Die sexuell Unterdrückten

12. Die sexuell Unterdrückten


Im 18. Jahrhundert soll einmal ein Philosoph einem seiner Gegner gesagt haben: „Ich teile Ihre Meinung nicht, ich werde aber bis zum Tode Ihr Recht verteidigen, sie auszusprechen". Dieser Grundsatz fasst den Geist der Aufklärung sehr treffend zusammen, einer Zeit, als die Menschen versuchten, sich von ihren intellektuellen und moralischen Fesseln zu befreien, und als erstmals in der Geschichte der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle erscholl. Von diesem Geist wurden auch die Gründer der Vereinigten Staaten geleitet, als sie in der Verfassung jedem Bürger die Freiheit der Rede, der Religionsausübung und der Presse garantierten.


Diese Freiheitsrechte sind in der Zwischenzeit in vielen Teilen der Welt anerkannt. Die Ideale der Toleranz und des Individualismus, das Recht auf Selbstbestimmung und die Freiheit der Person haben im Verlauf der vergangenen 200 Jahre Aufnahme in die Verfassungen und die Gesetzgebung der meisten modernen Staaten gefunden. In unserem Jahrhundert wurde die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" durch die Vereinten Nationen verabschiedet, durch die alle Mitgliedsstaaten sich auf die Durchsetzung dieser Rechte verpflichten. Damit ist - zumindest theoretisch - die Befreiung der Menschen weitgehend abgeschlossen.


Leider sind die Dinge in Wirklichkeit wesentlich weniger ermutigend. Offiziell unterschreiben die meisten Regierungen zwar die Worte des zitierten Philosophen, inoffiziell behandeln jedoch immer noch viele von ihnen jede abweichende Meinung als Verrat. Einige moderne Staaten sind so tatsächlich - trotz aller freiheitlichen Phrasen - wesentlich repressiver als das schlimmste mittelalterliche Königreich.


All dies ist natürlich hinreichend bekannt und soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Was jedoch nicht jedem bewusst wird, ist, dass selbst in den toleranteren westlichen Ländern diese Toleranz nur für bestimmte Bereiche des menschlichen und sozialen Lebens gilt. Besonders zwei Verhaltensformen werden weiterhin irrational und oft einschneidend beschränkt: Drogengebrauch und sexuelle Aktivität. Niemand in öffentlicher Funktion ist bislang bereit zu sagen: „Ich billige Deinen Konsum von Drogen nicht, aber ich werde bis zum Tode Dein Recht verteidigen, sie einzunehmen", oder „Ich billige Deine sexuellen Interessen nicht, aber ich werde bis zum Tode Dein Recht verteidigen, ihnen nachzugehen." Die meisten Menschen würden solche Äußerungen nach wie vor skandalös und unverantwortlich finden. Drogen und Sexualität bleiben weiterhin die großen Tabus unserer Gesellschaft.


In letzter Zeit sind so auch früher tolerante Gesellschaften unter westlichem Einfluss Drogen und Sexualität gegenüber sehr ängstlich geworden. Daher überrascht auch die Feststellung nicht, dass in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" nichts über das Recht des Menschen über seinen eigenen Körper zu lesen ist. Das Dokument formuliert lediglich ein „Recht, zu heiraten und eine Familie zu gründen" und ein Recht auf freie Wahl des Ehepartners (Art. 16). Über das Recht auf sexuelle Aufklärung und sexuelle Erfüllung, die freie Wahl des Geschlechtspartners und der sexuellen Handlung, das Recht auf Verhütungsmittel und Schwangerschaftsabbruch wird nichts gesagt. Diese Liste wäre noch erheblich zu erweitern. Leider kann auch kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine offizielle Erklärung, die diese Rechte zu fordern wagte, mit überwältigender Mehrheit ablehnen würde. Zu viele Mitgliedsstaaten akzeptieren Sexualität nach wie vor nur innerhalb der Ehe und nur zum Zweck der Fortpflanzung.


Dabei sollte man sich immer vor Augen halten, dass Gesellschaften, die Sexualität nur zum Zwecke der Fortpflanzung gestatten, dadurch die meisten heute üblichen Formen menschlichen Sexualverhaltens als abnorm und falsch verurteilen. So werden Masturbation, Sexspiele unter Kindern, sexuelle Experimente Jugendlicher, vorehelicher Geschlechtsverkehr, nichtkoitale Formen des ehelichen Geschlechtsverkehrs, homosexuelle Handlungen, sexueller Kontakt mit Tieren, Sexualität nach der Menopause und noch viele andere Formen des Sexualverhaltens als ketzerische Praktiken angesehen, die unterdrückt werden müssen. Diese Unterdrückung erzeugt ihrerseits ein weitverbreitetes Gefühl der Schuld und der Angst. Überdies sind, da die Unterdrückung nie in vollem Maß gelingen kann, sexuelle Doppelmoral und weit verbreitete Heuchelei unvermeidbar. Eng gefasste sexuelle Dogmen führen daher immer zu sozialem Konflikt und zu großem menschlichen Elend.


Wie oben bereits festgestellt, ist unsere westliche, jüdisch-christliche Kultur hinsichtlich der Sexualität immer besonders repressiv gewesen, und daher findet sich hier auch mehr sexuelle Heuchelei und mehr sexuelles Elend als in den meisten anderen Ländern der Erde. Unsere frommen Vorväter haben uns ein Vermächtnis der Intoleranz hinterlassen, das bis auf den heutigen Tag unser Leben vergiftet. Es war ihnen niemals genug, die Tugenden der Fortpflanzung zu preisen, sondern sie bedienten sich darüber hinaus der grausamsten Mittel, um alle Laster zu bestrafen, die der Fortpflanzung nicht dienten. Sexuelle Nonkonformisten, die man in anderen Gesellschaften ohne Probleme tolerierte oder sogar schätzte, wurden im alten Israel gesteinigt und im christlichen Europa gefoltert, verstümmelt, verbrannt, gehenkt oder lebendig begraben.


So wurden im heidnischen Griechenland männliche Homosexuelle als musterhafte Bürger betrachtet, während sie für die Gläubigen Jahwes und Jesu immer als Abschaum der Menschheit galten. Im Alten Testament wird für Geschlechtsverkehr unter Männern die Todesstrafe verlangt, ähnlich wie bei den getauften römischen Kaisern, den spanischen Inquisitoren, den englischen Monarchen und den amerikanischen Kolonialherren. Mit dem Rückgang des öffentlichen Einflusses der Religion erklärten Psychiater Homosexuelle für krank und machten sich daran, sie - häufig gegen ihren Willen -mit Schock- oder Aversionstherapien, mit Psychochirurgie und Kastration zu behandeln. Während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland ließ es das „gesunde Volksempfinden" zu, dass Homosexuelle in Konzentrationslager geschickt wurden, wo sie ein rosa Dreieck (den „Rosa Winkel") auf der Anstaltskleidung tragen mussten. Sie wurden zu Tausenden getötet, und nur wenige überlebten. Im Gegensatz zu den anderen Opfern der Nationalsozialisten haben Homosexuelle (und bis vor kurzem auch Sinti und Roma) niemals eine Wiedergutmachung erhalten. Homosexuelle blieben weiterhin geächtet und wurden sogar erneut ins Gefängnis gesteckt. In verschiedenen Ländern, auch in einigen Staaten der USA, werden Homosexuelle noch heute wie Schwerverbrecher behandelt, jahrelang ins Gefängnis gesperrt oder als „sexuelle Psychopathen" in Irrenhäuser eingewiesen. Selbst wenn sie nie wegen eines Vergehens verurteilt wurden, können Homosexuelle zum Beispiel nicht in die Vereinigten Staaten einwandern, sie können keine Bürgerrechte erwerben und nicht in die Armee eintreten. Darüber hinaus gibt es immer noch christliche Kirchen, die sich gegen eine Reform des Sexualstrafrechts wenden und die aktiv gegen die Gewährung von Bürgerrechten für Homosexuelle arbeiten.


Unmenschlichkeit dieser Art hat es immer gegeben und sie wird in vollem Bewusstsein von „ehrbaren" Menschen mit hohen Idealen weiterhin begangen. Sexuelle Unterdrückung, so grausam und ungerechtfertigt sie auch sein mag, hat immer eine „Begründung" gehabt. Diese kann vom einfachen religiösen Dogma bis zur pseudo-wissenschaftlichen Theorie reichen, aber ganz gleich wie sie aussieht, sie hat eine grundlegende Eigenschaft: Einer rationalen Auseinandersetzung ist sie nicht zugänglich. Selbst wenn sie keinerlei Sinn ergibt und viele Male widerlegt wurde, wird sie dennoch immer wiederholt. Ihre wirkliche Funktion ist schließlich nicht so sehr, Skeptiker zu überzeugen, als das Gewissen ihrer Verfechter zu beruhigen, eine Funktion, die sie stets bemerkenswert gut erfüllt. Um bei unserem Beispiel zu bleiben, kann man heute, neben den Zitaten aus der Bibel, oft die Behauptung von „Fachleuten" hören, Homosexuelle bedrohten irgendwie „das Überleben der Art" oder sie schadeten „der Institution der Ehe und Familie". Die Absurdität solcher Behauptungen verhindert nicht ihre Verbreitung. Man hat oft darauf hingewiesen, dass die islamischen und buddhistischen Gesellschaften Afrikas und Asiens, die sich Homosexualität gegenüber tolerant verhalten, ebenfalls für hohe Geburtenziffern bekannt sind, für beständige Ehen und stabile Familien. Jeder weiß, dass unsere Welt von Überbevölkerung bedroht ist. Der Institution der Ehe ist kaum damit gedient, wenn man sie Homosexuellen aufzwingt, die an ihr kein Interesse haben (ganz zu schweigen von der Ungerechtigkeit, die man den heterosexuellen Partnern damit antäte). Überdies hat es niemals vernünftige Argumente gegeben, warum Homosexuelle keine engen Beziehungen zu ihren Verwandten unterhalten und damit einen wertvollen Beitrag zum Familienleben leisten sollten. Aber all dies spielt für die Intoleranten keine Rolle. Da ihr Glaube nicht auf Einsicht beruht, kann Einsicht ihn auch nicht erschüttern. Wenn es also um sexuelle Unterdrückung dieser Art geht, haben wir es nicht mit sachlichen, wohlüberlegten Schlussfolgerungen, sondern einfach mit Vorurteilen zu tun.


Die Unterdrückung Homosexueller ist wahrscheinlich das eindrucksvollste und lehrreichste Beispiel, es ist aber natürlich nur eines unter vielen. Das „Fortpflanzungsvorurteil" in unserer Sexualmoral hat von jeher dazu geführt, dass Minderheiten unterdrückt wurden. Menschen mit besonderen sexuellen Interessen, Menschen in Anstalten, Behinderte und Invalide, alte Menschen, Kinder und Jugendliche, sogar Ehepaare, die Verhütungsmittel benutzten oder nicht-koitalen Geschlechtsverkehr praktizierten, wurden zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Ausmaß Opfer dieser Moral. Darüber hinaus hat die sexuelle Doppelmoral während Tausenden von Jahren das weibliche Geschlecht insgesamt diskriminiert. Wenn wir dies alles bedenken, stellen wir fest, dass die sexuell unterdrückten Gruppen in unserer Gesellschaft in der Tat die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung darstellen.


Diese Feststellung sollte uns zu ernsthafter Selbstprüfung Anlass geben. Sie wirft eine Vielzahl grundsätzlicher und sehr verwirrender Fragen auf. Zum Beispiel: Warum sollte eine Gesellschaft sexuelle Nonnen schaffen und aufrechterhalten, die mit Sicherheit von den meisten ihrer Mitglieder verletzt werden? Warum sollte also die Mehrheit einer Bevölkerung sich selbst unterdrücken? Oder, um ein realistisches Beispiel zu geben, warum braucht die Mehrheit der Bevölkerung der USA eine Sexualgesetzgebung, die praktisch jedermann hinter Gitter bringen würde, wenn man sie wirklich anwendete? Warum sollte sich ein ganzes Volk als Volk von Sexualverbrechern definieren wollen? Woher kommt unser verzweifeltes Bedürfnis nach sexuellen Schuldgefühlen? Was steckt hinter diesem allgemeinen Bedürfnis nach Strafe?


Wenn solche Fragen gestellt werden, sind die üblichen „Experten" mit vorgefertigten Antworten sogleich zur Stelle. Die religiösen Dogmatiker sprechen schlicht von „Erbsünde", und da dies eine reine Glaubensfrage ist, gibt es darüber keine Debatten. Die weltliche Version dieser Ansicht wird manchmal von Menschen geäußert, die von der angeboren perversen, destruktiven und aggressiven „Natur des Menschen" sprechen. Sexuelle Unterdrückung und Selbstunterdrückung wären dann nichts anderes als der Ausdruck allgemein-menschlicher Neigungen, bedauernswert vielleicht, aber kaum vermeidbar. Diese Hypothese kann jedoch keinesfalls erklären, warum viele andere Gesellschaften so viel toleranter sind. An diesem Punkt wird oft eine dritte Erklärung gegeben, die besagt, dass alle sexuellen Probleme Ausdruck unseres politischen und ökonomischen Systems seien. Kapitalismus, so lautet das Argument, produziert ganz von sich aus und unvermeidlich sexuelle Unterdrückung. Die Abschaffung des Kapitalismus bedeutet also auch sexuelle Befreiung. Diese naive Vorstellung wird allerdings von der anhaltenden und sogar zunehmenden sexuellen Intoleranz in den kommunistischen Ländern widerlegt, von Albanien bis Kuba, von der Sowjetunion bis zur Volksrepublik China. Die bloße Tatsache, dass die Produktionsmittel von der Regierung kontrolliert werden, bedeutet also noch keine sexuelle Freiheit. Die soziale Befreiung der Arbeiterklasse und ihre fortdauernde sexuelle Unterdrückung können sehr wohl Hand in Hand gehen.


Das letzte Beispiel zeigt auch einmal mehr, dass sexuelle Intoleranz sich nicht notwendig auf göttliche Offenbarungen berufen muss. Religiöse Anschauungen als Ursache sexueller Unterdrückung zu bezeichnen, führt daher nicht sehr weit. Es bleibt dann jedoch nach wie vor zu erklären, warum einige Religionen in sexuellen Dingen repressiv sind und andere nicht. Selbst die Bibel enthält genügend Argumente für eine tolerantere Einstellung, und diese Argumente werden auch von liberalen Juden und Christen häufig vorgebracht. Trotzdem werden weit und breit die positiven Äußerungen der Bibel zur Sexualität verleugnet, während die negativen betont werden. Die Mosaischen Ernährungsvorschriften werden heute weitgehend als veraltet betrachtet, ähnlich wie einige mosaische Sexualgesetze. Andere werden jedoch heftig verteidigt, obwohl sie ebenso archaisch sind. Der tiefere Grund für diese Auswahl ist wie eh und je ein Rätsel.


Unter diesen Umständen bleibt kaum eine andere Wahl, als auf neue Forschungsergebnisse zu warten. Wir müssen aber die Ursachen sexueller Unterdrückung auch nicht wirklich verstehen, um sie zu missbilligen und sie zu bekämpfen. Ihre schlimmen Folgen sind schon zu lange offensichtlich. Es war auch immer eher die Beobachtung solcher Folgen als irgendeine radikale Veranlagung, die aufgeklärte Menschen veranlasste, sexuelle Toleranz zu fordern. Zu Beginn dieses Kapitels haben wir einen Philosophen des 18. Jahrhunderts zitiert und die Gründer der Vereinigten Staaten erwähnt, Sie stehen stellvertretend für eine freiheitliche Tradition in unserer Geschichte, die uns noch heute die Mittel für unsere eigene Emanzipation bietet. Die Urheber der Verfassung der Vereinigten Staaten wussten um die Gefahr religiöser und politischer Tyrannei, und sie waren daher bemüht, die Rechte von Andersdenkenden und Andershandelnden zu schützen. Seit damals sind diese Rechte weiter gestärkt und geschützt worden, In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Schutz von Minderheiten auch auf das Gebiet der Sexualität ausgedehnt. Die sexuellen Rechte sind zwar in vielen Bundesstaaten der USA noch relativ begrenzt, sie bieten jedoch eine Basis, auf die andere Rechte gegründet werden können. Auf jeden Fall besteht die Forderung nach mehr sexueller Freiheit weiter und sie wird zunehmend dringender. Selbst wenn die Gesetzgeber vorübergehend versuchen sollten, diesen Prozess aufzuhalten, so werden sie am Ende doch nachgeben müssen, wenn sie die Prinzipien erhalten wollen, denen sie ihre Existenz verdanken. Demokratische Regierungen brauchen autonome Bürger, und wenn es absurd ist, diesen Bürgern ihre Meinungsfreiheit zu versagen, dann ist es ebenso absurd, ihnen das Recht auf Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper abzusprechen.


 
Die Freuden des Bades

Öffentliche Bäder waren seit jeher in vielen Kulturen sehr beliebt. In der Vergangenheit badeten Männer und Frauen meist gemeinsam und genossen dies auch als erotisches Erlebnis. Im europäischen Mittelalter waren Badehäuser sogar oft Bordelle, und auch ohne dies boten sie Möglichkeiten zur sexuellen Begegnung, Mit dem Ende der Renaissance führte jedoch eine zunehmende Prüderie und sexuelle Unterdrückung in Europa und Nordamerika zum Verbot des öffentlichen gemeinsamen Bades,


Zeichnung aus dem 14. Jahrhundert, die die Freuden des sexuell gemischten Bades darstellt. Links sieht man drei Paare im Garten, hinter dem offenen Fenster sitzen zwei Männer und eine Frau in einem gemeinsamen Zuber, eine zweite Frau kommt gerade dazu. Andere Gäste haben sich bereits in bequeme Privaträume in der oberen Etage zurückgezogen.


Kupferstich aus dem 16. Jahrhundert, der eine Szene in einem öffentlichen Bad darstellt. Der Mann am Fenster links wird von einem Barbier rasiert, zu seinen Füßen ruht sich eine Familie mit Kindern aus. Die Frau in der Mitte des Bildes steigt über ein sich umarmendes Paar, der Mann hinter ihnen umwirbt eine Frau, und im Hintergrund ziehen sich verschiedene Männer und Frauen in Privaträume der oberen Etage zurück.


Ein Freibad des 16. Jahrhunderts, in dem verschiedene Paare beim Essen, Trinken, Musizieren und bei verschiedenen Formen des Liebesspiels zu sehen sind, besonders zu beachten ist das ungehemmte Verhalten des Paares unten rechts, das in einem Notenbuch liest.


Japanischer Holzschnitt aus dem 19. Jahrhundert, der ein öffentliches Bad darstellt. Der Mann links bewundert die körperlichen Reize einer Frau, im Vordergrund sieht man ein Paar in liebender Umarmung.





Im Laufe der letzten Jahre haben verschiedene sexuelle Minderheiten ihre Forderung nach bestimmten Rechten artikuliert und die Mehrheit dazu herausgefordert, Vorurteile zu überwinden. Solche Dokumente enthalten viele Einzelforderungen; gerade dadurch machen sie aber auch das Ausmaß der sexuellen Unterdrückung in unserer Gesellschaft deutlich. Diejenigen, die beruflich mit sexuellen Problemen umzugehen haben, fühlten sich in den USA schließlich verpflichtet, diese Gedanken in einer allgemeinen Erklärung zusammenzufassen. Auf die Initiative des Sexualwissenschaftlers Kirkendall hat vor einigen Jahren eine Reihe prominenter Sexualwissenschaftler eine „neue Erklärung über sexuelle Rechte und Pflichten" unterzeichnet. In dieser Erklärung wird unter anderem verlangt, dass das „Fortpflanzungsvorurteil" beseitigt wird. Sie bestätigt auch das Recht der Menschen auf freie sexuelle Entfaltung, solange sie damit anderen nicht schaden oder deren Rechte verletzten. Das heißt, es wird in dieser Erklärung die gleiche Freiheit im Hinblick auf die Sexualität gefordert, die wir heute für Rede, Religion und Presse für selbstverständlich erachten.


Natürlich besteht gegen die sexuelle Befreiung noch immer erheblicher Widerstand. Autoritäre Politiker, konservative Richter, orthodoxe Psychiater, konservative Bürger und puritanische Kirchen behaupten, dass jede Lockerung der sexuellen Normen zu moralischem Verfall und am Ende zum Niedergang unserer Zivilisation führen würde. Diese Behauptung wird in der Regel mit dem Beispiel des Untergangs des Römischen Reiches untermauert. Kein kompetenter Historiker nimmt jedoch diese Argumente ernst, da sie nicht zu beweisen sind. Es gibt zum Beispiel keinerlei Statistiken, die eine Änderung des Sexualverhaltens vom frühen Rom bis in die späte Kaiserzeit belegen könnten. Das wenige, das wir wissen, zeigt keine entscheidenden Veränderungen zwischen der Regentschaft Neros (1. Jahrhundert n. Chr.) bis zu der Constantins (5. Jahrhundert n. Chr.). Auf alle Fälle fiel Rom erst unter Romulus Augustulus (5. Jahrhundert n. Chr.), also mehr als 100 Jahre nachdem das Christentum zur Staatsreligion erklärt und seine asketische Sexuallehre übernommen worden war. Die siegreichen heidnischen Barbaren waren andererseits sexuell sehr viel weniger gehemmt. Sicher waren das klassische Griechenland, Italien in der Renaissance und das Elisabethanische England relativ „freizügig", gemessen an anderen, weniger glanzvollen Zivilisationen. Daher darf wohl bezweifelt werden, dass sexuelle Unterdrückung jemals irgend jemandem zuträglich war. Sie war vielmehr oftmals das Kennzeichen steriler und repressiver Gesellschaften, wie etwa des Stalinistischen Russlands oder des nationalsozialistischen Deutschlands. Länder, die sich der individuellen Freiheit verschrieben haben, werden kaum den rechten Weg verfehlen. Früher oder später werden sie erkennen, dass Freiheit zur hohlen Phrase wird wenn sie sich nicht auch auf das Sexuelle erstreckt.


Symbole der sexuellen Unterdrückung


Obwohl sexuelle Unterdrückung sich meist durch äußerliche Zwänge ausdrückt, führt sie oft auch zu inneren Ängsten und Hemmungen. So werden Menschen oft zu ihren eigenen Unterdrückern. Ein Beispiel hierfür sind die sogenannten „Keuschheitsgürtel", die von manchen Männern des späten Mittelalters ihren Frauen angelegt wurden, um einen Ehebruch zu verhindern. Diese Sitte, die bis ins 19. Jahrhundert anhielt, verdeutlicht, wie sehr Frauen als Besitz der Männer betrachtet wurden, die das Recht hatten, sie „unter Verschluss" zu halten. Das Bild zeigt einen Keuschheitsgürtel, der 1885 in Würzburg gefunden wurde.
Ähnliche Konstruktionen gab es auch für Männer. Sie wurden vor allem im 19. Jahrhundert Jungen angelegt, um sie an der Masturbation zu hindern und so dem „Masturbationswahnsinn" vorzubeugen. Lange Zeit wurden solche und andere absurde psychiatrische Theorien zur Rechtfertigung sexueller Unterdrückung herangezogen.

 

 

In den folgenden Kapiteln werden die Probleme verschiedener sexuell unterdrückter Gruppen in unserer Gesellschaft beschrieben. Man kann natürlich auch Frauen unter die sexuell Unterdrückten rechnen. Da sie jedoch mehr als die Hälfte aller Menschen ausmachen und ihre Unterdrückung einer eingehenderen Analyse bedarf, wurde dieses Thema im Kapitel 9 „Die sozialen Rollen von Mann und Frau" diskutiert. Schließlich sollte noch darauf hingewiesen werden, dass viele Menschen mehr als einer unterdrückten Gruppe zugeordnet werden können. Dazu gehören zum Beispiel körperbehinderte Jugendliche, Gefangene mit besonderen sexuellen Neigungen oder alternde Homosexuelle, die in Anstalten leben müssen. In jedem dieser Fälle ist die sexuelle Unterdrückung um so gravierender.


 

[Titelseite] [Inhalt] [Vorwort z. dt. Ausgabe] [Vorwort z. 2. Auflage] [Der menschl. Körper] [Das Sexualverhalten] [Sexualität & Gesellsch.] [Die sozialen Rollen] [Anpassung] [Ehe und Familie] [Sexuell Unterdrückte] ["Sexuelle Revolution"] [Anhang (Akt. Themen)] [Bildnachweis]