Anpassung und Abweichung

10. Anpassung und Abweichung


Jede Gesellschaft entwickelt für das Sexualverhalten ihrer Mitglieder Maßstäbe, Regeln und Normen. Von einer Gesellschaft zur anderen und je nach der historischen Situation können diese Normen sehr verschieden sein. Sie teilen aber in jedem Fall die Menschen in zwei Gruppen: diejenigen, die sich den Normen anpassen, das heißt die „normalen" Menschen, und diejenigen, die von diesen Normen abweichen, das heißt die „nicht-normalen" oder „devianten" Menschen. Daraus wiederum ergeben sich Probleme von Anpassung und Abweichung oder, anders ausgedrückt, von Konformität und Devianz.


Bis zum Beginn unseres Jahrhunderts war es beispielsweise bei den Siwah in Nordafrika selbstverständlich, dass alle „normalen" Männer homosexuellen Geschlechtsverkehr hatten. Wer sich dem entzog, galt als Sonderling. Die Rwala-Beduinen, die auf der arabischen Halbinsel lebten, betrachteten demgegenüber homosexuelle Praktiken als so „abnorm" und empörend, dass sie die Beteiligten hinrichteten.


Wenden wir uns unserer eigenen Gesellschaft zu, stellen wir fest, dass im 19. Jahrhundert angenommen wurde, „normale" Frauen hätten keinen Orgasmus. Wenn sie dennoch Orgasmen hatten oder darauf bestanden, Orgasmen zu haben, wurden sie oft als unmoralisch oder sogar als krank bezeichnet. Heute ist es die Frau, die keinen Orgasmus hat, die man für „nicht normal" oder „funktionsgestört" hält und der man eine Behandlung empfiehlt.


Diese Beispiele zeigen nicht nur, dass sexuelle Normen relativ sind, sondern auch, dass die Abweichung von diesen Normen zu sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Reaktionen führt. Was in einer Kultur als sexuelle Anpassung aufgefasst wird, kann in einer anderen als sexuelle Abweichung gelten. Diejenigen, die gegen die Normen verstoßen, können deshalb sehr unterschiedliche Schicksale haben.


Wie man sieht, kann sexuelle Devianz oder Abweichung zu mindestens vier verschiedenen sozialen Reaktionen fuhren:


• Sie kann als Absonderlichkeit belächelt werden (wie beim rein heterosexuellen männlichen Siwah).


• Sie kann als Unsittlichkeit verdammt werden (wie bei der Frau des 19. Jahrhunderts, die einen Orgasmus hat).


• Sie kann als Verbrechen bestraft werden (wie beim homosexuellen männlichen Rwala-Beduinen).


• Sie kann als Krankheit behandelt werden (wie bei der modernen Frau, die keinen Orgasmus hat).


Beim ersten der obigen Fälle hat die sexuelle Abweichung keine besonderen Folgen, Der Abweichende gilt lediglich als wunderlicher Kauz, den man aber gut ertragen kann. Die anderen drei Fälle sind erheblich schwerwiegender. Ist die Abweichung erst einmal in moralische, juristische oder medizinische Begriffe gefasst, dann wird sie zur Angelegenheit der Kirche, des Gerichts und der Medizin. Nun ist der Abweichende nicht mehr der harmlose Nonkonformist, der ein Recht hat, in Frieden gelassen zu werden, sondern er wird zum Sünder, den man retten, zum Verbrecher, den man bestrafen, oder zum Patienten, den man heilen muss.


Es gibt natürlich auch Gesellschaftsformen, in denen die hier aufgeführten vier Beispiele sexuellen Verhaltens keine besondere Aufmerksamkeit erhalten und wo diese nicht als deviant betrachtet werden. In solchen „permissiven" Gesellschaften sind sexuelle Normen weit genug gefasst, um viele Arten sexueller Besonderheiten zuzulassen und hetero- und homosexuelle Männer, Frauen mit und ohne Orgasmus als normale Menschen anzusehen.


Andererseits können in einer Gesellschaft mit besonders strengen sexuellen Normen solche Gruppen von Menschen nicht nur einer, sondern mehreren Kategorien der Devianz oder Abweichung zugeteilt werden. Es wurde bereits erwähnt, dass im Europa und Nordamerika des 19. Jahrhunderts sexuelle Ansprüche bei Frauen häufig als unmoralisch und krank angesehen wurden. Sie mussten sich also nicht nur fromme Predigten anhören, sondern auch psychiatrische Behandlungen über sich ergehen lassen. In ähnlicher Weise betrachten heute manche Länder Homosexualität nicht nur als Sünde, sondern auch als Verbrechen und Krankheit. Homosexuelle sehen sich in diesen Ländern also einer dreifachen Verurteilung durch die Gesellschaft ausgesetzt - eine wahrlich niederdrückende Erfahrung.


Allerdings sind sexuelle Normen in der modernen Gesellschaft relativ rasch wandelbar, so dass eine solche dreifache oder zweifache Abweichung auch rasch auf eine einfache Abweichung oder auf absolute Anpassung reduziert werden kann. Ein Beispiel so drastischer Veränderungen ereignete sich in jüngerer Vergangenheit in den Vereinigten Staaten, wo die Psychiater Homosexualität aus der Liste der Geisteskrankheiten strichen und verschiedene Bundesstaaten die traditionellen Gesetze gegen homosexuelles Verhalten abschafften. Außerdem entschlossen sich einige christliche Kirchen, dieses Verhalten nicht mehr als sündhaft zu verurteilen. So wurden innerhalb relativ kurzer Zeit viele amerikanische Homosexuelle von gesellschaftlichen Außenseitern zu angesehenen Bürgern. Nur diejenigen, die konservativen Kirchen angehören, die in konservativen Bundesstaaten leben oder die bei konservativen Psychiatern in Behandlung sind, sehen sich noch in der Rolle von Abweichenden, die man korrigieren muss.


Das führt uns zu einem weiteren wichtigen Gesichtspunkt dieses Problems. In unserer rasch sich verändernden Welt müssen die moralischen, gesetzlichen und medizinischen Normen für das Sexualverhalten nicht immer in Übereinstimmung bleiben, sie können sich sogar gegenseitig ausschließen. Das heißt, gerade die Anpassung an eine bestimmte Norm kann die Abweichung von einer anderen bedeuten. Ein Beispiel: eine Frau, die keinen Orgasmus hat, wird heute möglicherweise von ihrem Therapeuten aufgefordert, regelmäßig zu masturbieren, um ihre sexuelle „Funktionsfähigkeit" wiederherzustellen. Derselben Frau könnte von ihrem Geistlichen gesagt werden, dass Masturbation eine Sünde sei, die Gott bestrafen wird. Sie hat also die Wahl, entweder gesund und unmoralisch zu sein oder moralisch und krank. Wie immer sie sich entscheidet, sie wird eine sexuelle Norm verletzen. Der Therapeut, der einer Frau zur Masturbation rät, verstößt damit unter Umständen gegen das Gesetz. (Mindestens ein Bundesstaat der USA bestraft die Aufforderung zur Masturbation als Vergehen.) Dennoch kann sein Berufsethos es verlangen, diesen Ratschlag zu geben. Er steht also vor der Wahl, entweder gesetzestreu und unethisch oder ethisch und kriminell zu handeln. Auch er befindet sich also in einem Dilemma. Wir könnten natürlich diese Konflikte zwischen Normen noch weiter untersuchen, indem wir die religiösen Auffassungen des Therapeuten und die medizinischen Ansichten des Geistlichen in die Überlegung einbeziehen, aber das Ziel dieser Ausführungen sollte klar sein: Abweichung und Anpassung sind relative Begriffe, ihr konkreter Inhalt hängt vom gesellschaftlichen Zusammenhang ab.


Leider hat man diese einfache Tatsache in der Vergangenheit nicht immer verstanden. Sie mag uns heute sehr einleuchtend erscheinen, sie wurde aber selbst von hervorragenden Gelehrten in der Geschichte oft nicht begriffen. Sie sahen statt dessen sexuell abweichendes Verhalten als konstante Eigenschaft an, die bei einem Menschen entstehen kann und die durch die Gesellschaft kontrolliert werden muss. Entsprechend nahmen sie auch an, es gäbe eine „abweichende" oder „deviante Persönlichkeit", und sie konzentrierten ihre Bemühungen auf die Beschreibung dieser Persönlichkeit und die Erklärung ihrer Entstehung. Auf der Grundlage solcher Befunde entwickelten sie verschiedene Methoden, um deviante Menschen zur Wiederanpassung zu zwingen. Dies war viele Jahrhunderte lang die einzige Antwort auf sexuelle Abweichung. Es ergaben sich hie und da unterschiedliche Schwerpunkte und Methoden, die Resultate waren sich jedoch immer bemerkenswert ähnlich:


• Im Mittelalter, als die herrschende soziale Macht die Religion war, wurde das Problem in der Hauptsache in religiöse und moralische Begriffe gefasst. Der Unterschied zwischen sexueller Anpassung und sexueller Abweichung wurde daher als Unterschied zwischen Rechtschaffenheit und Sünde angesehen. Sexuell Abweichende waren vom Teufel oder von bösen Geistern besessen. Nur Gebete und Bußfertigkeit konnten sie wieder in „normale" Menschen verwandeln. Um sexuelles Abweichen unter Kontrolle zu halten, brauchte die Gesellschaft mehr Priester und Kirchen. (Das bedeutet letzten Endes nichts anderes, als dass der beste Garant sexueller Anpassung der Kirchenstaat ist.)


• Mit Beginn der Moderne verlor die Kirche nach und nach an Einfluss zugunsten weltlicher Mächte. Daher begann man, das Problem in der Hauptsache in juristische Begriffe zu fassen. Der Unterschied zwischen sexueller Anpassung und sexueller Abweichung wurde nun als Unterschied zwischen Gesetzestreue und Verbrechen gesehen. Sexuell Abweichende waren „geborene Verbrecher". Nur Strafe und Wiedereingliederungsmaßnahmen konnten sie wieder in „normale" Menschen verwandeln. Um sexuelles Abweichen unter Kontrolle zu halten, brauchte die Gesellschaft mehr Polizisten und Gefängnisse. (Das bedeutet letzten Endes nicht anderes, als dass der beste Garant sexueller Anpassung der Polizeistaat ist.)


• Schließlich schwand im 19. und 20. Jahrhundert das Vertrauen in politische Autorität, und es wuchs die Achtung vor der Wissenschaft. Daher begann man, das Problem in der Hauptsache in medizinische Begriffe zu fassen. Der Unterschied zwischen sexueller Anpassung und sexueller Abweichung wurde als Unterschied zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit gesehen. Sexuell Abweichende waren „Psychopathen". Nur psychiatrische Behandlung konnte sie wieder in „normale" Menschen verwandeln. Um sexuelles Abweichen unter Kontrolle zu halten, brauchte man mehr Psychiater und Irrenhäuser. (Das bedeutet letzten Endes nichts anderes, als dass der beste Garant sexueller Anpassung der „Therapiestaat" ist.)


In allen drei Fällen können wir die gleiche grundsätzliche Ideologie feststellen: die herrschenden sexuellen Normen dürfen nicht in Frage gestellt werden. Sexuell abweichendes Verhalten ist nicht zu tolerieren. Der Abweichende hat kein Recht auf seine Abweichung. Bestimmte soziale Funktionsträger und Institutionen sind mit besonderen Machtbefugnissen auszustatten, um Abweichende wieder „in Reih und Glied" zu bringen und eine umfassende sexuelle Anpassung zu gewährleisten. Menschen können ganz allgemein ihr „bestes" sexuelles Verhalten nur erreichen und beibehalten, wenn sie in irgendeiner Form unter totalitärer Kontrolle stehen.


Darüber hinaus ist noch eine zweite Feststellung zu treffen: Die Kontrolle des Sexualverhaltens durch die Gesellschaft kann im Namen „Gottes", des „Rechtsstaats" oder der „medizinischen Wissenschaft" stattfinden. Wie immer man sie aber rechtfertigt, sie wird immer als objektiv, unparteiisch und „natürlich" dargestellt, Gesellschaften geben niemals gerne zu, dass dies in der Tat nichts anderes ist als die Kontrolle einer Gruppe von Menschen durch eine andere. Der soziale und politische Aspekt dieser stillschweigenden Vereinbarung wird selten problematisiert, sondern er wird meist hinter dem Rauchvorhang religiöser, juristischer und medizinischer Fachterminologie versteckt.


Wenn man jedoch das Problem der Abweichung wirklich verstehen will, bedarf es einer umfassenderen Sichtweise. Es reicht nicht aus, den einzelnen Abweichenden zu betrachten und sich Gedanken darüber zu machen, wie man ihn in eine akzeptable, „normale", angepasste Person verwandeln kann. Man muss diejenigen kritisch betrachten, die diese Anpassung fordern und die jemanden überhaupt erst als einen Abweichenden definiert haben. Dabei kann oft bewiesen werden, dass die Rechtschaffenheit, Ehrbarkeit und geistige Gesundheit der angepassten Mehrheit in erheblichem Maße durch die offensichtliche Präsenz von Sündern, Rechtsbrechern und Geisteskranken stabilisiert oder bestätigt wird. Das bedeutet: die Abweichenden haben eine wichtige soziale Funktion. Sie stellen willkommene „warnende Beispiele" dar und dienen damit dem sozialen Zusammenhalt und der Stabilität der übrigen Bevölkerung. Ihre Existenz bestätigt - negativ - das vorherrschende gesellschaftliche Wertsystem: Die Existenz gottloser Menschen bestätigt die Bedeutung der Religion; die Existenz gesetzloser Menschen bestätigt die Bedeutung von Recht und Ordnung; die Existenz geisteskranker Menschen bestätigt die Bedeutung der Psychiatrie.


Daher bedingen sich Konformität und Devianz, Abweichung und Anpassung gegenseitig; sie haben einen gemeinsamen Ursprung. Es ist kurzsichtig zu glauben, abweichendes Verhalten trete plötzlich bei bestimmten Menschen auf und zwinge erst dann die Gesellschaft, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Richtiger ist es zu sagen, dass die Gesellschaften sich so organisieren, dass ein bestimmtes Maß an Abweichung produziert wird und dann hilft, die aufgestellten Normen zu bestätigen. Das bedeutet, dass Gesellschaften ihre eigene Abweichung und ihre eigene Anpassung erzeugen. Darüber hinaus wäre es zu einfach, davon auszugehen, dass bei manchen Menschen ein objektiv abweichendes Verhalten vorliegt, oder dass es so etwas wie eine an sich abweichende Persönlichkeit oder an sich abweichende Handlung gibt. Abweichung ist keine Charaktereigenschaft von Menschen und kein definierter Verhaltenszug, sondern sie ist das Ergebnis der Interaktion zwischen Menschen. Sie wird durch soziale Beziehungen erzeugt, aufrechterhalten, aber auch aufgehoben. So kann man insgesamt Abweichung am besten als soziale Rolle erklären.


Menschen werden zu Abweichenden, das heißt deviant, wenn sie als solche durch andere oder durch sich selbst etikettiert werden. Jemand wird zum Ketzer, wenn seine Glaubensauffassung von der offiziellen Religion als falsch oder gefährlich bezeichnet wird. Diese offizielle Religion wird ihn dann exkommunizieren und, wenn es in ihrer Macht steht, mit Gewalt zum Schweigen bringen. In ähnlicher Weise wird jemand zum Verbrecher, wenn die Justiz der Ansicht ist, er habe gegen das Gesetz verstoßen. Die Justiz wird ihn dann für schuldig erklären und bestrafen. Schließlich kann jemand zum Geisteskranken werden, weil sein Verhalten nach offizieller Auffassung auf einen Mangel an geistiger Gesundheit hinweist. Die Psychiatrie erklärt ihn dann für krank und unterwirft ihn einer Behandlung.


Entsprechend gelten Menschen nicht mehr als deviant oder abweichend, wenn andere oder sie selbst das Etikett der Devianz entfernen. Sie können zum Beispiel die Vertreter der Macht zufriedenstellen, indem sie der Ketzerei abschwören und Buße tun, eine Strafe verbüßen und ihre kriminelle Laufbahn beenden oder indem sie sich von ihrer Geisteskrankheit heilen lassen. Die Etiketten „Ketzer", „Krimineller" und „Geisteskranker" werden dann offiziell entfernt, die früheren Abweichenden werden wieder in die angepasste Mehrheit aufgenommen. Sie werden in die Arme der Kirche aufgenommen, werden wieder geachtete Bürger der Gesellschaft und gehören wieder zur Welt der Gesunden.


Dies ist in groben Zügen das Prinzip der Bestimmung von Anpassung und Abweichung. Im täglichen Leben wird die Sache allerdings durch einige zusätzliche Faktoren kompliziert. Einer von ihnen wurde bereits kurz erwähnt: Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass Menschen sich selbst als Abweichende etikettieren, dass sie also offen zugeben, Ketzer, Verbrecher oder Geisteskranke zu sein. Urngekehrt werden Menschen in bestimmten Situationen die Rolle des Abweichenden ablehnen, die ihnen aufgezwungen wird, und sie bezeichnen sie dann als schrecklichen Irrtum. Sie werden dann selbst nach der Exkommunikation sich noch als prinzipientreue Gläubige bezeichnen, sie werden selbst im Gefängnis ihre Unschuld beteuern und werden sogar in der psychiatrischen Anstalt auf ihrer geistigen Gesundheit bestehen. Auch aus anderen Gründen kann es sein, dass Menschen die Rolle des Abweichenden ablehnen: Sie geben dann zwar möglicherweise zu, offizielle Normen verletzt zu haben, bezeichnen diese jedoch als unberechtigt und unwesentlich. Sie bezeichnen dann die traditionellen Glaubenssätze als gottlos, das Strafgesetz als Unrecht und den Katalog psychiatrischer Erkrankungen als unwissenschaftlich.


Die Vertreter der offiziellen Macht zögern andererseits manchmal, die Devianz bestimmter Menschen zu bestätigen. Es kann sein, dass sie nichts Besonderes an einem bestimmten Verhalten finden, selbst wenn es relativ ungewöhnlich ist. Wenn dann die Person selbst darauf besteht, deviant zu sein, wird ihr möglicherweise erklärt, sie habe in diesem Punkt unrecht. Das Etikett des Abweichenden kann durch die Vertreter der offiziellen Macht auch auf zwei andere Weisen entfernt werden: Sie können zum einen einfach einen offiziellen Fehler übereifriger Inquisitoren, korrupter Richter oder unwissender Ärzte zugeben. Ein Mensch, der als Ketzer verbrannt wurde, wird so unter Umständen später ein Heiliger, ein Krimineller wird offiziell rehabilitiert, ein Patient der Psychiatrie wird möglicherweise als unglückliches Opfer einer falschen Diagnose bezeichnet. Zum anderen können die Vertreter der offiziellen Macht beschließen, ihre Glaubenssätze zu überdenken, ihr Gesetz zu verändern und ihre Krankheitsdefinition zu revidieren. In keinem dieser Fälle verändert der Abweichende sein Verhalten, seine Anpassung wird dennoch wiederhergestellt.


Dieser Gedanke führt zu einem weiteren wichtigen Punkt: Nicht jeder, der offizielle Normen verletzt, wird als deviant bezeichnet, nicht jeder, der dieses Etikett trägt, hat offizielle Normen verletzt. Nicht alle Ungläubigen werden der Kirche bekannt, nicht alle Gesetzesbrecher werden gefasst und verurteilt, nicht alle Menschen mit merkwürdigem Verhalten kommen mit einem Psychiater in Berührung. Statt dessen werden diese Nonkonformisten möglicherweise von ihrer Umgebung als mehr oder weniger „normal" akzeptiert. Andererseits können vollkommen „normale" Menschen zu Unrecht in die Rolle von Ketzern, Kriminellen oder Geisteskranken gedrängt werden. Sie akzeptieren diese Rolle oder lehnen sie ab, ihre Devianz wird aber auf alle Fälle zur unleugbaren sozialen Tatsache, und sie haben unter den Folgen zu leiden. Sie haben den wahren Glauben vielleicht gar nicht verloren, und doch sind sie nun deviant. Sie haben das Gesetz vielleicht gar nicht gebrochen, und doch sind sie nun deviant. Sie haben sich vielleicht gar nicht „verrückt" verhalten, und doch sind sie nun deviant.


Angesichts solcher Beobachtungen hat die moderne Forschung über abweichendes Verhalten ihre Sichtweise erweitert und begonnen, den sozialen Gesamtzusammenhang einzubeziehen. Sie stellt nicht mehr nur die Frage nach den Gründen für abweichendes Verhalten einzelner Menschen, sondern sie stellt weitergehende Überlegungen an: Warum und wie werden bestimmte Menschen als deviant aus der Mehrheit herausgelöst, warum und wie wird ihnen die Rolle des „Abweichenden" zugesprochen? Wie reagieren diese Menschen auf eine solche Rollenzuweisung? Wie reagiert die übrige Gemeinschaft darauf? Unter welchen Bedingungen können Menschen die Rolle des Abweichenden ablehnen oder aufgeben? Was ist Nutzen und Nachteil der neuen Rolle für den Abweichenden? Was ist Nutzen und Nachteil für die anderen?


Natürlich ist es in diesem Buch nicht möglich, alle diese Fragen ausführlich zu diskutieren. Es reicht aus, wenn wir uns ihrer Differenziertheit bewusst sind. Für die vorliegenden, begrenzten Zwecke können wir uns auf eine kurze, relativ oberflächliche Übersicht beschränken und die bisherigen Ausführungen mit einer kurzen Bemerkung abschließen: Wenn Menschen einmal von anderen oder durch sich selbst zu Abweichenden gestempelt worden sind, bleibt ihnen oft keine andere Wahl, als diese Rolle so zu spielen, wie sie von der betreffenden Gesellschaft definiert wird. Oft wird eine solche Rolle so vollständig übernommen, dass diese Menschen, gemeinsam mit anderen Devianten, eine besondere „Subkultur" entwickeln. So kann der Ketzer als Führer einer neuen Sekte eine neue Aufgabe finden, der Kriminelle zum gewohnheitsmäßigen Verbrecher werden und sich der Unterwelt anschließen, der Geistesgestörte sich in seiner „Verrücktheit" sonnen und eine private Gefolgschaft aufbauen. Schließlich können auch solche Subkulturen von Menschen mit abweichendem Verhalten ihrerseits bestimmte Menschen als deviant bezeichnen, die dann eine neue Subkultur entwickeln usw.


Wie lassen sich nun die bisherigen Ausführungen auf den besonderen Fall sexuell devianten Verhaltens anwenden? Dies lässt sich am besten anhand der oben bereits erwähnten Beispiele darlegen. Erinnern wir uns daran, dass im 19. Jahrhundert Frauen, die ihre sexuellen Bedürfnisse äußerten und Orgasmen hatten, als sündig und krank angesehen wurden und dass Priester und Psychiater versuchten, sie zu „retten". Solche Frauen wurden nicht nur moralisch verurteilt, sondern wenn sich herausstellte, dass sie masturbierten, mussten sie sich wegen „Masturbationswahnsinn " auch noch in ärztliche Behandlung begeben. Waren sie sexuell mit ihren Ehemännern nicht zufrieden, behandelte man sie wegen „Nymphomanie" oder „Erotomanie". Diese Behandlungen konnten ein erhebliches Ausmaß annehmen und bis zur Klitoridektomie reichen. Auch noch radikalere Operationen waren nicht ausgeschlossen. Trat durch die Behandlung keine Besserung ein, wurde diesen Patientinnen oft eine deviante Karriere aufgezwungen, die sie zu „leichten Mädchen" oder zu Insassen von Irrenanstalten werden ließ.


Aber keineswegs alle orgasmusfreudigen Frauen erlitten dieses Schicksal. Wenn sie unentdeckt blieben oder ihre Ehemänner mit ihnen Schritt halten konnten, wurden sie niemals zu devianten Individuen gestempelt und lebten ein einigermaßen normales Leben. Als schließlich die Ansicht der Religion und Psychiatrie sich änderte, wurden selbst besonders orgasmische Frauen für absolut normal gehalten. Das Problem „exzessiver" weiblicher sexueller Begierde verschwand vollkommen, die Situation hatte sich zwischenzeitlich sogar fast umgekehrt. Nun wurden den anorgasmischen Frauen Schuldgefühle vermittelt. Nun sind sie es, die sich möglicherweise in psychiatrischer Behandlung wiederfinden, wo ihnen vielleicht sogar Nachhilfe in wirkungsvollerem Masturbieren gegeben wird. Wenn sie demgegenüber ein Leben in Enthaltsamkeit führen wollen oder ihre Männer lieber wollen, dass sie keinen Orgasmus haben, laufen sie wenig Gefahr, als deviant bezeichnet zu werden.


Noch lehrreicher ist das Beispiel homosexueller Männer. Wie wir bereits gesehen haben, gibt es Gesellschaften, die von Homosexualität wenig Aufhebens machen. Sie tolerieren homosexuelles Verhalten oder unterstützen es sogar. Bei ihnen gibt es jedoch keine „Homosexuellen". Unsere eigene Gesellschaft weist demgegenüber Homosexuellen eine besondere soziale Rolle zu, und Menschen werden mehr oder weniger willkürlich in dieses Rollenschema gepresst. Die Kinsey-Skala hat gezeigt, dass Heterosexualität und Homosexualität ineinander übergehen, sich nicht gegenseitig ausschließen und keine unveränderlichen Eigenschaften darstellen. Daher ist die Frage, ob eine bestimmte Person homosexuell ist oder nicht, nicht ein für alle Male zu beantworten, sondern sie entscheidet sich im jeweiligen sozialen Bezug. Ein Soldat, der bei einer einzelnen homosexuellen Handlung überrascht wird, wird unter Umständen dauerhaft in das homosexuelle Rollenschema gepresst, während ein junger Prostituierter von sich selbst und von anderen vielleicht als heterosexuell betrachtet wird. Da er seine homosexuellen Handlungen „nur des Geldes wegen" ausübt, „zählen" sie nicht wirklich. Wenn Probleme mit der Polizei ausbleiben, kann er schließlich heiraten und das Leben eines „normalen" Familienvaters führen.


Ist ein Mann jedoch erfolgreich zum Homosexuellen abgestempelt, hat er sich selbst als „anders herum", als „Tunte" oder als „Schwulen" begriffen und wird er als solcher von anderen bezeichnet, dann lernt er diese Rolle so spielen, wie es jeder von ihm erwartet. Diese Erwartungen sind natürlich in verschiedenen Gesellschaften und Situationen unterschiedlich. Manchmal ist die Rolle des Homosexuellen positiv definiert: man kann in ihm einen Schamanen oder heiligen Mann sehen (wie bei bestimmten Urvölkern), einen musterhaften Bürger (wie im alten Japan) oder einen gefühlvollen Schöngeist (wie manchmal in der westlichen Tradition). Zu anderen Zeiten ist diese Rolle ausschließlich negativ. Man kann ihn zum Ketzer erklären (wie im Europa des Mittelalters), zum Verbrecher (wie in der heutigen Sowjetunion) oder zum „Psychopathen" (wie noch in einigen Staaten der USA). Darüber hinaus muss man daran denken, dass selbst in ein und derselben Gesellschaft sich der positive oder negative Charakter der homosexuellen Rolle im Laufe der Zeit ändern kann. Das bedeutet, dass Menschen die Rolle selbst zwar annehmen, aber dennoch ihren Bedeutungsgehalt verändern können. So kann eine Gesellschaft zwar weiterhin der Auffassung sein, Homosexuelle seien „anders", aber dennoch das moralische Werturteil modifizieren. Das gilt auch für die Homosexuellen selbst. Sie können sich zum Beispiel in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung als ohnehin „verdorben" betrachten und soziale Normen für sich grundsätzlich nicht akzeptieren. Nach einiger Selbstprüfung können sie aber auch zu der Überzeugung kommen, dass „Schwulsein" schön ist, und sich dann wie selbstbewusste Bürger verhalten.


Ähnliches lässt sich in der homosexuellen Subkultur beobachten. Gesellschaften, die aus Homosexualität kein Problem machen, haben weder „Schwule" noch eine „schwule Subkultur". In unserer Gesellschaft sind beide vorhanden. Innerhalb der amerikanischen homosexuellen Subkultur gibt es sogar eine Reihe „Unter-Subkulturen", wie die der „Leder-Männer", der „Motorrad-Männer", der homosexuellen Transvestiten, der Strichjungen usw. jede dieser Gruppen hat ihre spezifischen sozialen und sexuellen Verhaltensweisen. Innerhalb der letzten Jahre haben sich dennoch in all diesen Gruppen bestimmte Veränderungen vollzogen. Früher hatten sie zum Teil den Anschein von Geheimbünden, sie waren misstrauisch und intolerant, sie forderten innerhalb der Gruppe vollständige Anpassung, Heute sind sie wesentlich lockerer und offener geworden. Darüber hinaus haben sie Unterstützung in einer neuen selbstbewussten und freien „Schwulen"-Subkultur gefunden, zum Beispiel in schwulen Emanzipationsgruppen, Studentenverbänden, Sportvereinen, kirchlichen Gemeinden, Parteiorganisationen und Berufsverbänden.


Im Ergebnis solcher Entwicklungen haben sich die Selbsteinschätzung der Homosexuellen und ihr Bild in der Öffentlichkeit erheblich verbessert. Die Menschen begreifen zunehmend, dass an der homosexuellen Rolle nichts in sich Besonderes oder Dauerhaftes ist. Abgesehen von ihrer sexuellen Orientierung haben Homosexuelle wahrscheinlich wenig untereinander gemeinsam, außer den Eigenschaften, die sie sich unter dem Druck der Gesellschaft im Laufe der Zeit angeeignet haben. So brechen in den Vereinigten Staaten die alten Mechanismen, die den Begriff des homosexuellen Abweichens erst schufen, nach und nach zusammen. Zumindest einige der offensichtlicheren traditionellen Strategien greifen heute nicht mehr. Man anerkennt heute zum Beispiel, dass die Erforschung von Ursachen für Homosexualität in der Psychiatrie niemals ein wertfreies wissenschaftliches Vorhaben war. Es war vielmehr der Versuch, die Kontrolle Homosexueller und die neuen Methoden, die dabei angewandt wurden, zu rechtfertigen. Tatsächlich glich daher ein Psychiater, der die Ursachen der Homosexualität erforschte, eher einem katholischen Inquisitor, der nach den Ursachen des Protestantismus suchte. Er war kein objektiver Beobachter, der versuchte, theoretische Einsichten zu gewinnen, sondern war Parteigänger einer etablierten Ordnung, der bemüht war, Verirrungen auszurotten. Entsprechend wurde im Laufe der Zeit klar, dass Homosexualität - wie der Protestantismus - nicht auf einzelne „Ursachen" zurückgeführt werden kann. Man kann solche Phänomene nicht auf einen einzelnen Sachverhalt zuspitzen, da Homosexuelle - oder Protestanten - in einer unermesslichen Vielfalt von Abstufungen, äußeren Erscheinungsbildern und Ausprägungen auftreten. Alles in allem ist es daher kaum möglich, religiöse und sexuelle Ketzereien für sich alleine zu untersuchen. Sie sind ein natürliches Produkt konservativer Einstellungen in religiösen oder sexuellen Dingen.


Bedeutet das, dass alle sexuellen Normen unerheblich sind und dass man sie alle aufgeben sollte? Besteht Abweichung nur in den Augen des Betrachters? Gibt es überhaupt keine sexuellen Richtlinien? Sollen wir aufhören, Menschen wegen sexueller Unmoral zu rügen, sie für sexuelle Verbrechen zu bestrafen oder ihre sexuellen Probleme zu behandeln? Selbstverständlich nicht! Wir haben das Recht und die Pflicht, all dies zu tun. Schließlich sehen oder hören wir fast täglich von schweren sexuellen Störungen, die zu Gewalt und Elend führen. Auf der anderen Seite verlangen die Opfer sexueller Gewalttaten Schutz; Menschen, die unter schweren sexuellen Hemmungen, Zwängen oder destruktiven Neigungen leiden, suchen Hilfe durch Fachleute. Weder die einen noch die anderen dürfen auf lange Sicht übersehen werden. Keine Gesellschaft kann ohne ein Mindestmaß sexueller Normen, vielleicht sogar sexueller Idealvorstellungen, existieren. Die Art und Weise, in der solche Normen durchgesetzt und solche Idealvorstellungen verfolgt werden, ist unmittelbar Ausdruck des moralischen Werts einer Gesellschaft.


Das bedeutet aber auch, dass jede Gesellschaft ihre sexuellen Wertvorstellungen immer wieder im Licht der Erfahrung überprüfen muss. Darüber hinaus sollte sie auch offen die Verantwortung für solche Normen übernehmen, statt sich hinter einer angeblich „natürlichen" Ordnung zu verstecken. Geschichtliche Studien und vergleichende Untersuchungen verschiedener Kulturen haben bewiesen, dass sexuelle Gewalt und sexuelles Elend oft unmittelbar aus unsinnigen, unreflektierten und unnötigen sozialen Vorschriften entspringen. Unsere westliche Zivilisation hält in dieser Beziehung leider einen traurigen Rekord. Die Geschichte der sexuellen Abweichung in Europa und Nordamerika weist eine Fülle erschreckender Beispiele von Heuchelei, Grausamkeit und Fanatismus auf, die uns allen als traurige Lektion dienen sollten.


In den folgenden Kapiteln werden die traditionellen westlichen religiösen, gesetzlichen und medizinischen Normen für das Sexualverhalten des Menschen genauer untersucht. Die sich daraus ergebenden Formen sexueller Abweichung und die unterschiedlichen Methoden des Umgangs mit ihnen werden ausführlich besprochen. Einzelne Aspekte werden darüber hinaus durch den Vergleich verschiedener Kulturen vertieft. Zum besseren Verständnis wurde der Text in drei parallel gegliederte Einzelabschnitte aufgeteilt.


 

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