Der menschliche Körper

I. Der menschliche Körper


Man kann den Körper des Menschen auf mancherlei Weise betrachten. Man kann ihn als die vornehmste Schöpfung Gottes bewundern, ihn als Kerker der Seele verachten, ihn als Tempel der Liebe verehren, ihn als Quelle der Versuchung fürchten, oder man kann ihn zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung machen. Eines ist dabei ganz sicher: Was immer wir in ihm sehen spiegelt unsere eigenen Einstellungen und Ansichten wider.


Moderne Gesellschaften zeigen meist eine eher negative Einstellung gegenüber dem menschlichen Körper, besonders gegenüber seinen sexuellen Funktionen. Dies zeigt sich beispielsweise auch an der großen moralischen Besorgnis um „unzüchtige" Kleidung, „schmutzige" Bücher und Filme, um die Sexualaufklärung in den Schulen. So ist die Meinung weit verbreitet, die Welt werde von einer Welle der Sexualität und Nacktheit überschwemmt, die die Grundfesten unserer Kultur bedrohe.


Man hat sich aber nicht zu allen Zeiten derartige Sorgen gemacht. Für die Griechen und Römer der Antike zum Beispiel war der nackte menschliche Körper ein ganz vertrauter Anblick. Sportler trainierten und kämpften nackt in den Gymnasien (von griech. gymnos: nackt). Die Teilnehmer der klassischen Olympischen Spiele (wie auch aller anderen Sportveranstaltungen) waren nackt. Öffentliche und private Gebäude waren mit Skulpturen und Gemälden nackter Männer und Frauen geschmückt. Der sexuelle Aspekt der Nacktheit wurde dabei nicht unterschlagen. Statuen bestimmter Gottheiten, des Hermes und Priapus zum Beispiel, zeigten einen erigierten Penis als Symbol der Stärke und Fruchtbarkeit. Künstlerische Darstellungen von Geschlechtsorganen wurden als Schmuck oder Talisman getragen. Bei den Darstellern der klassischen Komödien gehörte ein riesiger Phallus zum Kostüm. Kurzum, der menschliche Körper und die menschliche Sexualität fanden offen und fröhlich Beifall. Der Kontrast zu unserer heutigen Welt könnte kaum größer sein.


Viele Menschen vertreten heute die Meinung, das Christentum sei für diesen Wandel der Einstellung verantwortlich. Einige christliche Autoren geben dies gegenüber ihren weltlichen Kritikern sogar zu. Dennoch ist diese Ansicht eine unzulässige Vereinfachung. Viele vermeintlich christliche Einstellungen zum menschlichen Körper sind erst wenige hundert Jahre alt und wären dem Denken früherer Jahrhunderte ganz unverständlich gewesen. So etwa die scharfe Verurteilung von Masturbation oder die Vorstellung, Kinder seien „unschuldig" und sollten deshalb über Sexualität nichts wissen; bis in das 18. Jahrhundert war von solchen Sorgen eigentlich nie die Rede. Der berühmte Humanist Erasmus von Rotterdam schrieb noch im frühen 16. Jahrhundert einen sehr beliebten Text für Kinder, in dem es um die Themen wie Sexualität vor, in und außerhalb der Ehe ging, um Schwangerschaft, Geburt, Prostitution, Aphrodisiaka, Kastration und Geschlechtskrankheiten (Erasmus: Colloquia familiaria). Ein paar Jahrhunderte später hielt man dann diese Texte sogar für Erwachsene für zu gewagt.


Schamgefühl oder Entrüstung beim Anblick des nackten menschlichen Körpers, wie sie in unserem Kulturkreis so verbreitet sind, sind ebenfalls eine relativ neue Erscheinung. Noch im Europa des Mittelalters hielt man Nacktheit nicht für eine Frage der Moral. Die ganze Familie schlief nackt in einem Raum, oft in einem einzigen Bett. Es war selbstverständlich, dass Gäste beiderlei Geschlechts in Herbergen mit anderen, ihnen fremden Gästen das Bett teilten. Hätte sich ein Gast geweigert, oder seine Kleider nicht abgelegt, so wäre er in den Verdacht geraten, krank oder missgestaltet zu sein. Öffentliche Nacktheit war auch in Badehäusern üblich, einem beliebten Platz geselligen Beisammenseins für Männer und Frauen jeden Alters. An bestimmten Feiertagen konnte man hübsche Mädchen nackt in den Festumzügen sehen. Selbst Geistliche nahmen gelegentlich völlig nackt an religiösen Prozessionen teil.


Erst im 16. und 17. Jahrhundert, als die Syphilis epidemische Ausmaße annahm, und zu einer Zeit, da sich allmählich der Mittelstand bildete, begann man, Nacktheit als unanständig zu betrachten. Insgesamt veränderte sich die Einstellung gegenüber menschlicher Körperlichkeit sehr nachhaltig. Was bisher vertrauter Umgang war, wurde nun als ekelerregend und gesundheitsschädlich abgelehnt. Menschen aßen nicht mehr aus derselben Schüssel, tranken nicht mehr aus dem gemeinsamen Krug. Statt mit den Fingern, begann man nun, mit Messern und Gabeln zu essen. Wer es sich leisten konnte, trug jetzt zum Schlafen eine besondere Kleidung, ein Nachthemd. Die Privatsphäre gewann zunehmend an Bedeutung. Das Bett verschwand aus dem Wohnzimmer und wurde in einem abgetrennten Schlafzimmer versteckt. Die Badehäuser wurden geschlossen, in Flüssen und Seen durfte nur noch nach Geschlechtern getrennt gebadet werden, schließlich wurde öffentliches Nacktbaden insgesamt verboten. So verwandelte sich die positive Einstellung gegenüber dem Körper und seinen Funktionen nach und nach in Prüderie. Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war schließlich gegenüber allen körperlichen Funktionen so überempfindlich geworden, dass es bereits als anstößig galt, Worte auch nur zu erwähnen, die etwas mit Geschlecht, Fortpflanzung, Verdauung oder Schwitzen zu tun hatten. In einer höflichen Unterhaltung konnten jetzt selbst Worte wie „Schenkel" oder „Brust" nicht mehr benutzt werden. Der ganze menschliche Körper war tabu.


Im Gefolge der Eroberung der Welt durch die westliche Zivilisation wurde diese Prüderie oftmals gewaltsam Völkern aufgezwungen, die bis dahin in völliger oder teilweiser Nacktheit gelebt hatten und die daher mit Unwillen und Unverständnis reagierten. Noch heute versucht man in bestimmten Teilen Asiens und Afrikas, Menschen zu „zivilisieren", indem man sie in Kleider zu zwängen versucht, die ihnen völlig fremd sind. Dies wirkt besonders absurd, wenn man bedenkt, dass gleichzeitig die reichen und fortschrittlichen Länder des Westens beginnen, sich ihrer weniger prüden Vergangenheit zu besinnen. (Diese historischen Aspekte werden im Abschnitt III dieses Buches „Sexualität und Gesellschaft" ausführlicher diskutiert.)


Unsere moderne Kultur brachte zwar eine erhebliche sexuelle Unterdrückung mit sich, sie leistete aber auch einen wichtigen Beitrag zu einem besseren Leben: die wissenschaftliche Erforschung des menschlichen Körpers und seiner Funktionen.


Unsere Vorfahren im Altertum und Mittelalter verfügten nur über ein sehr begrenztes biologisches und medizinisches Wissen. Wurden sie einmal krank, waren sie weitgehend auf volkstümliche Heilmittel, überlieferten Aberglauben oder Zauberkräfte angewiesen. Magische und mystische Vorstellungen bestimmten auch ihre Sexualität und Fortpflanzung, So waren die meisten Menschen jener Zeit davon überzeugt, mit dem richtigen Liebestrank die Zuneigung eines noch so abgeneigten Partners gewinnen zu können. Man glaubte auch, bestimmte Erfahrungen einer schwangeren Frau würden ihr Kind zeichnen und Koitus während der Nacht führe zur Zeugung blinder Kinder. Man wusste nichts vom Blutkreislauf, von Hormonen, von männlichen und weiblichen Geschlechtszellen (Samenzelle und Ei) und anderen


Entdeckungen unserer Zeit. Nach Ansicht bedeutender damaliger Gelehrter produzierte nicht nur der Mann, sondern auch die Frau eine samenhaltige Flüssigkeit, und man nahm allgemein an, dass das Vermischen dieser beiden Flüssigkeiten im Mutterleib zur Zeugung führe. Man war weiterhin der Auffassung, der Fötus beginne erst im fünften Schwangerschaftsmonat zu leben, dann, wenn die Mutter die ersten Kindsbewegungen spürt.


Solche und andere Fehlannahmen wurden durch die moderne Wissenschaft richtiggestellt. Der Weg zum heutigen Wissensstand war jedoch lang und beschwerlich. Um bestimmte biologische Gesetze und Ursachen bestimmter Krankheiten zu erkennen, bedurfte es teilweise jahrhundertelanger geduldiger Beobachtungen. Gelegentlich führte die wissenschaftliche Forschung zu so unerwarteten Ergebnissen, dass sich die Menschen für lange Zeit weigerten, sie anzuerkennen. Bis auf den heutigen Tag stellt die Wissenschaft immer wieder unser traditionelles Denken, manchmal auch unsere Lebensweise in Frage.


Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist die Beobachtung menschlichen Sexualverhaltens im Labor. Die Entdeckungen, die dort gemacht wurden, widerlegten viele weit verbreitete Auffassungen. So wurde beispielsweise festgestellt, dass das sexuelle Leistungsvermögen von Frauen mindestens ebenso groß ist wie das von Männern, in bestimmter Hinsicht sogar größer. Solche Entdeckungen bleiben nicht ohne Folgen für die Beziehungen der Geschlechter untereinander. So kann hier wie auf anderen Ebenen wissenschaftliche Erkenntnis zu grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen führen.


Sicher sind solche Veränderungen manchmal notwendig, sie werden aber nicht immer positiv aufgenommen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Wissenschaft im Laufe der Geschichte immer wieder auf heftigen Widerstand gestoßen ist, Wissenschaftler wurden immer dann angegriffen und verlacht, wenn sie überkommenes Wissen in Frage stellten, oftmals wurden ihre Entdeckungen totgeschwiegen oder ignoriert. Häufig widersetzte sich die Gesellschaft nicht nur bestimmten Entdeckungen, sondern dem Ziel der Wissenschaft selbst. Das hat sich bis heute nur wenig geändert: Viele Menschen verspüren eine unwillkürliche Abwehr gegen die humorlose, rücksichtslose und schamlose Art und Weise, in der Wissenschaftler die letzten „Geheimnisse des Lebens" enträtseln wollen.


Man kann tatsächlich nicht leugnen, dass die wissenschaftliche Methode einen Anschein von Frevel haben kann. Im Bemühen um neues Wissen missachten Wissenschaftler nicht nur Gott, sie zeigen auch wenig Respekt vor geheiligten menschlichen Traditionen. Fragen der Moral, des Rechts oder des guten Geschmacks berühren sie kaum. Nichts ist ihrer Neugier heilig und sie betrachten alles mit derselben, unbeteiligten Objektivität.


Eine solche unbeteiligte Neutralität der Wissenschaft erfordert eine besondere Disziplin des Gefühls und des Verstandes, eine Geistesverfassung, die man als typisch „modern" bezeichnen kann. In der griechisch-römischen Antike und im Mittelalter verstanden sich die Menschen als festen Bestandteil der Welt, von der sie sich nicht distanzieren wollten oder konnten, Es war ihnen fremd, ihre Gefühle oder moralischen Bedenken auszuschalten, sie reagierten auf alles mit ihrer ungeteilten Persönlichkeit, Sie sahen sich selbst nicht nur als Mittelpunkt des Universums, wo sich Sonne, Mond und Sterne um sie drehten, sondern dieses Universum hatte für sie auch einen ganz persönlichen Bezug, war auf geheimnisvolle Weise mit ihrem eigenen Schicksal verknüpft. Alles geschah nach dem Willen der Götter oder Gottes, um Menschen zu belohnen oder zu bestrafen. Gesundheit wurde so als Lohn für Rechtschaffenheit angesehen; Tod und Krankheit waren die Vergeltung für Sünde. Zwischen kausalen und normativen Gesetzen wurde nicht unterschieden. Das Naturgesetz war göttlicher Wille. Erklärung und Rechtfertigung waren ein und dasselbe.

Die moderne Wissenschaft begann in dem Augenblick, als man zum erstenmal zwischen Erklärung und Rechtfertigung unterschied, So lange Gesundheit und Krankheit, Sonne und Regen, gute und schlechte Ernten als Belohnung oder Strafe für menschliches Verhalten interpretiert wurden, erschienen auch tatsächliche Ursache und moralische Folge als Einheit. Wissenschaft konnte erst entstehen, als der Mensch begann, übernatürliche Einflüsse und ihre Bedeutung in Frage zu stellen und schließlich zu ignorieren. Erst dann konnte die Natur „an sich" studiert werden, ohne Bezug auf göttlichen oder menschlichen Willen.


Wissenschaftler betrachten den menschlichen Körper „objektiv", das heißt, sie untersuchen ihn als ein Objekt, das man beobachten, wiegen und messen kann. Hierbei interessiert sie nicht, ob er schön ist oder sündig, nicht einmal, ob er gesund ist. Einziges Ziel ist, seine Funktionen zu erkennen, nicht, sie als gut oder schlecht zu werten. Ein Wissenschaftler stellt lediglich fest, was ist, nicht was sein soll. Der Wissenschaftler beschreibt, aber er schreibt nicht vor. Wenn er also feststellt, dass ein Körper krank ist, kann er die Symptome der Krankheit registrieren und nach den Ursachen forschen, als Wissenschaftler wird er jedoch nicht den Versuch unternehmen zu heilen. Jeder Heilungsversuch ist wesentlich eine moralische Entscheidung. Sie wird von Menschen gefällt, die sich wissenschaftlicher Erkenntnisse bedienen, um anderen zu helfen. Natürlich wird heute die Rolle des Wissenschaftlers und die des Heilenden oft von ein und derselben Person übernommen, zum Beispiel von einem Arzt. Ein guter Arzt weiß jedoch, dass er in Wirklichkeit zwei verschiedene Funktionen erfüllt und dass er sie manchmal trennen muss. So mag er als Wissenschaftler wissen, dass starkes Rauchen bei einem bestimmten Patienten zum Tode führen kann. Als Heilender wird er deshalb dem Patienten vorschlagen, das Rauchen aufzugeben. Das wäre eine moralische (keine wissenschaftliche) Entscheidung, die auf der Annahme beruht, dass der Wert des Lebens höher anzusetzen sei als der des Rauchgenusses. Wenn diese Wertung nun aber von dem Patienten nicht geteilt wird - er also lieber sterben will, als das Rauchen aufzugeben -, hätte der Arzt sich auf seine Rolle als Wissenschaftler zu beschränken, der die Auswirkungen des Rauchens auf einen sterbenden Menschen beobachtet. (Ein Beispiel ist der Fall Sigmund Freuds. Als Wissenschaftler wusste er, dass sein Rauchen ihn töten würde. Als Heilender hätte er nach dieser Einsicht handeln und seine Zigarren aufgeben können. Als Patient weigerte er sich, dies zu tun, und starb an Mundhöhlenkrebs.)


Nicht-Wissenschaftlern fällt es oft schwer, den Standpunkt von Wissenschaftlern zu verstehen. Ganz besonders in den frühen Anfängen moderner Wissenschaft wurde die moralische Neutralität der Wissenschaftler von manchem als Gleichgültigkeit, ja als Verantwortungslosigkeit missverstanden. Als im 16. und 17. Jahrhundert Anatomen damit begannen, menschliche Körper zu sezieren, um so zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen, waren ihre Zeitgenossen entsetzt. Sie wären niemals auf die Idee gekommen, ihren Körper der Wissenschaft zu übereignen, im Gegenteil: Diese Art der Forschung wurde oft kurzerhand verboten. Daher mussten viele Anatomen ihre Arbeit geheimhalten. Sie waren gezwungen, kriminelle Leichenräuber zu bezahlen, die ihnen die Körper vom Friedhof oder direkt vom Galgen weg stahlen. (Noch in jüngster Vergangenheit begannen manche Sexualforscher ihre Arbeit im geheimen und mussten Prostituierte dafür bezahlen, ihnen als Studienobjekte zu dienen.)


Dennoch haben die Menschen im Laufe der Jahrhunderte begriffen, dass die objektive Untersuchung des Körpers und seiner Funktionen für sie von großem Nutzen sein kann. Wenngleich das Wesen der Wissenschaft in moralischer Neutralität liegt, kann wissenschaftliche Erkenntnis doch zu moralischen Zwecken genutzt werden. Die Heilung und Vorbeugung von Krankhei-


ten ist eines der überzeugendsten Beispiele. Ebenso notwendig ist die Befreiung des Menschen von unnötigen Ängsten und kleinlichen Vorurteilen, die ihn daran hindern, sich frei zu entfalten. Dank der Wissenschaft wurden in dieser Richtung schon beachtliche Fortschritte gemacht, und jede neue Entdeckung verschafft dem Menschen mehr Einfluss auf sein eigenes Schicksal.


In jüngerer Zeit waren die Fortschritte in der Sexualforschung besonders eindrucksvoll. Fast täglich werden von Wissenschaftlern neue Erkenntnisse über die Sexualfunktionen und Zeugungsfunktionen des Menschen erarbeitet. Beide waren in der Vergangenheit sehr eng verbunden, und man konnte sie nur wenig beeinflussen. Geschlechtsverkehr führte zur Zeugung, und ohne Geschlechtsverkehr war keine Zeugung möglich. Ohne Enthaltsamkeit zu üben, waren Partner nicht in der Lage, die Zahl ihrer Kinder zu beschränken; viele Frauen starben, erschöpft von zu vielen Geburten. Kinderlose Paare mussten andererseits ihre Unfruchtbarkeit als Willen der „Natur" hinnehmen. - Heute ist die Fortpflanzung eine Frage bewusster Entscheidung geworden. Wissenschaftliche Einsicht in den Prozess der Fortpflanzung machte die Entwicklung wirksamer Empfängnisverhütung möglich, ungewollte Schwangerschaften können heute leicht verhindert werden. Weiterhin können Fälle von Unfruchtbarkeit, die früher als hoffnungslos galten, erfolgreich durch künstliche Befruchtung - also ohne unmittelbaren sexuellen Kontakt - behandelt werden. Erstmals in der Geschichte der Menschheit können so die Sexualfunktionen und die Fortpflanzungsfunktionen des Menschen ganz voneinander getrennt werden.


Diese moderne Entwicklung hat auch tiefgreifende gesellschaftliche Folgen: Sie unterstützt die wachsende Forderung nach sexueller Gleichberechtigung. Es war früher üblich, die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern als Rechtfertigung dafür heranzuziehen, dass man Männer und Frauen in unterschiedliche soziale Rollen zwängte. So meinten die Männer, die „Natur" selbst bestimme die Frauen zur Mutterrolle und mache sie somit für alle anderen Aufgaben untauglich. (Aus unerfindlichen Gründen kam allerdings niemand auf die Idee, Vaterschaft könne die gleiche beschränkende Wirkung haben.) Diese Vorstellungen sind heute, da sich Frauen freiwillig für oder gegen eine Mutterschaft entscheiden können, nicht mehr aufrechtzuhalten. Die Vorstellung von der „natürlichen" Unterlegenheit der Frauen erweist sich heute als Ideologie von Männern, die eine Rechtfertigung für ihre privilegierte Stellung suchen.


Die Wissenschaft wird sicherlich auch noch viele andere Vorstellungen, die heute unbestritten sind, in der Zukunft widerlegen. Gerade wenn es um Sexualität geht, sind wir nicht immer so unvoreingenommen und objektiv, wie wir glauben. Unsere Wahrnehmungen werden oft von unbewussten Vorurteilen und unbefragten Moralvorstellungen getrübt, und wir laufen dadurch Gefahr, Wertungen mit Tatsachen zu verwechseln. Kurz gesagt, wir sind nach wie vor versucht, unsere eigenen Konventionen da mit der „Natur" zu verwechseln, wo unsere eigenen Interessen und Bedürfnisse im Spiel sind. Die Geschichte der modernen Wissenschaft zeigt jedoch, dass unser eigenes Interesse auf lange Sicht durch strenge Objektivität am besten gewahrt bleibt. Wissenschaft begann, als der Mensch anfing, die göttliche und menschliche Dimension der Dinge außer acht zu lassen, die er untersuchte. Gerade dies führte erst zu einem tiefgreifenderen Verständnis. Nur wenn wir bereit sind, über unsere engen persönlichen Interessen hinwegzudenken, dürfen wir hoffen die Wahrheit über uns selbst zu finden. Erst dann werden wir wirklich frei


sein.


Im Zeitalter der Massenkommunikationsmittel haben heute mehr Menschen als je zuvor die Möglichkeit, neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Funktionen des menschlichen Körpers zu erfahren. Die meisten Menschen verstehen heute mehr von Anatomie und Physiologie als je ein Arzt im Altertum oder im Mittelalter, Aber trotz all dieses theoretischen Wissens sind viele mit sich selbst unzufrieden. Im Gegensatz zu ihren Vorfahren fühlen sie sich ihrem eigenen Körper entfremdet. Wie es scheint, hat eben dieselbe historische Entwicklung, die dem Menschen eine wissenschaftlich-distanzierte Erforschung seiner selbst erlaubte, ihm auch seine frühere Vertrautheit sich selbst gegenüber genommen.


In unserer von der Technik beherrschten Gesellschaft wird uns allen ein Höchstmaß an Disziplin auferlegt. Es wird uns nicht gestattet, Gefühle zu zeigen, spontanen Wünschen zu folgen oder unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Im Gegenteil: im Interesse unserer Arbeit sind wir gezwungen, Arbeit und Freizeit festen Zeitplänen zu unterwerfen, immer guter Laune zu sein, jedes Anzeichen von Spontaneität zu unterdrücken und uns ständig im Zaum zu halten. So sind wir gezwungen, uns zu wohlfunktionierenden Arbeitsgeräten zu machen. Das hat dazu geführt, dass wir unseren Körper nun oft als Maschine zu betrachten gewohnt wurden, und das ständig zunehmende Wissen um seine Funktionen nutzen wir nur dazu, ihn als Maschine noch „effizienter" zu machen.


Diese Einstellung wird von vielen Menschen auch auf ihre sexuellen Beziehungen übertragen. Das wird besonders deutlich an der Überbetonung von Jugend und körperlicher Vitalität. So versuchen viele jede neue Diät, experimentieren mit Medikamenten und Drogen, erproben jeden neuen Apparat und jede „neue" sexuelle Technik, die eine Steigerung der erotischen Leistungsfähigkeit versprechen. Es gibt heute zahllose „technisch" orientierte sexuelle Ratgeber und Ehehandbücher, die versprechen, den Leser zu einem Virtuosen der Liebe zu machen.


Die Nützlichkeit solcher Bücher soll nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung kann eine offene Beschreibung der menschlichen Sexualfunktionen und der möglichen Variationen beim Geschlechtsverkehr Männer und Frauen von unnötigen Hemmungen befreien. Bedauerlicherweise kann so jedoch auch der Eindruck entstehen, sexuelles Glück setze besondere Erfahrung und athletisches Können voraus; wenn es dem Leser dann an Talent oder Übung zu fehlen scheint, kann er sich leicht überfordert fühlen. Tatsächlich stellen auch viele Menschen, die alle erotischen Tricks meistern, schließlich fest, dass die bloße Sexualtechnik nicht zur Erfüllung führt. Sie entdecken, dass sie nur zu seelischen Krüppeln werden, wenn sie ihren Körper ständig um größerer Leistungen willen zu kontrollieren oder manipulieren suchen. Es führt dies zu einer Versachlichung menschlicher Beziehungen, die schließlich die Unfähigkeit zu wirklicher Befriedigung zur Folge hat.


Aus diesem Grunde lehnen in jüngerer Zeit immer mehr (insbesondere jüngere) Menschen es ab, Geschlechtsverkehr als bloßen mechanisch-technischen Kraftakt anzusehen, und sie entwickeln eine weniger leistungsorientierte Einstellung gegenüber ihrem Körper. Sie beginnen zu verstehen, dass die moderne Welt der Disziplin und des Wettbewerbs ihre Wahrnehmungen verzerrt hat, und sie versuchen, die Sensibilität vergangener Zeiten durch bewusstes Üben („sensitivity training") wieder zu erlangen. Auf diese Weise kommen sie - im Wortsinn - wieder mit sich selbst in Berührung und erreichen es so, ihren eigenen Körper zu akzeptieren und zu schätzen, ohne ihn auszubeuten. Die meisten jungen Männer und Frauen können heute wieder einen nackten menschlichen Körper anschauen, ohne verlegen zu werden. Vielen ist Nacktheit wieder ein vertrauter Anblick, dem sie keine besondere Bedeutung zumessen. Unglücklicherweise besteht jedoch nach wie vor ein weit verbreitetes Unwissen über die Körperfunktionen, vor allem über die Sexualfunktionen des Menschen. Nicht nur ältere, sondern auch jüngere Menschen sind oft bedenklich falsch informiert über die physiologischen Vor-


gänge, die ihrem Verhalten zugrunde liegen. Daher erscheint es gerechtfertigt und notwendig, die prinzipiell vorhandene erfreuliche Offenheit gegenüber der Sexualität zu nutzen, um einen ungehinderten, wenn auch manchmal noch oberflächlichen Einblick zu vermitteln.


Die folgenden Ausführungen bieten zunächst einige grundlegende Informationen über den menschlichen Körper und seine Sexualfunktionen, das heißt die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane, die sexuelle Reaktion des Menschen, die Fortpflanzung, die Empfängnisverhütung und den Schwangerschaftsabbruch. Es folgt eine kurze Darstellung bestimmter körperlicher Störungen, die die normalen Sexualfunktionen beeinträchtigen können. Psychologische Aspekte des menschlichen Sexualverhaltens werden im zweiten Teil des Buches („Das menschliche Sexualverhalten") behandelt. Im dritten Teil des Buches wird ausführlich auf die gesellschaftliche Dimension von Sexualität eingegangen.


 

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