Kinder und Jugendliche

12.1 Kinder und Jugendliche


Kinder sind von Geburt an sexuelle Wesen. Säuglinge beiderlei Geschlechts sind zu sexuellen Grundreaktionen fähig und können Lust empfinden. Ihre Sexualität ist zunächst eher ungerichtet, erst mit zunehmendem Alter wird ihr Ziel konkreter. Kinder können schon sehr früh zu masturbieren beginnen und lernen, sexuellen Kontakt zu verschiedenen Partnern angenehm zu finden. Wo sexuelle Spiele bei Kindern nicht gehemmt werden, dauern sie an, bis die Pubertät eine erhebliche und ziemlich plötzliche Intensivierung des sexuellen Interesses mit sich bringt. Heranwachsende Jugendliche haben ein großes sexuelles Reaktionsvermögen, wenngleich in unserer Kultur diese Reaktionsfähigkeit bei Jungen früher auftritt und ausgeprägter ist als bei Mädchen.


In unserer modernen Gesellschaft haben Jugendliche jedoch meist kein Recht auf sexuelle Befriedigung. In den letzten Jahrhunderten sind Kindheit und später auch Jugend als besonders schutzwürdige Lebensabschnitte definiert worden, in denen sexuelle Handlungen entweder als „unnatürlich" oder als gefährlich angesehen werden. Sehr viele Menschen in Europa und Nordamerika bleiben so sexuell frustriert, bis sie heiraten können, d.h. meist über das Alter von 20 Jahren hinaus. Schlimmer noch: sie werden systematisch ihrem eigenen Körper entfremdet und zu strengen puritanischen Verhaltensformen erzogen, die sie in ihrem emotionalen Reifungsprozess behindern. Daher werden viele von ihnen gefühlskalt und intolerant und schließlich zu sexuellen Konformisten. Ihre erotischen Fähigkeiten bleiben unterentwickelt und unkultiviert. Diese negative Lernerfahrung beginnt bereits im Säuglingsalter, wo Mütter ihren Kindern eine besonders intime Kommunikation versagen, indem sie ihnen die Flasche geben oder indem sie, wenn sie stillen, jedes lustvolle Gefühl unterdrücken. Mit diesem Entzug fahren sie fort, indem sie ihre Kinder in Windeln wickeln, in Kleidung und Decken, statt ihnen Hautkontakt oder gelegentliches Nacktsein zu ermöglichen. Dieser Schaden wird durch strenge Sauberkeitsvorschriften, das Vorenthalten sexueller Information, die Bestrafung für Masturbation und das Verhindern forschender sexueller Spiele mit anderen Kindern noch verschlimmert. Solche direkten und indirekten Zwänge können dazu führen, dass alle sexuellen Interessen und Erfahrungen durch das Kind verdrängt werden. Das führt zum Verlust wichtiger Schlüsselerlebnisse und erzeugt einen langen Zeitabschnitt sexueller „Latenz". (Psychoanalytiker führen diese Entwicklung auf den „ödipalen Konflikt" zurück.) Die Pubertät erscheint diesen Jugendlichen dann als unerwartete und unliebsame Zeit der Prüfung. Das plötzliche Einsetzen der Menstruation bei Mädchen, häufigere Erektionen und die erste Ejakulation bei Jungen werden möglicherweise als Krankheitssymptome missdeutet. So kann der Mangel an sexuellem Wissen Angst und Verwirrung erzeugen. Selbst wenn genügend theoretisches Wissen vorhanden ist, bleibt ein grundlegendes Problem ungelöst: Die steigenden sexuellen Fähigkeiten Jugendlicher können nicht erprobt werden. Moderne Jugendliche werden natürlich über die „Dinge des Lebens" aufgeklärt; gleichzeitig belehrt man sie aber darüber, dass regelmäßiger Geschlechtsverkehr für sie nicht in Frage kommt. So sehen sich Jugendliche auf Masturbation und verschiedene Formen des „petting" beschränkt, aber selbst diese Praktiken werden nicht als erstrebenswert betrachtet und manchmal sogar als sündig, ungesund oder unreif missbilligt.
 

 


Ungehemmte Kinder


Europäer und Nordamerikaner schreiben heute oft Sigmund Freud das Verdienst zu, die erotischen Fähigkeiten kleiner Kinder entdeckt zu haben. In nicht-westlichen Kulturen und vor Beginn des 19. Jahrhunderts hatte man jedoch solche Fähigkeiten immer als selbstverständlich angenommen.


Europäische Maler der Renaissance malten oft kleine Kinder beim Kuss oder in zärtlicher Umarmung. Das Gemälde von Jos van Cleve (1464-1540) zeigt Jesus und Johannes den Täufer als Kinder.


Ein Junge und ein Mädchen versuchen den Koitus. Rollenmalerei des japanischen Künstlers Maruyama Okyo (18. Jahrhundert).

 



Das alles hat für das emotionale und moralische Klima in unserer Gesellschaft ernste Folgen. Immerhin sind etwa 40 Prozent der Bevölkerung geschlechtsreif und unverheiratet. Da unsere offizielle Moral ihren sexuellen Bedürfnissen nicht Rechnung trägt, entsteht so unter uns ein Höchstmaß an Unzufriedenheit, Feindseligkeit und manchmal sogar Gewalt. Bei vielen jungen Menschen führt das zu offener Rebellion und zum „Aussteigen" aus dem etablierten System. Diejenigen, die sich anpassen, bleiben oft ein Leben lang gestört. Sie können vor einer Eheschließung nicht glücklich sein, danach sind sie enttäuscht. Der Grund hierfür liegt ganz einfach darin, dass sie keine erotische Kompetenz erwerben können. Unsere Kinder und Jugendlichen lernen es einfach nicht, Liebhaber zu werden, zärtlich zu sein, körperliche Lust zu geben und zu empfangen, zufriedenstellende sexuelle Beziehungen aufzubauen und zu erhalten. Statt dessen werden sie mit einem erheblichen Maß sexueller Scham- und Schuldgefühle erzogen, bis dann eine zauberhafte Hochzeitsfeier sie irgendwie in hingebungsvolle, sinnliche und zufriedene Ehemänner und Ehefrauen verwandeln soll. Im täglichen Leben sind derlei Wunder allerdings selten. Unsere sexuellen Normen für Jugendliche sind daher nicht nur absurd, sondern inhuman und destruktiv.


Viele nicht-westliche Kulturen haben bewiesen, dass diese Art sexueller Unterdrückung überflüssig ist. In den Gesellschaften mancher amerikanischer Indianerstämme und der Polynesier wurden Kindern sexuelle Spiele erlaubt, manchmal wurden sie ausdrücklich befürwortet. Bei den Muria in Zentralindien wurde eigens zu diesem Zweck ein besonderes Haus gebaut, das Ghotul, in dem Kinder beiderlei Geschlechts die Nächte zusammen verbrachten. (Ähnliche Bräuche sind von den Einwohnern der Trobriand-Inseln und den Massai in Afrika bekannt.) Kinder übernachteten in der Regel vom sechsten oder siebten Lebensjahr an im Ghotul, zu dem die Eltern keinen Zutritt hatten. Innerhalb des Hauses waren die Kinder also weitgehend auf sich selbst gestellt. Die älteren Kinder ermunterten die jüngeren zu sexueller Aktivität und unterwiesen sie in allen sexuellen Praktiken. Regelmäßiger und häufiger Geschlechtsverkehr war so wesentlicher Bestandteil der Kindheit und bildete den wichtigsten Aspekt des Lebens im Ghotul. So waren die Kinder der Muria freundlich, herzlich, wohlerzogen, selbstbewusst und kooperativ. Als Erwachsene führten sie monogame, stabile und glückliche Ehen. Erst in neuerer Zeit, mit der Einführung der Schulpflicht in Schulen der Regierung, wurde dieser alte Brauch verlassen. Die „neuen" Kinder der Muria scheinen nun allerdings genauso ängstlich und gehemmt zu sein wie ihresgleichen in der übrigen modernen Welt.


So hat die „Verwestlichung" der Welt neben deutlichen Verbesserungen auch viel sexuelles Elend über bis dahin sexuell zufriedene Völker gebracht. Wie bereits oben erwähnt, sind heute viele Länder der Dritten Welt puritanischer als die christlichen Kolonialherren. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte besagt so auch nichts über sexuelle Rechte. Sie werden auch in der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1959 nicht erwähnt. In diesen zehn Grundprinzipien wird das Recht auf Namen, Nationalität, Nahrung, Wohnung, ärztliche Betreuung und Schulpflicht (!) festgelegt, es wird jedoch mit keiner Silbe ein Recht auf sexuelle Aufklärung, sexuelle Handlungen und die Freiheit von sexuellen Rollenklischees erwähnt. Das Dokument stellt lediglich fest, dass „ein Kind . . . Liebe und Verständnis braucht" und dass es „wo möglich, im Schutze seiner Eltern aufwachsen sollte" (Grundsatz Nr. 6). Leider besteht gegenwärtig wenig Hoffnung, dass diese Erklärung in nächster Zeit ergänzt werden wird.


In den westlichen Ländern, denen am Prinzip der individuellen Freiheit gelegen ist, besteht allerdings eine zunehmende Bereitschaft, diese Freiheit auch Kindern zuzugestehen. In jüngerer Zeit haben in Europa und Nordamerika immer mehr Autoren eine positive seuxelle Aufklärung und einen neuen Katalog der „Kinderrechte" gefordert, der auch sexuelle Rechte einschließen soll. Diese Vorschläge unterscheiden sich zwar in Einzelheiten, stimmen aber in den grundlegenden Aussagen überein: Kinder sollten ebenso wie Erwachsene ein Recht auf sexuelle Information und sexuelle Aktivität haben und nicht in vorgefertigte Geschlechtsrollen gezwungen werden dürfen. Das bedeutet nicht nur, dass sie über Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsunterbrechung und Geschlechtskrankheiten informiert werden müssten, sondern dass sie auch den gleichen Zugang wie Erwachsene zu Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, Filmen und Vorführungen haben würden, auch sogenannten „ pornographischen". Das bedeutet auch, dass Kinder ihre Partner frei wählen könnten (also auch erwachsene Partner), solange sie sich an allgemeine Regeln des Anstandes halten. „Unzucht mit Kindern" und Inzest wären dann keine Verbrechen mehr, es sei denn, die Kinder hätten nicht einvernehmlich daran teilgenommen. (Selbstverständlich müsste man gleichzeitig das Recht und die Fähigkeit bei Kindern fördern, sexuelle Aufforderungen abzulehnen.) Schließlich müsste jede Form sexueller Diskriminierung von Gruppen von Kindern aufhören. Jungen und Mädchen hätten das gleiche Recht auf alle Spiele, Sportarten, Schulen, Lernprogramme und Berufe.


Zweifelsohne werden selbst im heutigen „freizügigen" moralischen Klima viele Eltern der Meinung sein, solche Vorschläge gingen wirklich zu weit. Es wird immer noch befürchtet, die meisten Kinder würden eine solche vollständige sexuelle Freiheit missbrauchen oder sie würden von skrupellosen Älteren ausgenutzt. Solche Befürchtungen können nicht einfach beiseite geschoben werden, denn in unserer Gesellschaft werden schließlich sogar viele Erwachsene ausgebeutet, und Kinder mit ihrer begrenzten Erfahrung sind so um so verletzlicher. Wir sollten uns allerdings fragen, ob es sinnvoll ist, dass sexuelle Handlungen bei Kindern auch dann verurteilt werden müssen, wenn es zu keinerlei Ausbeutung oder zu anderem Unrecht kommt. Das gilt auch für den sexuellen Kontakt zwischen Kindern und Erwachsenen. Diese Kontakte sind bei weitem nicht immer schädlich, und es scheint unvernünftig, sie alle in Bausch und Bogen zu verurteilen.


Die sexuelle Befreiung Jugendlicher ist demgegenüber sicher weniger kontrovers. Man ist sich allgemein darüber im klaren, dass Jungen und Mädchen spätestens mit Beginn der Pubertät eingehende Informationen über sexuelle Anatomie und Physiologie benötigen, über Fortpflanzung, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch und Geschlechtskrankheiten. Es erscheint auch selbstverständlich, dass theoretisches Wissen nicht ausreicht und dass Verhütungsmittel, Schwangerschaftsabbruch und Behandlung von Geschlechtskrankheiten allen geschlechtsreifen Menschen unabhängig von ihrem Alter verfügbar sein sollten. (Jugendliche, die Verhütung und Schwangerschaftsabbruch ablehnen, sollten natürlich auch dieses Recht haben.) Es wäre sehr problematisch, wenn Mädchen, die schwanger werden können, oder Jungen, die Schwangerschaften mitverursachen können, nicht auch über ihre eigenen Körper frei verfügen könnten. In keinem Fall kann man die Entscheidung in sexuellen Dingen allein ihren Eltern überlassen. Jugendliche, die alt genug sind, sich fortzupflanzen, sind auch alt genug zu entscheiden, ob, wann und wie sie sexuell aktiv werden wollen. Pflicht der Gesellschaft ist es, ihre Jugendlichen so zu erziehen, dass sie diese Entscheidung verantwortlich treffen können.


Wenn diese Grundrechte akzeptiert werden - und Tendenzen in diese Richtung sind erkennbar -, kann es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis Sexualerziehung in allen öffentlichen Schulen Pflichtfach wird. Bereits heute können Jugendliche sich weitgehend der ärztlichen Schweigepflicht sicher sein, und Eltern haben nur ein sehr begrenztes Recht, Schwangerschaftsabbrüche bei ihren Töchtern zu verbieten. Über kurz oder lang werden so auch die Gesetze über das „Schutzalter" und andere Verbote aus dem Sexualstrafrecht abgeschafft werden. Heranwachsende Jungen und Mädchen werden sich ihre Geschlechtspartner unabhängig von Alter und Geschlecht frei wählen können. Man wird sie nicht mehr länger allein aufgrund bestimmter sexueller Gewohnheiten als „verwahrlost" oder „Delinquent" bezeichnen.


Bei diesen Ausführungen über die sexuelle Freiheit Jugendlicher stellen wir natürlich fest, dass noch ein weiter Weg zu gehen ist. Die Mehrheit der Erwachsenen in unserer Gesellschaft zieht es wohl bei weitem vor, am Gegebenen festzuhalten und Veränderungen nur zögernd zuzulassen. Ihre Sorgen sind sicher aufrichtig gemeint, und viele von ihnen wollen nur das Beste für ihre Kinder. Daher kann es nur sinnvoll sein, auch konservativen Stimmen hinreichendes Gehör zu geben. Sexuelle Freizügigkeit kann leicht zur Entschuldigung für emotionale Vernachlässigung werden. Eltern, die es nicht interessiert, was ihre Kinder tun, interessieren sich oft in Wahrheit einfach nicht für ihre Kinder. Sexuelle Freiheit bedeutet sexuelle Verwantwortung, nicht Anarchie und Zügellosigkeit. Heranwachsende Jugendliche brauchen und wollen eine feste Orientierung. Schließlich wiederholt sich in der Entwicklung eines Menschen vom ichbezogenen Säugling zum modernen Bürger gewissermaßen der lange und mühsame Prozess der menschlichen Zivilisation. Dieser Prozess verläuft nicht automatisch. Spontaneität allein genügt nicht. Ein gewisses Maß von Hemmung, Zwang und Entsagung wird immer notwendig sein.


Das mögen Binsenweisheiten sein, sie werden indes von allzu eifrigen Verfechtern der Freiheit manchmal übersehen. Wir tun unserer Jugend keinen Gefallen, wenn wir sie ganz sich selbst überlassen. Nur wenn diese elementare Wahrheit verstanden wird, können wir den Jugendlichen nach und nach sexuelle Freiheiten zugestehen. Wir haben andererseits aber auch kein Recht, ihnen diese Freiheiten zu versagen, denn wir wissen, dass unsere gegenwärtigen sexuellen Normen repressiv sind. Es wäre unentschuldbar, unsere Kinder und Jugendlichen zur blinden Übernahme einer Moral zu zwingen, die lange reformbedürftig ist.


 

[Titelseite] [Inhalt] [Vorwort z. dt. Ausgabe] [Vorwort z. 2. Auflage] [Der menschl. Körper] [Das Sexualverhalten] [Sexualität & Gesellsch.] [Die sozialen Rollen] [Anpassung] [Ehe und Familie] [Sexuell Unterdrückte] ["Sexuelle Revolution"] [Anhang (Akt. Themen)] [Bildnachweis]