Das menschliche Sexualverhalten

II. Das menschliche Sexualverhalten


Der Begriff „menschliches Sexualverhalten" ist heute so verbreitet, dass man sich kaum noch vorstellen kann, dass er erst in neuerer Zeit entstanden ist. Schließlich hat es schon immer zwei menschliche Geschlechter gegeben, die sich zueinander hingezogen fühlten. Menschen haben immer intimen körperlichen Umgang miteinander gehabt und so neues Leben gezeugt. Man kann auch annehmen, dass sie dies immer sehr bewusst taten, und so scheint es, als sei das „menschliche Sexualverhalten" eine einfache und allgemeingültige Bezeichnung für einen Vorgang, der so alt ist wie die Menschheit selbst.


Wenn wir feststellen, dass Menschen immer schon bestimmte Dinge getan haben, so dürfen wir daraus nicht unbedingt schließen, dass sie diese Dinge auch immer gleich interpretierten. Wie jeder Historiker und Anthropologe weiß, unterliegt die Wahrnehmung auch der einfachsten Vorgänge erheblichen historischen und regionalen Einflüssen. Die Linguisten wissen, dass auch scheinbar einfache Wörter in anderen Sprachen oft keine genaue Entsprechung finden und dass sie im Verlauf der Jahre ihre Bedeutung erheblich ändern können.


Dies gilt ganz besonders für das Wort ,,Sex" und alle Wörter, die davon abgeleitet sind. Natürlich kannten die Menschen im Altertum und im Mittelalter Dutzende oder sogar Hunderte von Wörtern für die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane und für den Akt der Kopulation. Sie sprachen davon, „fruchtbar" zu sein und ihr „eigen Fleisch und Blut" zu zeugen. Sie wussten, was es bedeutete, einen Menschen zu küssen, zu umarmen oder zu liebkosen. Sie kannten sinnliche Freude, körperliche Reize und Erregung. Sie sprachen ganz offen von Liebe, Begehren, Hingabe, Zärtlichkeit, Leidenschaft, Minne, Amor, Eros, Cupido und Venus. Manche zeigten sich gerne nackt oder bewunderten die Nacktheit anderer. Manche.versuchten, ihre „Sinneslust" zu zügeln und sprachen mit Abscheu von Lüsternheit, Geilheit, Unzucht, Wollust oder Versuchungen des Teufels. Sie warnten davor, „unrein" zu werden, sich zu „beflecken" oder den „Samen zu vergeuden". Manche priesen Keuschheit, Sittsamkeit, Enthaltsamkeit, Unschuld und Jungfräulichkeit, und sie verdammten Fleischeslust, Schande, Versündigung gegen Gott und Verbrechen wider die Natur. Bei näherer Betrachtung können wir jedoch feststellen, dass unsere Vorfahren all dies noch nicht zu einem einheitlichen Begriff des „Sexualverhaltens" zusammenfassten. Sie interpretierten diese ganz unterschiedlichen menschlichen Erfahrungen, Handlungen und Einstellungen noch nicht als miteinander in Beziehung stehende Ausdrucksformen einer und derselben Sache.


Auch gab es in der Vorstellung unserer Ahnen im weiten Spektrum menschlicher Gefühle noch keinen isoliert zu betrachtenden „Sexualtrieb". Dies hätte auch ihrer (vorwissenschaftlichen) Einstellung widersprochen, in der das menschliche Leben noch nicht in Systeme und Kategorien aufgeteilt war. Die Körperfunktionen wurden nicht als getrennte Einheiten interpretiert, es gab noch keine genauen Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten körperlicher Bedürfnisse. Sinnliche Impulse wurden wie andere, vorübergehende Gefühle gesehen, die plötzlich auftauchten und von selbst wieder verschwanden. Das gelegentliche Verlangen, sich zu berühren und zu umarmen, mit jemandem zu schlafen, wurde nicht als Ausdruck eines unabhängigen Triebes aufgefasst, sondern eher als integraler Bestandteil der menschlichen Existenz. Männer und Frauen hatten den gleichen Erfahrungshintergrund, lebten in einer Welt und waren Glieder der großen „Kette des Seins", bescheidene Elemente eines ewigen Planes. Ein großes göttliches Gesetz regierte die Sterne, die Jahreszeiten, tote Materie und lebendige Wesen. Alle Dinge standen zueinander in Beziehung. Alle Neigungen und Vorgänge waren Bestandteil eines zusammenhängenden Ganzen; es bestand daher wenig Veranlassung, ihnen eine jeweils gesonderte Bedeutung zuzuschreiben. So lässt sich wohl erklären, warum der Begriff „Sexualverhalten" in den europäischen Sprachen erst in jüngerer Zeit zu finden ist. Er ist nirgendwo in der Bibel erwähnt und fehlt in der klassischen westlichen Literatur von Homer bis Dante, Shakespeare, Voltaire und Goethe. Selbst das Wort „sexuell", das nun schon einige hundert Jahre alt ist, erhielt erst im Laufe der Zeit seine heutigen unterschiedlichen Bedeutungen. Am Anfang war es nichts weiter als die enge, technische Bezeichnung dafür, ob jemand männlich oder weiblich war.


Das Eigenschaftswort „sexuell" konnte natürlich nicht vor den Hauptwörtern „Sexus" und „Sex" entstehen. In der englischen Sprache wurde dies letztere Wort erstmals in einer Übersetzung der lateinischen Bibel aus dem Jahre 1382 verwendet. In dieser berühmten Übersetzung, die von dem Reformator John Wiclif veranlasst worden war, befiehlt Gott Noah, zwei Vertreter jeder Tierart in die Arche aufzunehmen: „The maal sex and femaal" (1. Mose 6,19). Hier bedeutete das Wort „Sex" lediglich Geschlecht, Sorte, Art, Typ oder Rasse. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein wurde das Wort so auch häufig im gleichen Sinne wie das Wort „Sekte" verwendet, das sich auf eine Gruppe Gleichgesinnter, eine Glaubensgemeinschaft, eine Partei, eine Kaste oder eine Schule beziehen konnte. Bis ins 19. Jahrhundert wurde das Wort „Sex" im Englischen auch als Synonym für „Frau" verwendet, und es gibt daneben das englische Zeitwort „to sex", das heißt: „jemanden oder etwas als männlich oder weiblich bestimmen".


So hatte auch das Adjektiv „sexuell" zunächst nur eine sehr begrenzte Bedeutung und beinhaltete nichts weiter als eine Kategorisierung. Erst im 18. Jahrhundert erweiterte sich die Bedeutung des Wortes und schloss dann auch den Prozess der Fortpflanzung ein. Dies war, zumindest teilweise, Folge des wissenschaftlichen Fortschritts. So entwickelte beispielsweise 1735 der schwedische Botaniker Linné eine Systematik, die er „Methodus sexualis" nannte, also eine Systematik nach Geschlechtsmerkmalen, in der Pflanzen nach der Art und Anzahl ihrer reproduktiven Strukturen eingeordnet wurden. Diese (heute überholte) Methode beeindruckte viele Gelehrte und Laien seiner Zeit. Aber es gab auch merkwürdigen Widerstand. Linnés System wurde von bestimmten Religionsführern heftig angegriffen, denn es war ihnen nicht verborgen geblieben, dass - wenn man sich Linnes Sichtweise anschloss - männliche Staubgefäße und mehrere weibliche Stempel in einer einzigen Blüte gewissermaßen „kohabitierten". Das war zweifelsfrei unsittlich und eine Schmähung Gottes, der unmöglich etwas derart Lasterhaftes geschaffen haben konnte, Biologielehrer wurden deshalb beschworen, dieses System gegenüber ihren Schülern erst gar nicht zu erwähnen.


Aus heutiger Sicht ist es natürlich einfach, diese besorgen Moralisten zu belächeln, aber ihr Einspruch war zu einem gewissen Grade verständlich. Es schien ihnen, als versuchten Linné und andere Wissenschaftler, die Natur zu „sexualisieren" und dem Wachstum jedes Grashalms ein wollüstiges Ziel zu unterstellen. Dieser Vorwurf war natürlich unzutreffend, aber er drückte einen damals gültigen Eindruck aus. Im Zuge der raschen Fortschritte der Biologie und der Medizin wurden immer neue Lebensgebiete unerschrocken erforscht. Die anatomische Beschaffenheit und das Verhalten wurden miteinander verglichen, und es konnten Verbindungen hergestellt werden, wo niemand sie je zuvor bemerkt hatte. Als man erst einmal begonnen hatte, Rosen und Veilchen als sexuelle Wesen anzusehen, erhielt der Begriff des „Sex" eine völlig neue Dimension. Sexualität wurde plötzlich allgegenwärtig, und dies schien eine ernste Bedrohung für das leicht erregbare Gemüt Jugendlicher darzustellen. (Paradoxerweise griffen die Moralisten selbst nach einiger Zeit diese erweiterte Sichtweise von Sexualität auf: Um ihren Kindern menschliche Fortpflanzung zu erklären, sprachen sie dann über „die Blumen, die Vögel und die Bienen".)


Auf jeden Fall zeigt die Kontroverse um Linnés „sexuelles" Klassifikationssystem, dass der früher neutrale und in seiner Bedeutung begrenzte Begriff „Sex" sich zu erweitern begann. Er umfasste nun nicht nur das Geschlecht, sondern auch den Vorgang der Fortpflanzung und der verschiedenen mit ihm verbundenen körperlichen und psychischen Reaktionen. Im Verlauf der nächsten 150 Jahre wurde so eine Reihe neuer und immer präziserer Bezeichnungen geprägt, die rasch in die meisten europäischen Sprachen Eingang fanden. Dieser allgemeine Trend spiegelt sich auch in der englischen Sprache wider. Das „Oxford English Dictionary" weist die folgenden Begriffe und das Datum ihres ersten Nachweises aus: „sexual intercourse" (1799), „sexual function" (1803), „sexual organs" (1828), „sexual desire" (1836), „sexual instinct" (1861), „sexual impulse" (1863), „sexual act" (1888) und „sexual immorality" (1911).


Es ist interessant, dass viele dieser neuen Begriffe bald nach ihrer Einführung eine erweiterte Bedeutung erhielten. Der Begriff ,,sexual organs" bedeutete zunächst nichts als „männliche oder weibliche Organe" (also Organe, die mit dem Geschlecht als anatomischem Unterscheidungsmerkmal zu tun haben). Nach einiger Zeit verstand man darunter auch die Organe, die der erotischen Lust dienten. Aus diesem Grunde wurde bald jede Betätigung, die eine Stimulierung dieser Organe einschloss, als „sexuell" bezeichnet. Es wurde so sogar möglich, von „sexuellem" Kontakt zu sprechen, wenn die Beteiligten dem gleichen Geschlecht angehörten.


Zu Beginn des 19. Jahrhunderts tauchte in der wissenschaftlichen Terminologie ein weiterer neuer Begriff auf:, „Sexualität''. Dieses Wort bezeichnete zunächst ebenfalls nur die Eigenschaften „männlich" oder „weiblich". Nach wenigen Jahrzehnten wurde mit diesem Wort bereits die Beschäftigung mit sexuellen Dingen bezeichnet, schließlich umfasste es auch die sexuellen Kräfte oder die Fähigkeit zu erotischen Gefühlen ganz allgemein. So wurde dieses Wort nach und nach von einem relativen, vergleichenden zu einem absoluten Begriff. Ungefähr seit 1880 konnte man so von der „Sexualität" eines Menschen als einem eigenständigen Phänomen sprechen. Dieses Phänomen war durch mehr als schlichte „Männlichkeit" oder „Weiblichkeit" gekennzeichnet, und es bezog sich nicht notwendig immer auf männlich-weibliche Begegnungen. So bezog sich der Begriff der „Sexualität" nicht mehr ausschließlich auf die Anziehung zwischen den Geschlechtern oder die Fortpflanzungsvorgänge, auch Masturbation eines Einzelnen konnte nun als „sexuelles" Verhalten bezeichnet und als Ausdruck der menschlichen „Sexualität" interpretiert werden.


Zu Beginn unseres Jahrhunderts wurde der Begriff der Sexualität unter dem wachsenden Einfluss psychoanalytischen Denkens noch umfassender. Er bezog sich nun nicht mehr nur auf Fortpflanzung und erotische Lust, sondern auch auf das Bedürfnis nach Liebe und persönlicher Erfüllung, das heißt, auf die „Lust am Leben" selbst. Die Sexualität von Männern und Frauen wurde nun als wesentlicher Aspekt ihrer Persönlichkeit gesehen, als grundlegende und allumfassende Eigenschaft, als Inbegriff der Gefühle und Handlungen, derer sexuell reagierende Menschen fähig sind. Freud und seine Schüler entdeckten so sexuelle Elemente in fast allen menschlichen Handlungen und beschrieben dies als Ausdruck eines „Urinstinkts", als Wirkung eines grundlegenden, machtvollen inneren „Triebes".


Fraglos spiegelten diese Verschiebungen der Wortbedeutung und die Entdeckung menschlicher „Sexualität" als Trieb mit eigener Dynamik eine bedeutende Veränderung im Selbstverständnis der Menschen wider. Seit dem Ende des Mittelalters hatte die Lebenssituation der Menschen in Europa durchgreifende und immer raschere Wandlungen erfahren. Der Übergang von der feudalistischen zur kapitalistischen Wirtschaft, die Ausweitung des Handels und der Fortschritt der Technik ließen auch neue Einstellungen, Lebensgewohnheiten und Moralbegriffe entstehen. Der nun hervortretende bürgerliche Mittelstand, die Bourgeoisie, forderte ein nie zuvor gekanntes Ausmaß an Selbstdisziplin, Selbstkontrolle und Selbstverleugnung von sich und anderen. Tüchtigkeit, Pünktlichkeit, Produktivität und Profit wurden zu neuen Idealen. Der menschliche Körper wurde zunehmend als Maschine begriffen, die ebenso präzise und rational zu funktionieren hatte. Spontane körperliche Reaktionen und Wünsche, die ein störungsfreies Funktionieren hätten gefährden können, wurden strikt unterdrückt. Verschwendung und Müßiggang konnten nicht toleriert werden. Auch Liebe hatte ihre Berechtigung nur noch als Mittel zum Zweck: zur Zeugung von Kindern, also von neuen Arbeitern, Soldaten oder anderen „nützlichen" Mitgliedern der Gesellschaft. Im 18. Jahrhundert wurde erklärt, Masturbation stelle eine ernste Gefährdung der Gesundheit dar. Zunehmende Prüderie entfremdete Männer und Frauen von sich selbst und voneinander, in der Mitte des 19. Jahrhunderts waren schließlich alle natürlichen Körperfunktionen faktisch tabuisiert. Merkwürdigerweise lenkte gerade diese Unterdrückung, Unterjochung, Ausbeutung und Kontrolle des Körpers die Aufmerksamkeit zunehmend auf seine „sexuellen" Eigenschaften. So sehr die Menschen sich auch dagegen wehrten, die Fähigkeit ihrer Körper zu Sinneslust und „nutzloser" Ekstase blieb erhalten. So wurde die Versuchung, sich dieser Lust hinzugeben, immer größer, je mehr man sie verurteilte. Als die allgemeine Prüderie schließlich ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde die verbotene Fleischeslust zur machtvollen, geheimen Besessenheit. Die Menschen des 19. Jahrhunderts vermuteten fast überall in irgendeiner Form „das Sexuelle".


Gleichzeitig mussten diese Menschen jedoch feststellen, dass in ihrer Sprache ein großer Mangel an Bezeichnungen für Sinnliches oder Erotisches bestand. Die große Vielfalt des mittelalterlichen Englischen, Französischen oder Deutschen an Wörtern für die Geschlechtsorgane, Körperfunktionen und die verschiedenen Formen des Geschlechtsverkehrs waren nach und nach durch einige verschämte Euphemismen und unverständliche griechische und lateinische Begriffe ersetzt worden. Die reichhaltige Volkssprache wurde als „vulgär" und „schmutzig" strikt abgelehnt. Die wenigen „akzeptablen" Wörter mussten aus diesem Grund in ihrem Sinngehalt erheblich erweitert werden, um die im Sprachschatz entstandenen Lücken zu füllen. Das Wort „sexuell" erlangte dadurch zum Beispiel immer neue Bedeutungen, nur um damit ein terminologisches Vakuum auszufüllen. Den modernen Europäern oder Amerikanern blieb oft keine andere Wahl, als sich des Wortes „sexuell" zu bedienen, wenn sie von Dingen reden wollten, die vormals klar definierte, voneinander unabhängige Phänomene waren. Ein solcher Wortgebrauch konnte allerdings nicht ohne Einfluss auf das Bewusstsein der Menschen bleiben. Die Menschen begannen, in allen möglichen Verhaltensformen einen sexuellen Bedeutungsgehalt zu sehen. So entwickelten Männer und Frauen gegeneinander eine äußerst empfindsame, hypersexuelle Einstellung. Man kann diese veränderte Wahrnehmung an einem einfachen Beispiel veranschaulichen: Es ist eine häufige Erfahrung in der Psychotherapie, dass in gemischten Gruppen zwischenmenschliche Probleme häufig als sexuelle Probleme interpretiert werden. Die gleichen Probleme werden oft ganz anders definiert, wenn in der Gruppe nur Männer oder nur Frauen vertreten sind. Im letzteren Fall wird das Sexuelle allgemein weniger wichtig genommen, und die Beteiligten sind in der Lage, auch ganz andere Interpretationen für ihre Schwierigkeiten zu finden.


Es ist auch bekannt, dass viele sogenannte primitive Völker das „sexuelle" Element in bestimmten - für den westlichen Beobachter eindeutig sexuellen -Situationen überhaupt nicht wahrnehmen. Ähnliches gilt für Menschen, die auf sexuelle Befriedigung im engeren Sinn großen Wert legen. Sie machen sich weniger Gedanken um mögliche Nebenbedeutungen oder einen möglichen symbolischen Stellenwert ihres Verhaltens, da für sie Sexualität zwar subjektiv sehr wichtig ist, aber insgesamt eine eher begrenzte Rolle spielt.


Ähnliches gilt für „sexuelle" Handlungen kleiner Kinder in unserem Kulturkreis. Diese Handlungen werden von ihnen selbst oft gar nicht als sexuell empfunden. Vielmehr nehmen sie die scheinbar evidenten „erwachsenen" Interpretationen erst nach und nach und oft nur widerstrebend an.


Solche Beobachtungen zeigen, dass es einer bestimmten Grundeinstellung bedarf, um überall „sexuelle" Signale zu entdecken und „Sex" als grundlegende und allgegenwärtige Kraft zu interpretieren. Diese Einstellung ist nicht notwendig Ausdruck größerer Lustfähigkeit oder eines intensiveren Liebeslebens. Sie kann im Gegenteil durchaus ein Zeichen für eine behinderte, verarmte Sinnlichkeit sein. Ständige Beschäftigung mit Sexualität ist nicht identisch mit einem erfüllten Sexualleben. So scheint es sinnvoll, diesen Themenbereich zumindest sehr zurückhaltend zu diskutieren. Man muss sich immer vor Augen halten, dass man bei der Beschäftigung mit menschlichem „Sexual"-Verhalten nicht einfach einige schlichte Tatsachen vorträgt. Sondern man wählt immer auch gleichzeitig einen bestimmten Blickwinkel, aus dem man diese Tatsachen betrachtet. Das bedeutet, dass man immer gleichzeitig eine bestimmte persönliche, vielleicht beschränkte, Interpretation des Gesamtzusammenhangs vornimmt.


Eine Analyse des heutigen wissenschaftlichen Sprachgebrauchs zeigt, dass der Begriff „Sexualverhalten" drei verschiedene Grundbedeutungen haben kann, die vom Ausgangspunkt und vom wissenschaftlichen Ziel des jeweiligen Autors abhängig sind:


1. Der Begriff „Sexualverhalten" bezieht sich auf alle Handlungen und Reaktionen, die zu einer Befruchtung führen können, Dies ist die älteste, einfachste und engste Definition. Sie ist Ausdruck der Beobachtung, dass alle höheren Tiere in zwei Gruppen verschiedenen Geschlechts eingeteilt werden können, männliche und weibliche Tiere, und dass sie sich „sexuell" fortpflanzen. Das bedeutet, dass vom männlichen und weiblichen Geschlecht verschiedene sich ergänzende Geschlechtszellen (Gameten) produziert werden, die sich vereinigen müssen, damit neues Leben entsteht. Um diese Vereinigung zu erzielen, müssen die beiden beteiligten Individuen eine Folge ganz bestimmter, sehr spezifischer Verhaltensweisen und Reaktionen durchlaufen. Diese Folge (oder ein Teil davon) wird im engeren Sinn als Sexualverhalten bezeichnet.


Bei niederen Tieren wird Sexualverhalten durch bestimmte physiologische Mechanismen streng kontrolliert. Zu bestimmten Zeiten, in denen eine Befruchtung möglich ist, reagieren Männchen und Weibchen auf ein bestimmtes „Signal" des anderen, wodurch ein Verhalten ausgelöst wird, das das Zusammenkommen der männlichen und weiblichen Geschlechtszellen ermöglicht, Das Männchen besteigt dann beispielsweise das Weibchen, ihre Geschlechtsorgane werden vereinigt, und das Männchen ejakuliert im Körper des Weibchens, so dass eine Befruchtung resultiert. Diese Abfolge von Handlungen und Reaktionen kann nur stattfinden, wenn alle notwendigen Signale von beiden Partnern empfangen werden. Die sexuellen Verhaltensweisen des Männchens und des Weibchens müssen sich auf jeder Stufe sehr spezifisch gegenseitig verstärken. Tiere sind zwar darauf „programmiert", eine Befruchtung durchzuführen, das Programm bricht jedoch ab oder läuft überhaupt nicht an ohne diese gegenseitige Verstärkung. Das bedeutet, dass unter anderem das Sexualverhalten dieser Tiere nicht „instinktiv" ist, das heißt nicht ausschließlich aus ihnen selbst heraus bestimmt. Es ist vielmehr das Ergebnis einer Rückkoppelung, ein „aufgebautes" oder „zusammengesetztes" Verhalten als Reaktion auf gewisse Reize zu einem bestimmten Zeitpunkt.


Bei den höheren Säugetieren genügen die angeborenen physiologischen Kontrollen des Sexualverhaltens nicht, um „erfolgreiche" Paarung zu sichern, sondern es sind hierfür auch Lernprozesse erforderlich. Affen, die isoliert aufwachsen und keine Gelegenheit haben, Paarungsverhalten zu sehen oder zu lernen, haben zwar die Fähigkeit, auf Signale plötzlich erscheinender anderer Tiere zu reagieren, wissen aber unter Umständen nicht, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollen. Ihre Körperbewegungen wirken dann plump und ungelenk und eine Befruchtung kann nicht stattfinden. Man kann daraus sehen, dass „normales" Sexualverhalten bei diesen Tieren in hohem Maß von Übung und Erfahrung abhängt. Außerdem wird deutlich, dass das Sexualverhalten vieler höherer Tiere sehr differenziert ist und nicht nur eine reproduktive Funktion erfüllt. Es dient auch dazu, soziale Strukturen und Zusammenhänge zu erhalten.


Beim höchsten Säugetier - dem Menschen - sind solche Verhaltensmuster noch flexibler und komplexer. Menschen ist die Fähigkeit zu bestimmten grundlegenden sexuellen Reaktionen angeboren, sie sind aber nicht spezifisch auf Paarung „programmiert". Sie sind daher fast ganz auf Beobachtung und Erfahrung angewiesen. Ihr Sexualverhalten ist außerordentlich variabel, und Befruchtung ist unter Umständen nicht mehr die zentrale Funktion. Demgegenüber können persönliche Befriedigung und bestimmte soziale Komponenten an Gewicht gewinnen. Wenn wir also über Menschen sprechen, können wir Sexualität nicht einfach mit Fortpflanzung gleichsetzen. Menschliches Sexualverhalten ist mehr als Fortpflanzungsverhalten, es erfordert deshalb eine andere, weiter gefasste Definition.


2. Der Begriff,, Sexualverhalten" bezieht sich auf jedes Verhalten, bei dem eine „sexuelle Reaktion" des Körpers zu beobachten ist. Dies ist eine neuere, ziemlich pragmatische Definition. Sie ist Ausdruck der Beobachtung, dass bei der Paarung der meisten höheren Tiere bestimmte körperliche Veränderungen stattfinden, die ein charakteristisches Muster haben und die als „sexuelle Reaktion" zusammengefasst werden können. Eine zweite Beobachtung war, dass diese Reaktion auch in Fällen stattfinden kann, in denen eine Befruchtung nicht möglich ist. So hat man Tiere beobachtet, die, allein gelassen, ihre eigenen Geschlechtsorgane stimulierten, oder die Partner ihres eigenen Geschlechts bestiegen oder die eine Paarung mit Tieren einer fremden Spezies versuchten. In all diesen Fällen findet eine deutliche sexuelle Reaktion statt.


Sexualverhalten kann nach dieser Definition also nicht nur im Sinn von Reproduktionsverhalten oder männlich-weiblicher Beziehungen gesehen werden, In manchen Fällen könnte man dieses sogenannte Sexualverhalten sogar ganz anders und wesentlich besser als „Warnverhalten", „Begrüßungsverhalten", „Versöhnungsverhalten", „Dominanzverhalten" oder ähnliches bezeichnen. Bestimmte Affen warnen zum Beispiel Eindringlinge in ihr Territorium durch einen erigierten Penis; sie grüßen oder beschwichtigen höherrangige Tiere, indem sie sich ihnen zur Paarung anbieten; sie demonstrieren ihren eigenen Rang, indem sie untergeordnete Tiere besteigen. Wenn wir ein solches Verhalten als Sexualverhalten bezeichnen, bleiben wir also auf der deskriptiven Ebene und sagen nichts über seine wirkliche Bedeutung aus. Wir vermitteln damit lediglich, dass das Verhalten eine - vielleicht auch nur rudimentäre - sexuelle Reaktion beinhaltet. Wir treffen also keine Aussage darüber, was diese Reaktion bedeutet. Bei manchen Tieren ist es so unter Umständen nur nach langer Beobachtung möglich, diese Bedeutung des Verhaltens herauszufinden.


Bei Menschen ist die Bedeutung des Sexualverhaltens in diesem Sinne manchmal noch weniger deutlich. Die sexuelle Reaktion als solche ist unter Umständen offensichtlich, aber die Motivation und das Ziel bleiben im dunkeln. Dies wird gelegentlich mit dem Ausdruck beschrieben, dass jemand „Sex für nicht-sexuelle Ziele" gebraucht. Die Frage, was diese Ziele im einzelnen sind, bleibt jedoch oftmals ungelöst. (Der Ausdruck „Sex für nichtsexuelle Ziele" zeigt im übrigen sehr genau die Schwierigkeiten, die bei der Definition sexuellen Verhaltens entstehen können. Denn genaugenommen ist der Satz sinnlos. Es ist, als spräche man von „Politik für nicht-politische Ziele". Offenbar hängt eben alles davon ab, was man unter „politisch" versteht.)


Es hat selbstverständlich Vorteile, von Sexualverhalten ohne Bezug auf seine mögliche Bedeutung zu sprechen. Ein so neutraler Wortgebrauch kann voreilige Wertungen vermeiden helfen. Deshalb wird dieser Wortgebrauch heute von vielen Sexualforschern bevorzugt, die eine objektive und detaillierte Beschreibung dessen vornehmen wollen, was ein Mensch tut, bevor sie zu erklären versuchen, warum er es tut. Die Definition umfasst jede Form von Sexualverhalten des Menschen (sexuelle Selbststimulierung, heterosexuellen und homosexuellen Geschlechtsverkehr, sexuellen Kontakt mit Tieren), ohne eine bestimmte Form höher zu werten als die andere. Darüber hinaus bleibt für eine Interpretation dieser Handlungen genügend Raum. Die oben genannte Definition setzt also Sexualität nicht mit Reproduktion oder mit irgendeinem anderen Zweck gleich. Sie ist lediglich Ausdruck der Feststellung, dass bestimmte gleiche körperliche Reaktionen bei einer Reihe verschiedener Handlungen stattfinden. Darüber hinaus wissen wir aber, dass zumindest beim Menschen diese Reaktion oft mit starken Lustempfindungen verbunden ist. Deshalb ist noch eine dritte Definition denkbar.


3. Der Begriff,,Sexualverhalten" bezieht sich auf alle Handlungen und Reaktionen, die der Lustbefriedigung dienen. Dies ist eine moderne, sehr weit gefasste Definition, die auf Sigmund Freud und seine psychoanalytische Theorie zurückgeführt werden kann. Es war Freud, der das Konzept der „Libido" (lat: Lust) entwickelte.


Bei ihm fasste es zunächst die mit sexuellen Bedürfnissen verbundene körperliche Energie zusammen, später alle konstruktiven Bestrebungen des Menschen. In seiner Theorie wird das menschliche Leben insgesamt von zwei entgegengesetzten grundlegenden Trieben bestimmt: Eros (der Lebenstrieb) und Thanatos (der Todestrieb). Nicht alle seiner Schüler teilten diese Ansicht, aber der Begriff eines starken, angeborenen erotischen Triebes wurde weitgehend aufgenommen und sogar Bestandteil des Alltagswissens. Für viele wurde „Sexualtrieb" gleichbedeutend mit jedem Streben des Menschen nach Befriedigung. „Sex" wurde zum grundlegenden Motiv jeder das Leben steigernden oder verschönenden Handlung.


Man kann also feststellen, dass das Wort „Sexualverhalten", wenn es in dieser Form, gebraucht wird, ein sehr umfassender Begriff ist. Er bezieht sich dann nicht nur auf jede Form intimer Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sondern auf alle möglichen menschlichen Handlungen. Er kann ebenso auf das Saugen eines kleinen Kindes an der Mutterbrust und auf das Daumenlutschen angewandt werden, wie auf Essen, Trinken, Rauchen, Tanzen, Singen, Fahrradfahren, Sammeln von Kunstwerken oder Beifallspenden bei Erwachsenen. Auch Jagen, Ringen, Kämpfen oder Schießen können hierzu gezählt werden. Bei all diesen Handlungen stellt sich lediglich die Frage der Motivation: Wenn das Verhalten in irgendeiner Form mit dem Wunsch verbunden ist, Lust zu erleben, wenn es aus dem Bedürfnis nach Selbsterfüllung resultiert, wenn es einen Menschen befriedigt oder sein Lebensgefühl verstärkt, dann ist es eindeutig ein sexuelles Verhalten.


Man könnte noch darüber hinausgehen und von Sexualverhalten auch bei Menschen sprechen, die sexuelle Tagträume haben oder die ihre erotischen Phantasien auf kaum erkennbare, symbolische Art und Weise ausagieren. Man könnte auch sagen, dass der „Sexualtrieb" bei manchen Menschen gehemmt oder gestört ist und dass sie deshalb andere Menschen beleidigen, angreifen, verletzen, schlagen oder sogar töten, im „perversen" Versuch, sexuelle Befriedigung zu erlangen. In manchen dieser Fälle können offensichtliche sexuelle Inhalte fehlen. Sie könnten jedoch unter Umständen von einem Psychoanalytiker gefunden und so als „wirkliches" Motiv erkannt werden.


Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass die oben genannte Definition des Sexualverhaltens problematisch ist. Sie ist sicherlich nicht ausschließlich beschreibend und deshalb nicht so neutral wie die ersten beiden. Im Gegenteil. Sie wertet und lässt weiten Raum für persönliche Interpretationen. Man muss sich auch fragen, ob diese Definition, auf Tiere angewandt, irgendeinen Sinn ergibt. Auf alle Fälle hat sie sich für die wissenschaftliche Anwendung als nicht sehr brauchbar erwiesen. Sie hat jedoch auf Moralisten und Philosophen immer große Anziehungskraft ausgeübt.


Die Ausführungen machen deutlich, dass selbst auf der theoretischen Ebene Sexualität keine einfache Sache ist. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Art und Weise, in der gewöhnlich über „Sexualität", „Sexualverhalten" oder „Sexualtrieb" gesprochen wird, äußerst ungenau ist. Für eine objektive Analyse reicht dies mit Sicherheit nicht aus. Wenn zum Beispiel so etwas wie ein „Sexualtrieb" existiert, was genau ist darunter zu verstehen? Ist es ein „Vermehrungstrieb"? Ist es ein Trieb, eine bestimmte Spannung auf bestimmte Art und Weise abzubauen? Ist es ein Trieb, lustvolle Erlebnisse zu suchen? Oder, zuallererst, was eigentlich ist ein „Trieb"?


Das Wort „Sexualtrieb" wurde zu Beginn unseres Jahrhunderts geprägt, und man sagte, Instinkte oder „Triebe" seien angeborene Kräfte oder Energien, die die Tiere „trieben", sich auf eine bestimmte, vorhersehbare Art und Weise zu verhalten. Im einzelnen ging man davon aus, dass Triebe dafür sorgten, dass ein Tier Unangenehmes, wie Hunger oder Durst, vermeidet und dass es körperliche Anspannung durch sexuelle Aktivität abbaut. So wurde zum Beispiel die Futtersuche eines Tieres als Wirkung eines Fresstriebes interpretiert, die Suche nach Wasser als Wirkung eines Dursttriebes und sexuelle Handlungen als Wirkung des Sexualtriebes.


Ursprünglich war also das Wort „Trieb" ein eng gefasster biologischer Begriff. Wie oben beschrieben, erlangte jedoch für Sigmund Freud das Konzept des Sexualtriebs im Laufe der Zeit eine wesentlich breitere Bedeutung. Unter dem Begriff der Libido und später des Eros wurde er Teil einer immer umfassenderen psychoanalytischen Theorie, die versuchte, die - weitgehend unbewussten - Motive jedes menschlichen Verhaltens zu erklären. Bis heute verwenden die Anhänger der Freudschen Schule daher den Begriff „Sexualtrieb" auf sehr spezifische Weise, die sich nur im Gesamtzusammenhang der Grundannahmen der Psychoanalyse verstehen lässt. Auch muss angemerkt werden, dass die Psychoanalyse insgesamt bis zum heutigen Tag mehr eine Frage des Glaubens als des wissenschaftlichen Beweises geblieben ist.


In der heutigen wissenschaftlichen Diskussion wird das Wort „Trieb" nicht mehr so häufig verwendet wie früher. Viele Wissenschaftler haben dieses Konzept insgesamt beiseite gelegt. Sie sehen keinen Vorteil darin, Hunger als „Fresstrieb" zu beschreiben, und statt vom „Dursttrieb" eines Tieres zu sprechen, sagen sie lieber einfach, dass das Tier durstig ist. Trotzdem übt das „Trieb"-Konzept nach wie vor eine gewisse Anziehung auf Psychologen aus, die die Beweggründe bestimmter Handlungen beschreiben wollen. In Lehrbüchern der Psychologie wird deshalb der Begriff „Trieb" gewöhnlich definiert als „dringendes Grundbedürfnis, das seine Wurzel in irgendeiner körperlichen Spannung, einem Mangel oder einer Unausgeglichenheit hat und das den Organismus zu einer Handlung treibt". Manchmal wird „Trieb" auch definiert als „Erregungszustand, in dem das Verhalten eines Organismus darauf gerichtet ist, Unbehagen oder eine physiologische Unausgewogenheit zu vermeiden". Triebe dieser Art sind beispielsweise Hunger und Durst, Schlafbedürfnis oder das Bedürfnis nach ausgeglichener Umgebungstemperatur. Ein Mangel an Nahrung, Flüssigkeit oder Schlaf, eine zu hohe oder zu niedrige Temperatur wecken den entsprechenden Trieb. Je größer die Unausgeglichenheit ist, um so stärker äußert sich dieser Trieb. Wenn umgekehrt genügend Nahrung, Flüssigkeit oder Schlaf oder eine mäßige Umgebungstemperatur erzielt wurden, ist der Trieb befriedigt, bis er von einer neuen Unausgeglichenheit erneut erregt wird. Solche Triebe haben für den Organismus natürlich eine lebenswichtige Funktion. Ohne Nahrung, Flüssigkeit oder Schlaf, in sehr heißer oder sehr kalter Umgebung würde der Organismus in Kürze zugrunde gehen.


Wie bereits erwähnt, äußern Wissenschaftler gelegentlich die Frage, ob selbst in so „einfachen" Zusammenhängen das Triebkonzept einen wesentlichen Gewinn darstellt. Wie dem auch sei, zumindest im Fall der Sexualität hilft es tatsächlich wenig weiter. Denn erstens ist sexuelle Aktivität für das individuelle Überleben eines Organismus nicht notwendig, Ein Mangel an Nahrung oder Flüssigkeit führt sicher zum Tode, ein Mangel an sexueller Betätigung aber hat noch niemanden umgebracht. Zweitens hängt die Stärke des sexuellen Verlangens nicht notwendigerweise vom Ausmaß des sexuellen Mangels ab. Sexuelle Enthaltsamkeit erhöht nicht immer das sexuelle Verlangen, häufige sexuelle Aktivität vermindert es nicht immer. Im Gegenteil, Menschen, die für lange Zeit enthaltsam gelebt haben, können jedes Interesse an sexuellen Dingen verlieren; andere, sexuell sehr aktive Menschen, sind dagegen manchmal besonders leicht erregbar, Im Gegensatz zu Hunger und Durst kann sexuelle Erregung auch durch ausschließlich psychische Faktoren verursacht oder verstärkt werden. Außerdem ist es bemerkenswert, wie leicht sexuelle Erregung störbar ist. Oft kann die kleinste Ablenkung sie zum Erlöschen bringen. Hunger und Durst werden schließlich als unangenehm empfunden, während sexuelle Erregung angenehm und in sich lohnend erlebt wird, selbst wenn sie „unbefriedigt" bleibt.


Angesichts dieser Tatsachen haben die heutigen Sexualforscher das allgemeine Konzept eines Sexualtriebes verlassen. Statt dessen wurde zunehmend versucht, einzelne seiner Bestandteile getrennt zu beschreiben. Schon 1940 differenzierte R. L. Dickinson zwischen „sexueller Begabung, sexueller Leistung und sexuellem Trieb", 1948 definierte Alfred C. Kinsey die sexuelle „Fähigkeit" als Gegensatz zu „sexueller Leistung". 1958 schlug Lester A. Kirkendall vor, zwischen „sexueller Fähigkeit, sexueller Leistung und sexuellem Trieb" zu unterscheiden. Dieser letztgenannte Ansatz scheint besonders günstig, und wir schließen uns deshalb der Einteilung Kirkendalls (mit bestimmten begrifflichen Modifikationen) an. Wenn also von menschlichem Sexualverhalten gesprochen wird, sollte man zwischen drei grundlegenden Faktoren unterscheiden:

1. Sexuelle Fähigkeit, das heißt das, was ein Mensch tun kann.

2. Sexuelle Motivation, das heißt das, was ein Mensch tun möchte.

3. Sexuelle Leistung, das heißt das, was ein Mensch tatsächlich tut.


Sexuelle Fähigkeit (also die Fähigkeit, sexuell erregt zu werden und einen Orgasmus zu erreichen) hängt von der allgemeinen körperlichen Verfassung eines Menschen ab, besonders von seinem Nerven- und Muskelsystem. Diese Fähigkeit ist von einem Menschen zum anderen sehr verschieden, selbst bei ein und demselben Menschen ist sie nicht gleichbleibend. So hat beispielsweise ein Mensch als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener oder als alter Mensch sehr unterschiedliche sexuelle Fähigkeiten.


Sexuelle Motivation (das heißt das Bedürfnis, sexuell aktiv zu werden) kann vom Vorhandensein bestimmter Hormone im Körper abhängig sein, scheint jedoch weitgehend psychischen Einflüssen zu unterliegen. Soziale Konditionierung und die bestimmten Umstände einer konkreten Situation spielen eine entscheidende Rolle. Sexuelle Motivation ist also von einem Individuum zum anderen sehr verschieden. Sie ist bei ein und demselben Menschen nicht gleichbleibend.


Sexuelle Leistung (das heißt das tatsächliche Ausmaß sexueller Aktivität) hängt nicht nur von körperlichen und psychischen Faktoren ab, sondern auch von der Gelegenheit. Das Ausmaß sexueller Leistung wird natürlich nach oben durch die sexuelle Fähigkeit begrenzt.


Es ist evident, dass sexuelle Fähigkeit, Motivation und Leistung nicht immer übereinstimmen. Bezogen auf Sexualität haben die wenigsten Menschen die Möglichkeit, all das zu tun, was sie tun könnten oder möchten. So wurde zum Beispiel von der Sexualforschung nachgewiesen, dass beim männlichen Geschlecht die größte sexuelle Fähigkeit gewöhnlich viele Jahre vor dem Gipfel der sexuellen Leistung erreicht wird. Oder, um ein anderes Beispiel zu erwähnen, es konnte gezeigt werden, dass beim weiblichen Geschlecht die sexuelle Fähigkeit oft wesentlich größer ist als die sexuelle Motivation. Bei manchen Menschen wird man eine hohe sexuelle Leistung in Verbindung mit einer geringen sexuellen Motivation feststellen. Die Motivation kann statt dessen weitgehend finanzieller Art sein (zum Beispiel im Fall der Prostitution), oder sie kann sozialer Art sein (zum Beispiel im Fall einer ehemüden Frau, die dennoch ihren Mann nicht verlieren will).


Nach dem bisher gesagten, erscheint es nicht länger gerechtfertigt, einfach von einem menschlichen „Sexualtrieb" zu sprechen. Ein so globaler Ansatz wird nicht sehr weit führen. Statt dessen erscheint es erfolgversprechender, bestimmte klar definierte Aspekte menschlicher sexueller Aktivität zu untersuchen. Solche Untersuchungen wurden inzwischen in großer Zahl durchgeführt und sie haben sinnvolle, manchmal überraschende Ergebnisse gezeitigt. Kinsey begann, sexuelle Leistung in Einheiten zu zählen („total outlets"), William H. Masters und Virginia E. Johnson maßen die sexuellen Fähigkeiten des Menschen im Labor. Solche Studien haben zum Verständnis der Zusammenhänge erheblich beigetragen. Gegenwärtig führen Wissenschaftler genauere Untersuchungen über die sexuelle Motivation durch. Ein vielversprechender Anfang wurde vor einigen Jahren hierzu von R. E. Whalen gemacht, der die sexuelle Motivation in zwei Einzelkomponenten unterteilte: Erregung und Erregbarkeit. Nach dieser Unterscheidung hängt die Erregung der Menschen von spezifischen Reizen in spezifischen Situationen ab, während ihre Erregbarkeit von ihrer körperlichen Verfassung abhängt. (Das heißt zum Teil vom Vorhandensein bestimmter Hormone, zum Teil von bestimmten Lernerfahrungen. Letztere sind besonders wichtig, weil die sexuelle Erregbarkeit von Menschen mit gleichem Hormonspiegel sehr unterschiedlich sein kann.) Whalens Zwei-Komponenten-Modell kann natürlich auch als vereinfachte Fassung des Kirkendallschen Modells verstanden werden. Denn zwar ist „Erregung" offensichtlich eine Frage der Motivation, „Erregbarkeit" hängt aber auch von der Fähigkeit ab. All diese differenzierteren Modelle haben die früher sehr wenig verständlichen Zusammenhänge durchschaubarer gemacht, und es ist zu hoffen, dass zukünftige Forschung ein noch besseres Verständnis der manchmal verwirrenden Vielfalt menschlichen Sexualverhaltens ermöglichen wird.


Im vorliegenden Buch wird der Begriff „menschliches Sexualverhalten" in einem weiteren und einem engeren Sinn verwendet. Im weiteren Sinn bedeutet er all das, was Menschen als sexuelle Wesen tun. Dies schließt auch ein, in welcher Weise sie ihre maskuline oder feminine Geschlechterrolle spielen und wie sie ihre Partner wählen. Dieser Wortgebrauch mag zwar unbestimmt sein, er wird aber allgemein akzeptiert und verstanden. Er bietet deshalb keine besonderen Schwierigkeiten.


Wie wir gesehen haben, ist demgegenüber der Begriff im engeren Sinn schwierig zu definieren. Zweifellos hat Sexualverhalten mit Fortpflanzung zu tun, oder es hat sich zumindest in Verbindung mit dem Fortpflanzungsverhalten entwickelt. Aber wir wissen, dass bei höheren Tieren und vor allem beim Menschen Sexualverhalten sich hierauf nicht beschränkt. Wir wissen schließlich, dass Freud und seine Schüler davon ausgehen, dass jeder Mensch einen machtvollen Sexualtrieb besitzt.


Im begrenzten Zusammenhang dieses Buches muss nicht entschieden werden, ob diese Annahme gerechtfertigt ist. Wir können uns statt dessen auf praktische Aspekte beschränken. In den folgenden Abschnitten bedeutet deshalb Sexualverhalten im engeren Sinn dasjenige Verhalten, das die Stimulierung und Erregung der Geschlechtsorgane beinhaltet. Wir lassen es dabei offen, welche Gründe, Motive oder Ziele diesem Verhalten zugrunde liegen.


 
 

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