Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort zur deutschen Ausgabe


In diesem Buch sind die Erkenntnisse der heutigen Sexualwissenschaft knapp, kritisch und allgemeinverständlich zusammengefasst. Es wendet sich nicht nur an Fachleute, sondern auch an ein breiteres Publikum, an jeden Leser, der sich ernsthaft für die Probleme menschlicher Sexualität interessiert und der ihre geschichtliche und gesellschaftliche Dimension besser verstehen will.


Als deutscher Autor, der seit Jahren in den Vereinigten Staaten lebt, freue ich mich besonders, dass mein zunächst in englischer Sprache geschriebenes Lehrbuch nun in dieser deutschen Ausgabe erscheint, denn man kann die heute weltweit und schnell wachsende Sexualwissenschaft mit gutem Recht als eine ursprünglich deutsche Wissenschaft bezeichnen. Ihre Wurzeln lassen sich eindeutig nach Deutschland und in die ehemalige Hauptstadt Berlin zurückverfolgen.


Der Begriff der „Sexualwissenschaft" selbst wurde im Jahre 1906 von dem Berliner Hautarzt Iwan Bloch geprägt. Nur zwei Jahre später, im Jahre 1908, erschien dann - im gleichen Verlag wie das hier vorliegende Buch - die erste Zeitschrift für Sexualwissenschaft in Berlin, herausgegeben von Magnus Hirschfeld, Hermann Rohleder und Friedrich S. Krauss. (Die erste Nummer dieser Zeitschrift enthielt unter anderem einen Artikel des damals noch recht umstrittenen Sigmund Freud.) Im Jahre 1913 erfolgte bereits die Gründung der ersten Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik durch Bloch, Hirschfeld, Albert Eulenburg, Karl Abraham und andere. Magnus Hirschfeld gründete im Jahre 1919 das erste Institut für Sexualwissenschaft in Berlin und organisierte dort im Jahre 1921 den ersten internationalen Kongress für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage. Ein weiterer internationaler Kongress für Sexualforschung wurde 1926 in Berlin von Albert Moll organisiert, dessen eigene Internationale Gesellschaft für Sexualforschung als die Zweitälteste ihrer Art ebenfalls vor dem Ersten Weltkrieg entstanden war.


Alle wesentlichen Impulse für die Begründung und frühe Entwicklung der Sexualwissenschaft kamen also aus Berlin. Das gilt auch für die ersten Standardwerke der neuen Wissenschaft. Das von Iwan Bloch herausgegebene „Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen" (3 Bände, 1912-1925) blieb wegen seines frühen Todes'tinvollendet, aber Albert Molls „Handbuch der Sexualwissenschaften" (2 Bände, 1911 und 1926), Max Marcuses „Handwörterbuch der Sexualwissenschaft" (1923 und 1926) und besonders Magnus Hirschfelds „Geschlechtskunde" (5 Bände, 1926-1930) fassten zum ersten Male das sexuelle Wissen ihrer Zeit für jedermann leicht begreifbar zusammen. Gleichzeitig erfüllten sie dabei aber auch höchste wissenschaftliche Ansprüche und hätten so zweifellos nicht nur volksaufklärerisch, sondern auch akademisch weitergewirkt, wenn sie nicht, wie die Sexualwissenschaft selbst, der nationalsozialistischen Herrschaft zum Opfer gefallen wären,


Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs spielen bekanntlich die Vereinigten Staaten in der Sexualwissenschaft die führende Rolle. Besonders die Arbeiten von Alfred C. Kinsey, William Masters und Virginia Johnson haben der Forschung neue Wege gewiesen, die auch in Deutschland bald aufgegriffen wurden. Heute gibt es erfreulicherweise wieder mehrere deutsche wissenschaftliche Gesellschaften, die sich vornehmlich mit Fragen der Sexualität befassen, einige deutsche Universitäten haben nun sexualwissenschaftliche Abteilungen oder zumindest Forschungs- und Beratungsstellen. Die einschlägigen deutschen Leistungen finden nun auch zunehmend wieder internationale Anerkennung, und so ist, nach jahrzehntelanger Verspätung, der wissenschaftliche Anschluss wieder hergestellt.


Leider haben mehrere Umstände bisher die Publikation eines wissenschaftlich soliden und doch leicht lesbaren deutschen sexualwissenschaftlichen Handbuchs verhindert. Vor der Machtergreifung Hitlers gab es eine Anzahl solcher Werke, die, jedes auf seine Weise, diesem doppelten Anspruch genügten. Das vorliegende Buch maßt sich nicht an, eine zeitgemäße Entsprechung dieser großen Vorbilder zu sein. Seine Ziele sind zunächst viel bescheidener. Es will aber einen Anfang machen und, in einem einzigen Band, wenigstens die hauptsächlichen wissenschaftlichen Ergebnisse so klar und systematisch wie möglich referieren. Es versucht nicht, eigene Forschungen vorzulegen oder in alle möglichen Details zu gehen. Statt dessen liegt die Betonung auf Übersichtlichkeit und guter Lesbarkeit. In dieser Hinsicht stellt der Text allerdings eine gewisse Neuheit dar. Er setzt kein Spezialwissen voraus, sondern erklärt das Thema der Reihe nach und sozusagen „von Grund auf". Alle Fachausdrücke sind bei der ersten Erwähnung erläutert, alle methodischen Ansätze unauffällig, aber genau beschrieben. Andererseits ist gewissen traditionellen Fragestellungen nicht mehr der gewohnte Raum gewidmet, die sonst die Behandlung sexueller Fragestellungen komplizieren.


Das mag einige Leser zunächst befremden, die nur mit der heutigen deutschen Fachliteratur vertraut sind. Diese ist zum Beispiel noch sehr weitgehend von der Psychoanalyse geprägt, die aber in der internationalen Sexualwissenschaft kaum noch eine Rolle spielt. Das heißt natürlich nicht, dass psychoanalytische Methoden veraltet sind oder dass der wissenschaftliche Beitrag Sigmund Freuds unwichtig geworden ist. Es bedeutet aber, dass man ihm bei der Beschreibung der menschlichen Sexualität nicht mehr unbedingt die Schlüsselstellung einräumen muss. Das Buch reflektiert diesen neueren Konsens. Man kann im übrigen auch vermuten, dass die deutsche Sexualwissenschaft sich schon früher selbst von dem theoretischen Ansatz Freuds entfernt hätte, wäre ihr eine eigene organische Entwicklung gestattet gewesen. Albert Moll lehnte die Psychoanalyse ausdrücklich ab, war aber dennoch einer der bedeutendsten Sexualforscher seiner Zeit, der auch international weit in die Zukunft hätte weiterwirken können. Bloch und Hirschfeld erwiesen Freud und seinen Theorien stets respektvolles Interesse, zeigten aber in ihren Werken immer wieder, dass sie lieber eigene Wege gingen. Nur Max Marcuse war psychoanalytisch orientiert, hatte aber keine Schüler. Freud selbst stand der Sexualwissenschaft, nach anfänglicher Anteilnahme, recht reserviert gegenüber. Er nahm an keinem ihrer Kongresse teil und trug auch nur selten etwas zu ihren Standardpublikationen bei (Hirschfelds frühe „Zeitschrift für Sexualwissenschaft" und Marcuses späteres „Handbuch der Sexualwissenschaft" sind hier wichtige Ausnahmen). Sein für die Sexualwissenschaft bedeutendster Schüler, Wilhelm Reich, schließlich brach so vollständig mit der psychoanalytischen Orthodoxie, dass man ihn als ganz eigene Größe betrachten muss. Wie all dem aber sei, die deutsche Sexualwissenschaft, wie sie vor Hitler bestand und blühte, wurde brutal und radikal zerstört. Ihre Weiterentwicklung wurde verhindert, und ihre Leistungen sind heute selbst unter Fachleuten leider vergessen. Ihre Geschichte ist immer noch ungeschrieben, ein Umstand, der um so trauriger wirkt, wenn man die Flut der neueren deutschen psychoanalytischen Literatur betrachtet. Hier ist ein gehöriges Stück wissenschaftlicher Wiedergutmachung zu leisten.


Der vorliegende Text stützt sich hauptsächlich auf die amerikanische empirische Forschung, wie sie von Kinsey, Masters und Johnson, John Money


und anderen betrieben worden ist. Diese ist natürlich an sich in Deutschland bekannt, hat aber bisher noch keine umfassende, einheitliche Darstellung erfahren. Darüber hinaus habe ich versucht, wenigstens ein Minimum neuerer anthropologischer, soziologischer, kriminologischer und kulturhistorischer Erkenntnisse mit zu berücksichtigen. All das gehört zum Verständnis der menschlichen Sexualität, ist also notwendiger Bestandteil der Sexualwissenschaft. Diese Wissenschaft braucht aber auch, wie jede andere, ein gewisses Maß ständiger kritischer Selbstbesinnung, wenn sie sich weiter gesund entfalten will. Aus diesem Grunde bietet mein Text am passenden Ort auch einige ideologiekritische Beobachtungen.


Was den rein technischen Aufbau des Buches betrifft, so habe ich mich hauptsächlich von didaktischen Gesichtspunkten leiten lassen. Zum Beispiel geht die Diskussion des männlichen Geschlechts immer der des weiblichen voraus. Strikt biologisch betrachtet, wäre es wohl sinnvoller, das weibliche Geschlecht als das „primäre" an den Anfang zu stellen, aber wenn es um praktische Probleme geht wie Empfängnisverhütung, Unfruchtbarkeit und sexuelle Störungen, ist es vielleicht lehrreicher, gegen heutige Denkgewohnheiten anzugehen und mit der männlichen Seite zu beginnen. Didaktischen Zielen dient auch die mehrfache Wiederholung der gleichen Grundtatsachen an verschiedenen Stellen des Buches. Das gilt auch für die Gleichbehandlung einiger Themen, für häufige Parallelformulierungen und Textentsprechungen (zum Beispiel bei der Behandlung der männlichen und weiblichen Anatomie und des heterosexuellen und homosexuellen Geschlechtsverkehrs). Diese bewusste Systematik kann nicht nur als Gedächtnisstütze dienen, sondern auch in sich selbst aufklärend wirken. Auf jeden Fall soll sie die Auseinandersetzung mit dem Buch erleichtern. Für diesen Zweck liest man es am besten „der Reihe nach" von Anfang bis Ende durch. Es soll aber auch für den flüchtigen oder gelegentlichen Leser brauchbar bleiben. Deshalb enthält es zahlreiche Querverweise, und selbst die kürzesten Abschnitte sind in einen leicht überschaubaren Kontext eingefügt, der wieder auf größere Zusammenhänge verweist.


Schließlich noch ein Wort zu den Abbildungen: Werke mit wissenschaftlichem Anspruch haben bisher kaum Fotographien von Menschen bei sexuellen Handlungen gezeigt, da die Autoren nicht zu Unrecht befürchteten, in die Nähe von „Pornographie" zu geraten und somit„unseriös" zu wirken. Wenn ich mich entschlossen habe, solche Bedenken hier zu überwinden, so vor allem aus der Überlegung heraus, dass es an der Zeit ist, die menschliche Sexualität auch visuell wie jeden anderen wissenschaftlichen Gegenstand zu behandeln. Klare und unbefangene Illustrationen erscheinen daher überall dort, wo sie dazu beitragen können, den Text besser zu verstehen. Dabei gehe ich von der Voraussetzung aus, dass in sexuellen Dingen ein rein zerebrales Verständnis nicht ausreicht. Wirkliche Aufklärung muss auch tiefere seelische Schichten zu erreichen suchen. Deutliche Bilder mögen manchen Leser und Betrachter zu einer befreienden Selbstprüfung führen. Vielleicht ist die Konfrontation mit der eigenen sexuellen Haltung für viele sogar der größte Gewinn, den sie aus diesem Buch ziehen. Unbedingte Zustimmung ist dabei nicht mein Ziel, Wenn es mir aber hier und da gelingen sollte, durch sachliche Informationen ein wenig Klarheit zu schaffen, so wäre der wichtigste Zweck des Buches erreicht.


In diesem Sinne fühle ich mich den deutschen Pionieren der Sexualwissenschaft besonders verpflichtet. Dieses Jahr beschert uns ein doppeltes Jubiläum, das an ihre Leistung erinnert; Vor 75 Jahren wurde die erste Zeitschrift für Sexualwissenschaft publiziert, vor 70 Jahren die erste Gesellschaft für Sexualwissenschaft gegründet. (Außerdem sind es gerade 50 Jahre seit der Zerstörung des ersten Instituts für Sexualwissenschaft durch die Nationalsozialisten.)


Seither hat sich, trotz aller Rückschläge, aus den deutschen Anfängen eine bemerkenswerte internationale Bewegung entwickelt. Ebenfalls in diesem Jahr findet in Washington D. C. der 6. Weltkongress der Sexualwissenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg statt. Dieser Kongreß beweist erneut ein unvermindertes Forscherinteresse an der Sexualität des Menschen und gibt uns die Hoffnung, dass wir sie eines Tages alle sehr viel besser verstehen werden als heute.


San Francisco, im Frühjahr 1983 Erwin J. Haeberle


 
 

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