Geistig und körperlich Behinderte

12.4 Geistig und körperlich Behinderte


Wir haben oben gesehen, dass die sexuellen und reproduktiven Funktionen des Menschen körperlich und psychisch gestört sein können. Diese Funktionen können darüber hinaus auch indirekt durch eine Vielzahl von „nichtsexuellen" Krankheiten, Verletzungen, Behinderungen und Störungen beeinträchtigt werden. Diese Beeinträchtigung kann dann durch Unwissenheit und negative Einstellungen der Gesellschaft noch verschlimmert werden. Körperlich und geistig behinderte Menschen sehen sich so mit sexuellen Problemen ganz besonderer Art konfrontiert.


In unserer Gesellschaft erhalten körperbehinderte Menschen, Menschen mit amputierten Gliedern, Querschnittsgelähmte, Menschen mit spastischen Lähmungen meist ausgezeichnete medizinische Betreuung, aber sehr wenig Hilfe bei der Verwirklichung ihrer sexuellen Bedürfnisse. Im Gegenteil, mit dem Argument, sie beschützen zu wollen, wird ihnen oft von ihren Familien, Freunden, Ärzten, Pflegern und Lehrern jede Möglichkeit versagt, sexuell aktiv zu werden, oder man rät ihnen sogar ausdrücklich davon ab. Viele Menschen nehmen einfach an, dass schwere körperliche oder geistige Behinderungen gleichzeitig ein befriedigendes Geschlechtsleben ausschließen. Diese Annahme ist jedoch falsch. Abgesehen von sehr schweren Fällen von Krankheit oder Behinderung, ist irgendeine Form sexueller Lust immer möglich. Die Tatsache, dass dies nicht allgemein anerkannt wird, zeugt nur von der sinnlichen Armut unserer Zivilisation.


Für behinderte Menschen, die in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder ähnlichen Institutionen leben, ist die Situation besonders schwierig. Dort haben Patienten in der Regel kaum eine private Sphäre und selten Möglichkeiten, Menschen von außerhalb kennenzulernen. Sie leben oft in separaten Männer- oder Frauenabteilungen. Das Personal ist darüber hinaus oft prüde und intolerant. Viele Ärzte schließen die Möglichkeit sexueller Aktivität bei ihren Patienten von vornherein aus und kommen deshalb gar nicht auf die Idee, das Thema anzusprechen. Die Menschen, für deren Behandlung sie verantwortlich sind, bleiben hier also ohne Gesprächspartner, und viele mögliche sexuelle Alternativen werden nicht erwogen. Dies gilt natürlich nicht nur für Langzeitpatienten, sondern auch für kurze Aufenthalte. Viele Menschen sind nur für einige Wochen oder Monate im Krankenhaus, und ihnen werden auch in dieser Zeit unnötige sexuelle Beschränkungen auferlegt. Nicht jede Erkrankung bedarf der sexuellen Abstinenz, aber kaum ein Krankenhaus bietet seinen Patienten die Möglichkeit intimen Umgangs mit Ehepartnern oder Freunden. Andererseits wird oftmals bei schweren Erkrankungen Freunden oder Freundinnen ein Besuch überhaupt verweigert, weil sie nicht offiziell als „Familienmitglieder" betrachtet werden. Solche Regelungen sind gegenüber homosexuellen Patienten besonders gefühllos.


Glücklicherweise greifen in jüngerer Zeit menschlichere und offenere Einstellungen Platz. Die klinische Sexualforschung hat gezeigt, dass viele auch schwer behinderte Menschen Geschlechtsverkehr haben können, wenn sie ein Bewusstsein für ihre eigene Sexualität entwickeln und mit den üblichen Konventionen brechen. Dabei stellt sich oftmals heraus, dass ihre Partner glücklich sind, dies mit ihnen gemeinsam zu tun. Inzwischen gibt es ausgesprochen offene Bücher und Filme, die die sexuellen Möglichkeiten körperbehinderter Menschen aufzeigen. Solche Materialien sind nicht nur für Patienten und ihre Familien eine große Hilfe, sondern sie können auch in der Fortbildung des Klinikpersonals eine wichtige Rolle spielen. Manche Einrichtungen haben daher ihre bisherige Gewohnheit geändert und gestatten ihren Patienten sexuellen Umgang mit anderen Patienten oder mit regelmäßigen Besuchern von außen.


Ganz besonders schwierigen Problemen sehen sich geistig Behinderte gegenüber, vor allem wenn sie in geschlossenen Einrichtungen leben. Dennoch trifft im Prinzip das zuvor Gesagte auch auf sie zu. Bisher hat man sie oft so behandelt, als hätten sie kein sexuelles Interesse und keine sexuellen Rechte. „Schwachsinnige" oder „Zurückgebliebene" erhielten als Kinder keine sexuelle Erziehung, als Heranwachsende und Erwachsene musste man sie daher mit Gewalt daran hindern, sexuell aktiv zu werden. Manchmal sterilisierte man sie sogar gegen ihren Willen. Wenn sie heiraten wollten, war dies aus rechtlichen Gründen oft nicht möglich. Heute wird jedoch zunehmend anerkannt, dass so gefühllose Strenge unangebracht ist. Geistig behinderte Kinder müssen ebenso wie alle anderen Kinder über Empfängnis, Empfängnisverhütung und Geschlechtskrankheiten informiert werden. Sie brauchen Liebe und körperliche Zuwendung und sollten daher das Recht auf sexuelle Aktivität nach eigener Wahl haben, solange dies einvernehmlich und im privaten Bereich geschieht. Die notwendige Privatsphäre muss durch die Familie oder die Einrichtungen, in denen sie leben, gewährleistet werden. Andererseits müssen geistig Behinderte aber auch vor sexueller Ausbeutung geschützt werden. Dies kann durch aufmerksame Beobachtung geschehen, durch vernünftige Regelungen in den Einrichtungen und durch akzeptable gesetzliche Regelungen. (Gesetze, die jeden sexuellen Kontakt mit geistig Behinderten unter Strafe stellen, machen in Wahrheit diejenigen zu Opfern, die eigentlich geschützt werden sollen.) Soweit eine Sterilisation ratsam scheint, sollte das Einverständnis nach eingehender Aufklärung eingeholt werden. Aber auch in einem solchen Fall muss jederzeit dafür Sorge getragen werden, dass die am wenigsten einschränkende Alternative gewählt wird. Solange anderen kein Schaden entsteht, haben alle körperlich und geistig behinderten Menschen nach ihren Möglichkeiten ein Recht auf sexuelle Erfüllung.


 

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