Menschen in psychiatrischen Anstalten

12.6 Menschen in psychiatrischen Anstalten


Die Zahl der Menschen, die jährlich in psychiatrische Einrichtungen aufgenommen werden, ist erschreckend hoch. In der Bundesrepublik Deutschland können Menschen, die sich selbst oder andere Menschen gefährden, auf richterlichen Beschluss befristet in psychiatrische Kliniken eingewiesen werden. Das setzt im allgemeinen voraus, dass die betreffende Person sich im Zustand der Handlungsunfähigkeit befindet, also juristisch für ihre Taten nicht verantwortlich gemacht werden kann. In psychiatrischen Anstalten finden sich jedoch nicht nur solche Menschen oder Patienten, die man als „psychisch krank" im weiteren Sinn bezeichnen könnte. Es finden sich dort auch Epileptiker, Alkoholiker, Drogenabhängige und viele andere gesellschaftliche Nonkonformisten. Man sollte daher die Bezeichnung „psychiatrische Anstalt" nicht zu wörtlich nehmen. In Wahrheit haben diese Institutionen oft mehrere Funktionen: die von Krankenhäusern, von Gefängnissen, von Armenhäusern und von Altenheimen.


Dies ist besser verständlich, wenn man die Geschichte der psychiatrischen Anstalten betrachtet. Bis in die moderne Zeit haben westliche Gesellschaften nur wenig Unterschiede gemacht zwischen Schwachsinnigen, Landstreichern, Verbrechern oder Mittellosen, sondern unterwarfen sie alle einer ähnlichen Behandlung. Sie wurden jahrhundertelang exekutiert, verstümmelt, vertrieben oder in Knechtschaft gehalten; schließlich ging man dazu über, sie allesamt einzusperren. Die ersten solchen Einrichtungen wurden deshalb für eine Vielzahl verschiedener Insassen gebaut. Die älteste derartige Anstalt in den Vereinigten Staaten wurde 1727 im Staate Connecticut gegründet, und sie war dazu bestimmt, „alle Schelme und Vagabunden oder Müßiggänger, die in der Stadt und im Land betteln, gemeine Trunkenbolde, gemeine Schlafwandler, Diebe, wollüstige und laszive Personen . . ., aber auch verwirrte Personen, die frei herumzulaufen außerstande sind" aufzunehmen. Als später richtige Irrenhäuser und psychiatrische Anstalten gegründet wurden, gab man sich Mühe, die Armen nicht aufzunehmen (da sie sonst in den Genuss freier Kost und Wohnung gekommen wären), jeder andere unglückliche Mensch konnte jedoch auf die schlichte Bestätigung des Anstaltsleiters hin eingewiesen werden, er sei geistig krank. Oftmals war ein Beweis der Geisteskrankheit nicht erforderlich, wie zum Beispiel im Staat Illinois, wo noch Mitte des 19. Jahrhunderts ungehorsame Frauen auf Wunsch ihrer Ehemänner eingewiesen werden konnten. So extremer Missbrauch führte schließlich zu strengeren gesetzlichen Regelungen, es gab jedoch eine Reihe von Rückfällen, vor allem in den dreißiger und vierziger Jahren dieses Jahrhunderts, wo eine Reihe von Bundesstaaten die zwangsweise Unterbringung von „Psychopathen", vor allem von „sexuellen Psychopathen" zuließ. Wie die „wollüstigen und lasziven Personen" des 18. Jahrhunderts sind auch diese „sexuellen Psychopathen" eine kaum definierte gemischte Gruppe der verschiedensten harmlosen oder gefährlichen Menschen mit sexuell abweichendem Verhalten, auf die eine bestimmte psychiatrische Diagnose kaum zutreffen würde. Viele von ihnen kann man daher im medizinischen Sinne nicht als krank bezeichnen. Ihre „Hospitalisierung" und ihre „Behandlung" sind nichts als eine Ausrede dafür, sie irgendwo einzusperren, da sie unter strafrechtlichen Gesichtspunkten freigesprochen oder nur zu kurzen Haftstrafen verurteilt werden würden.


Menschen, die in psychiatrische Anstalten eingewiesen werden, werden offiziell zu ihrem „eigenen Besten" behandelt, nicht bestraft. Es ist daher für sie ausgesprochen schwierig, ihre Rechte zu wahren, da diese im Sinne einer Vormundschaft zum Beispiel auf die Krankenhausleitung übertragen werden. Sie werden erst dann entlassen, wenn sie seitens der Ärzte als „geheilt" oder „ungefährlich" erklärt werden. Überdies werden sie möglicherweise eingreifenden und verstümmelnden „Therapien", vom Elektroschock bis zur „Psychochirurgie" und „chemischen Kastration" unterworfen. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in den Vereinigten Staaten kann dies jedoch in der Bundesrepublik nicht gegen ihren Willen geschehen. Dennoch sind solche Eingriffe sicher besonders bedenklich in Fällen von sozial harmlosen sexuellen Exzentrikern oder anderen ungefährlichen „Psychopathen".


Hinsichtlich ihrer sexuellen Rechte gilt für alle in Anstalten untergebrachten psychiatrischen Patienten das gleiche: sie haben keine Rechte. Nicht nur Menschen mit sexuell abweichendem Verhalten, sondern auch die „normalen" Insassen sind daher großen Frustrationen ausgesetzt. Wie in allen übrigen Krankenhäusern und Pflegeheimen, gibt es keine Privatsphäre und keine Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr. Das oben zu alten Menschen und Körperbehinderten Gesagte trifft auch hier zu. Es gibt im Grunde genommen keinen einleuchtenden Grund, diesen Menschen ihre sexuellen Rechte so umfassend zu versagen. Bei vielen Patienten könnte im Gegenteil sexuelle Erfüllung zur Gesundung beitragen und ihnen helfen, sich später in der Welt außerhalb der Klinik wieder besser zurechtzufinden. Für viele von ihnen wäre es sicherlich günstig, ihre sexuellen Beziehungen zu Freunden und Ehepartner aufrechtzuerhalten. Selbst innerhalb der Anstalten wären sexuelle Beziehungen sehr wohl denkbar, solange Schwangerschaften verhindert werden. Auch homosexuelle Patienten müssten nicht abstinent bleiben, wenn sie die richtigen Partner finden. (Geschlechtsverkehr zwischen Patienten und dem Personal müsste allerdings weiterhin tabu bleiben, da die letzteren sich in einer fast uneingeschränkten Machtposition gegenüber den ersteren befinden. Das könnte zu sexueller Ausbeutung führen.) Es ist jedoch deutlich, dass man in psychiatrischen Anstalten entscheidende sexuelle Reformen erreichen könnte, wenn die Psychiater selbst gegenüber der Vielfalt menschlicher Sexualität toleranter würden und aufhörten, jeden Menschen mit abweichendem Verhalten gleich als geisteskrank zu bezeichnen. Dies würde eine Vielzahl der heute durchgeführten „Therapien" überflüssig machen und könnte oftmals eine Zwangseinweisung in eine Anstalt überhaupt verhindern.


 

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