Ehe und Familie

11. Ehe und Familie


Heute wie eh und je warten die meisten jungen Menschen auf den Zeitpunkt, an dem sie „heiraten und eine Familie gründen" können. Sie suchen deshalb nach einer Person des anderen Geschlechts, mit der sie ein Leben lang glücklich sein können und mit der sie die Freuden der Elternschaft im eigenen Haus oder in einer eigenen Wohnung teilen.


All diese Erwartungen scheinen so natürlich und selbstverständlich, dass man kaum glauben kann, junge Menschen zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen hätten ganz anders empfunden. Von Historikern und Anthropologen wissen wir jedoch, dass die heutigen Formen der Ehe und Familie relativ neu und keineswegs allgemeingültig sind. In einigen nicht-westlichen Gesellschaften können Menschen einen Partner gleichen Geschlechts oder mehrere Partner des anderen Geschlechts heiraten. Die Ehe muss nicht unbedingt mit Glück, Liebe, Geschlechtsverkehr oder Fortpflanzung gleichgesetzt werden, sie braucht nicht zur Gründung eines gemeinsamen Haushalts zu führen, und sie kann durchaus von Anfang an als zeitlich begrenzte Übereinkunft geplant sein.


So bestand auch in manchen Gesellschaften der Vergangenheit die Familie nicht nur aus Eltern und Kindern, sondern schloss nahe und entferntere Verwandte, Diener, Freunde und Gäste ein. Andererseits wurde manchmal der leibliche Vater oder die leibliche Mutter der Kinder aus dem Familienverband ausgeschlossen und blieb ein unbeachteter „Außenseiter". In manchen Fällen waren die „offiziellen" Eheleute selbst noch Kinder und jünger als ihre gesetzlichen Nachkommen.


Solche Beobachtungen machen deutlich, dass es wenig sinnvoll ist, über Ehe und Familie so allgemein zu sprechen, als hätten diese Begriffe für alle die gleiche Bedeutung. Es gibt einfach zu viele Formen der Ehe und Familie auf der Welt. Es gibt so viele Ausnahmen, dass man keine allgemeine Regel aufstellen kann. Ehe und Familie sind tatsächlich sehr schwer zu definieren und noch schwerer zu erklären.


Wissenschaftler haben dies dennoch oft versucht, indem sie auf einige offensichtliche Funktionen von Ehe und Familie hinwiesen. Es ist schließlich eine biologische Tatsache, dass durch Geschlechtsverkehr zwischen Männern und Frauen Kinder gezeugt werden können, und dass diese Kinder Fürsorge und Schutz durch Erwachsene brauchen, bevor sie „auf eigenen Füßen stehen" können. Daher schloss man, dass Ehe und Familie, in welcher Form auch immer, natürliche und unverzichtbare Institutionen seien, die dafür Sorge tragen, dass Kinder angemessen erzogen werden und so das Überleben der Menschen gewährleistet wird. Es zeigte sich überdies, dass Ehe und Familie daneben weitere wichtige Funktionen haben, wie die der sexuellen Befriedigung, der Partnerschaft und der ökonomischen Sicherung der Familienmitglieder. Man fand auch, dass die beiden Institutionen für die Gesellschaft insgesamt günstig seien, da die Ehe das menschliche Sexualverhalten regelt und beschränkt, das anderenfalls promisk und sittenlos werden könnte. Außerdem sah man im stabilen Familienleben häufig die beste Garantie für sozialen Frieden.


Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass all diese hohen Ziele durchaus auch ohne Ehe und Familie erreicht werden können. Kinder sind nicht unbedingt von ihren Eltern abhängig, sie können ebenso von anderen Erwachsenen in Krippen, Horten, Schulen und ähnlichen Einrichtungen erzogen werden. Partnerschaft und sexuelle Befriedigung kann man auch außerhalb der Ehe finden, eine ökonomische Sicherung kann in vielerlei Weise erreicht werden. Das Sexualverhalten lässt sich durch religiöse und weltliche Vorschriften regulieren. Der soziale Frieden schließlich kann auch in einer Gesellschaft gewährleistet werden, die die Familie als Institution nicht anerkennt und jeden einer direkten autoritären Kontrolle unterstellt.


Demgegenüber hat die Institution Ehe, wie bereits angedeutet, in einigen Gegenden der Welt so merkwürdige Formen angenommen, dass moderne westliche Beobachter lange ihren Sinn nicht verstanden. Zum Beispiel wird die Annahme, die Ehe gewährleiste immer das Erziehen der Kinder durch ihre Eltern, in bestimmten Gesellschaften dadurch widerlegt, dass die „Vaterschaft" nach sehr seltsamen Regeln bestimmt wird. Bei den biblischen Israeliten zum Beispiel, die das Levirat praktizierten (das heißt die Verpflichtung des Mannes, die Witwe seines Bruders zu heiraten), wurde der verstorbene Ehemann Vater auch derjenigen Kinder, die die Witwe von seinem Bruder empfangen hatte. Bei den Nayar in Südindien wurden junge Mädchen für kurze Zeit mit einem Mann verheiratet, der nie Gelegenheit bekam, mit ihr Geschlechtsverkehr auszuüben, der aber dennoch der legitime Vater all ihrer Kinder wurde. Unter den Nuer im südlichen Sudan konnte eine Frau eine andere Frau heiraten und „Vater" der Kinder werden, die diese Frau von einem außenstehenden Mann empfing. Die Vorstellung, dass Geschlechtsverkehr Grundlage oder Ziel der Ehe sei, verliert an Überzeugungskraft, wenn man sich das Beispiel der Mojave-Indianer vor Augen führt, bei denen es erwachsenen Männern gestattet war, Mädchen zu heiraten, die noch im Kindesalter standen. Oder, um ein letztes Bespiel zu geben, bei den sibirischen Tschuktschen musste eine Frau den Mann, von dem sie schwanger geworden war, nicht heiraten, sondern sie heiratete möglicherweise einen kleinen Jungen im Alter ihres eigenen Kindes. Das konnte dazu führen, dass sie beide gemeinsam stillte.


Sucht man nach einer Erklärung für all diese Bräuche, findet man schließlich trotz aller Verschiedenheit einen gemeinsamen Nenner: den ökonomischen Faktor. Das bedeutet, dass in allen hier beschriebenen Fällen die Ehe nur wenig mit biologischer Elternschaft oder sexueller Partnerschaft zu tun hat, sondern es geht hier um soziale Legitimität, offizielle Familienzugehörigkeit, Besitz- und Erbschaftsrechte. Sie ist in vielen Fällen eine Methode zur ordnungsgemäßen Übertragung und Aufrechterhaltung von Besitztum und Stand. Die besondere Form der Ehe hängt von der jeweiligen politischen Organisation der entsprechenden Gesellschaft ab. Diese Beobachtung veranlasste nun ihrerseits manche Wissenschaftler, den Ursprung und die „wirkliche" Basis der Ehe als ökonomisches Phänomen zu beschreiben. Friedrich Engels' Untersuchung „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" ist wohl das bekannteste Beispiel eines solchen Ansatzes.


Obwohl ökonomische Faktoren zweifellos eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Ehe und Familie gespielt haben, sind sie keine hinreichende Erklärung für deren Existenz. Sollten rein ökonomische Gesichtspunkte ausschlaggebend gewesen sein, wäre gleichgeschlechtliche Ehe inzwischen sicher sehr viel verbreiteter. Die Partner waren aber nahezu in allen Fällen verschiedenen Geschlechts. Ein weiterer Punkt sollte noch hervorgehoben werden: Während es in der Ehe meist zur Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen kommt, kann man nicht mit Gewissheit vorhersagen, wie sich dies in der Praxis darstellen wird. Was in der einen Gesellschaft als „Männerarbeit" bezeichnet wird, ist in einer anderen „Frauenarbeit". Es trifft auch nicht zu, dass alle Ehefrauen und Mütter ihr Leben als Hausfrauen mit der Versorgung der Kinder verbringen und alle Ehemänner außerhalb als „Ernährer" ihrer Familie arbeiten. Ethnologen haben in jüngerer Zeit Kulturen entdeckt, bei denen diese Rollen umgekehrt übernommen wurden.


Wir sehen uns also vor der Notwendigkeit, nach weiteren Erklärungen zu suchen. Wissenschaftler haben daher den Vorschlag gemacht, über eine Analyse der Beziehungen der Eheleute untereinander und zwischen Eltern und Kindern hinauszugehen. Es scheint in der Ehe um mehr zu gehen als nur hierum. Es scheint im Gegenteil, dass solche individuellen Aspekte der Frage unwesentlich sind. Der französische Anthropologe Levi-Strauss zitiert ein interessantes Beispiel von den Eingeborenen Neu-Guineas, die behaupten, dass „es nicht so sehr der Zweck der Ehe ist, eine Frau, sondern einen Schwager zu gewinnen". Entsprechend beschreibt Levi-Strauss Ehemann und Ehefrau als Objekte in einem größeren gesellschaftlichen Spiel, das von beiden Herkunftsfamilien gespielt wird, weil sie durch eine Eheschließung beide neue Verwandte bekommen. Das bedeutet, dass wir es eigentlich mit einem Paradoxon zu tun haben: Zwar trifft es zu, dass durch Ehen Familien entstehen, es ist aber auch umgekehrt wahr, dass durch Familien Ehen entstehen, die so neue Verbindungen schaffen. Solche wachsenden Verbände sind die Voraussetzung jeder Zivilisation. Sozialer Fortschritt wäre unmöglich gewesen, wenn die Menschen nicht einen Weg gefunden hätten, sich systematisch mit anderen Menschen zu verbinden, mit denen sie in keiner unmittelbaren Blutsverwandtschaft stehen. Das Inzesttabu gewährleistete, dass jeder außerhalb seiner eigenen Familie zu heiraten hatte. So wurden Familien zu größeren Gruppen verbunden, und der Fortschritt der menschlichen Rasse war sichergestellt.


Levi-Strauss' Begründung des Inzesttabus ist nicht allgemein anerkannt. Seine Schlussfolgerung über die Rolle der Familie in der Gesellschaft ist demgegenüber unbestritten: Die Kleinfamilie von Eltern und Kindern ist nicht der natürliche elementare Baustein der Gesellschaft, wie so oft gedankenlos angenommen wird. Die Gesellschaft besteht in der Tat weder aus Familien noch aus Einzelpersonen. Das früher übliche Modell der Gesellschaft oder Nation, die aus Menschen oder Menschengruppen besteht, ist falsch. Gesellschaften, Staaten oder Nationen bestehen nicht aus Personen, sondern aus Beziehungen, und diese Beziehungen sind nicht durch einfaches Addieren begreiflich zu machen. Was die Familie betrifft, so ist die Beziehung ihrer Mitglieder zum Rest der Gesellschaft keineswegs statisch. Familien sind notwendig, das heißt aber nicht, dass sie auch dauerhaft sein müssen. Im Gegenteil, die Gesellschaft kann einzig und allein dadurch überleben, dass ständig Familien neu entstehen, auseinanderbrechen und durch neue Eheschließungen wieder neue Familien entstehen. Erwachsene leben mit Kindern in einem zeitlich begrenzten Familienverband, um diese dann für eine neue Ehe freizugeben, die nun ihrerseits eine Familieneinheit gründet usw. So bricht jede Eheschließung die Familien des Bräutigams und der Braut auf, bildet einen neuen Bund zwischen beiden und legt damit die Grundlage für eine dritte, neue Familie. Der Sinn des ganzen liegt in der fortgesetzten Neuordnung und dem fortgesetzten Austausch sozialer Verpflichtungen. Levi-Strauss fasst dies mit einem Zitat aus der Bibel zusammen: „'Du wirst Vater und Mutter verlassen' bildet das eherne Gesetz für das Bestehen und Funktionieren jeder Gesellschaft."


Interessanterweise haben viele frühere und heutige Denker gefordert, dieses „eherne Gesetz" noch strikter anzuwenden als von Levi-Strauss vorgeschlagen. In der Geschichte haben große Utopisten von Plato bis K'ang Ju-wei immer wieder die Abschaffung von Ehe und Familie gefordert. Kinder sollten deshalb am Tage ihrer Geburt den Eltern weggenommen werden. In seiner „Politeia" empfiehlt Plato den Männern, Frauen und Kinder in Gemeinschaft zu besitzen, so dass „die Eltern nicht wissen, welches ihre eigenen Kinder, die Kinder nicht, welches ihre eigenen Eltern sind". So würden die Gefühle für die Familie auf die ganze Gemeinschaft übertragen. K'ang Ju-wei schreibt in seinem „Buch der großen Gleichheit" (1935), Kinder sollten in öffentlichen Einrichtungen erzogen werden, weil die Familien ein Hindernis für die „Vervollkommnung der menschlichen Natur" seien. Ähnliche Äußerungen wurden auch von religiösen Führern gemacht. Es ist bemerkenswert, wie viele Weltverbesserer sich in ihren Bemühungen durch Ehegemeinschaften und Familienverbände behindert sahen. So können wir der Bibel entnehmen, dass selbst Jesus Ehe und Familie als sozialen Institutionen gleichgültig gegenüberstand. Er zog obdachlos durch das Land, blieb ledig, verließ seine eigenen Verwandten und schenkte ihnen keine besondere Beachtung (Matthäus 12, 46-50). Die jungen Männer, die ihm folgen wollten, mussten ihre Familien verlassen und sich ganz der heiligen Sache widmen. Er riet sogar einem von ihnen, keine Zeit mit dem Begräbnis des Vaters zu verlieren, sondern sagte ihm, er solle „hingehen und das Reich Gottes verkünden" (Lukas 9,59-60). Die frühen Christen maßen deshalb familiären Beziehungen keine besondere Bedeutung zu. Das Konzept einer engen „christlichen Familie" oder das idyllische Vorbild von der „Heiligen Familie" in Nazareth sind Produkte späterer historischer Perioden.


Es besteht natürlich kein Zweifel, dass die Familie einen einzelnen unterdrücken, seinen Ehrgeiz bremsen, Initiativen im Keim ersticken, die persönliche Entwicklung hemmen oder das Erreichen bestimmter Ideale vereiteln kann. Gelegentlich kann eine Familie geradezu destruktiv sein. Es ist auch richtig, dass feste Familienverbände unter Umständen fortgesetzter Ungerechtigkeit Vorschub leisten. Die Familie ist eine konservative Institution und sie dient in der Regel der vorherrschenden sozialen Ordnung, wie immer diese auch gerade beschaffen sein mag. Aus diesem Grunde verlieren Revolutionäre, Reformer und soziale Utopisten oft die Geduld mit ihr. Familiäre Bindungen haben es an sich, soziale Veränderungen zu blockieren, selbst wenn sie zum besten aller Beteiligten geplant sind.


Andererseits beeinflussen größere soziale Veränderungen früher oder später auch die Familie. Diese Tatsache wird in unserer Gesellschaft am deutlichsten durch die „Krise", in der sich angeblich Ehe und Familie zur Zeit befinden. Es wird häufig gesagt, die technischen und politischen Veränderungen der jüngsten Zeit hätten zum „Zusammenbruch" der Familie geführt, dies wiederum werde schließlich im Zusammenbruch der Gesellschaft selbst enden. Solche Prophezeiungen müssen sich indes nicht bewahrheiten, sie gehen unter Umständen auch von falschen Voraussetzungen aus. Wie bereits erwähnt, stehen Familie und Gesellschaft in keinem starren Verhältnis zueinander, sondern befinden sich immer in einem Zustand dynamischer Spannung, fast in einer Konfrontation, in einem Zustand kreativen Gleichgewichts, das einer regelmäßigen Korrektur bedarf. So ist es möglich, dass wir gegenwärtig nur eine Phase durchleben, in der die Anforderungen der Familie und der Gesellschaft in ein neues Gleichgewicht gezwungen werden.


Die folgenden Kapitel sind einer eingehenderen Untersuchung dieses Themas gewidmet. Zum besseren Verständnis werden Ehe und Familie in zwei getrennten Abschnitten behandelt. Beide Abschnitte enthalten jedoch historische Überlegungen und Vergleiche verschiedener Kulturen. Auch zukünftige Möglichkeiten werden aufgezeigt.


 

[Titelseite] [Inhalt] [Vorwort z. dt. Ausgabe] [Vorwort z. 2. Auflage] [Der menschl. Körper] [Das Sexualverhalten] [Sexualität & Gesellsch.] [Die sozialen Rollen] [Anpassung] [Ehe und Familie] [Sexuell Unterdrückte] ["Sexuelle Revolution"] [Anhang (Akt. Themen)] [Bildnachweis]