkt, frustriert, diffamiert und verfolgt.


Ein gewisses Maß an Beschränkung durch die Gesellschaft ist natürlich dann notwendig, wenn sexuelle Handlungen gegen den Willen eines Partners geschehen, das heißt wenn es ein eindeutiges Opfer gibt. Das ist bei Vergewaltigung der Fall und bei anderen Formen sexueller Gewalt und Belästigung. Wo jedoch sexuelle Handlungen einvernehmlich und im privaten Rahmen vorgenommen werden, besteht kein Anlass - und auch keine Berechtigung - für eine Einmischung seitens der Gesellschaft. Jedes derartige Einschreiten, auf rechtlicher oder auf psychiatrischer Basis, wäre im Gegenteil in sich repressiv, wie gut es auch immer gemeint sein sollte. Sicherlich ist der eine oder andere sexuelle Nonkonformist oder Exzentriker als gestört zu bezeichnen und er könnte vielleicht von einer Therapie Nutzen haben, diese sollte jedoch nicht zwangsweise verordnet werden. Auch kann man nicht sexuelle Abstinenz verlangen, bis eine „Heilung" eingetreten ist. Solange solche Menschen niemandem Schaden zufügen, verdienen sie es, nach eigenen Maßstäben leben zu dürfen. Selbst wenn wir sie für sexuelle Krüppel halten (und diese Meinung kann sehr wohl falsch sein), haben wir kein Recht, ihnen ihre Krücken zu nehmen. Es wäre schließlich eine doppelte Ungerechtigkeit seitens der Gesellschaft, zunächst durch sexualfeindliche Lehren, seelische Vernachlässigung oder unwürdige Lebensbedingungen solche Krüppel zu schaffen und sie dann nochmals zu bestrafen, indem man ihnen das wenige an sexueller Befriedigung nimmt, das ihnen geblieben ist.


Eines ist unbestritten: viele Menschen in unserer Gesellschaft haben ohne eigene Schuld sexuelle Neigungen entwickelt, die weit von unserer offiziellen Norm wegführen. In der Vergangenheit nannte man solche Menschen Sünder oder Ketzer, heute werden sie oft als „Perverse" oder „sexuelle Psychopathen" bezeichnet. Welches Etikett man ihnen auch immer anheftet, sie werden in der Regel ihrer sexuellen Selbstverwirklichung beraubt, selbst wenn sie in keiner Weise Rechte anderer verletzen. Manche Menschen lassen sich beim Geschlechtsverkehr zum Beispiel gerne erniedrigen oder beleidigen, andere beherrschen gerne ihren Partner, spielen mit Urin oder Exkrementen, führen „obszöne" Reden oder sehen anderen beim Masturbieren zu. Wieder andere tragen gerne Kleidung des anderen Geschlechts oder sind sexuell von einem Stück Unterwäsche, einer Puppe, einem Motorrad oder anderen leblosen Objekten abhängig. Die Variationen sind endlos, und es ist unnötig, sie einzeln aufzuführen. Es geht lediglich darum, dass all diese Menschen mit ihren ganz besonderen sexuellen Neigungen von der Gemeinschaft wenig Unterstützung bekommen. Oft ist es schwer für sie, geeignete Partner zu finden, und daher bleiben sie oft unbefriedigt. Für viele von ihnen kommt eine Eheschließung nicht in Frage und sie leben deshalb alleine in völliger Isolierung. Nicht selten schämen sie sich ihrer Neigungen und fühlen sich schuldig, wagen es jedoch nicht, mit anderen darüber zu sprechen. Das heißt, auch wenn sie nicht unmittelbar mit dem Gesetz in Konflikt kommen, führen diese Menschen oft ein sehr unglückliches Leben.


Wenn unsere Gesellschaft etwas toleranter wäre, müsste all dies nicht so sein. Wir können tatsächlich davon ausgehen, dass selbst die außergewöhnlichsten sexuellen Neigungen befriedigt werden könnten, wenn jedermann die Möglichkeit hätte, sich offen nach geeigneten Partnern umzusehen. In manchen Fällen könnte es wohl notwendig sein, diese Partner für ihre Dienste zu bezahlen, aber abgesehen von besonders merkwürdigen oder destruktiven sexuellen Wünschen brauchte es keinen Mangel an Erfüllung zu geben. Dazu könnte auch die Gesellschaft beitragen, indem sie einen geeigneten Freiraum schafft. So schlug beispielsweise im Jahre 1964 der schwedische Arzt Lars Ullerstam gesetzliche Reformen vor, die eine Einrichtung von Kontaktbüros für sexuelle Minderheiten erlauben würden. Er schlug auch bereits damals persönliche „Sex-Anzeigen" in Zeitungen vor und befürwortete Klubs, in denen sich sexuelle Exzentriker treffen und ihren besonderen Phantasien nachgehen könnten. Es sollten besondere Kinos eingerichtet werden, in denen „Sex-Filme" für bestimmte Zuschauergruppen gezeigt werden könnten, Bordelle sollten eingerichtet werden, in denen besonderen sexuellen Bedürfnissen Rechnung getragen werden könnte. Ullerstam verlangte sogar die Einrichtung mobiler Bordelle, die in Vororte, abgelegene Wohnbezirke, Krankenhäuser oder Pflegeheime kommen sollten. Die Angestellten dieser Bordelle sollten als „erotische Samariter" bezeichnet und gesellschaftlich in hohem Ansehen gehalten werden.
 



„Sex-Anzeigen"


In einer Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften in den Vereinigten Staaten und Europa gibt es heute persönliche Anzeigen sexuellen Inhalts. Viele richten sich an Menschen mit besonderen sexuellen Interessen, manche sind kaum versteckte Angebote männlicher oder weiblicher Prostituierter (aus einer Berliner Tageszeitung, 2002).





Selbstverständlich wurden diese Vorschläge zunächst in der Öffentlichkeit nur wenig unterstützt. Einige von ihnen wurden jedoch im Laufe der Zeit in einigen westlichen Ländern stillschweigend eingeführt. Manche europäischen Länder haben inzwischen männliche und weibliche Prostitution legalisiert und „pornographische" Filme, Bücher und Zeitschriften zugelassen, Selbst in den Vereinigten Staaten gibt es heute in vielen Städten „Erwachsenen"-Theater, „Peep-Shows", Sexshops und entsprechende Buchläden. Die Zahl der Zeitschriften und Zeitungen, in denen „Sex-Anzeigen" erscheinen, nimmt ständig zu. Saunabäder bieten sexuelle Möglichkeiten für homosexuelle Besucher, neuerdings auch für heterosexuelle. Bestimmte „Massagesalons" bieten Entspannung für einsame Kunden, und „Sex-Kliniken" bieten Ersatzpartner („sexuelle Surrogate"), um sexuell funktionsgestörte Menschen zu behandeln, Es gibt „Kontaktklubs", in denen vor allem Orgien, sexuelle „Wochenendfahrten" oder Ferienreisen organisiert werden. Schließlich gibt es auch Hotels und Feriengebiete, die sich auf sexuelle Entspannung spezialisiert haben.


Diese Entwicklung bedeutet sicherlich nicht nur für Millionen „durchschnittlicher" Menschen eine große Hilfe, sondern auch für die sexuellen Minderheiten, und das allein ist bereits Grund genug, sie zu begrüßen. Sie ist kein Beweis für eine „Degeneration" unserer Kultur, sondern zeigt im Gegenteil, dass unsere Gesellschaft aufgeklärter und menschlicher geworden ist. Wenn manche dieser neuen Einrichtungen immer noch ein Hauch von Geschmacklosigkeit und Ausbeutung umgibt, ist dies vor allem die Folge überholter Gesetzgebungen, die sie in den „Untergrund" zwingen und damit in die Arme skrupelloser Geschäftemacher oder sogar des organisierten Verbrechens. In Europa finden sich jedoch elegante, gut ausgestattete und keineswegs düstere „Sexshops", „Pornotheater" und „Sexklubs", die von angesehenen Personen geführt werden. Sie befinden sich oft in der besten Geschäftslagen, neben Modehäusern und teuren Juweliergeschäften. Prostituierte können in angenehmer Umgebung und ohne Zuhälter arbeiten. Es besteht also keine Notwendigkeit mehr, Sexualität für schmutzig zu halten. Wenn die Öffentlichkeit es wirklich wollte, könnten solche Verbesserungen auch in anderen Ländern eingeführt werden.


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