Die sozialen Rollen von Mann und Frau

9. Die sozialen Rollen von Mann und Frau


In jeder Gesellschaft werden die offensichtlichen biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen dazu benutzt, ihnen unterschiedliche soziale Rollen zuzuweisen, durch die ihre Einstellungen und ihr Verhalten geformt werden. Das bedeutet, keine Gesellschaft gibt sich mit den natürlichen Unterschieden zwischen den Geschlechtern zufrieden, sondern fügt noch eine zusätzliche, kulturell und sozial bestimmte Unterscheidung der Geschlechter hinzu. Die einfachen körperlichen Faktoren werden so immer mit komplexen psychischen Eigenschaften in Zusammenhang gebracht. Für einen Mann reicht es nicht aus, männlichen Geschlechts zu sein, er muss auch maskulin erscheinen. Eine Frau muss, außer weiblichen Geschlechts zu sein, sich auch feminin verhalten.


Ist der Unterschied zwischen Mann und Frau jedoch einmal in dieser Weise vertieft und akzentuiert, gilt er als weiterer Beweis der biologischen Unterschiede, die wiederum die Notwendigkeit unterschiedlicher sozialer Rollen unterstreichen. Mit anderen Worten: man benutzt die natürlichen Unterschiede, um soziale Unterschiede zu definieren. Diese werden dann zu natürlichen Geschlechtsunterschieden erklärt, die nun ihrerseits weiterer sozialer Geschlechtsunterschiede bedürfen usw. Offensichtlich dreht sich die Argumentation im Kreis, sie ist jedoch gesellschaftlich sehr wirksam, So erfreut sich beispielsweise in unserer Gesellschaft das männliche Geschlecht einer sozial dominanten Rolle. Jungen werden von Kindheit an dazu erzogen, eine maskuline Rolle anzunehmen, die es ihnen ermöglicht, diese Position zu erreichen und auszufüllen. Aus dem gleichen Grunde lernen Mädchen, eine untergeordnete feminine Rolle zu übernehmen. Die daraus entstehenden Unterschiede des männlichen und weiblichen „Charakters" werden dann als angeboren bezeichnet und dazu benutzt, die bestehenden Machtverhältnisse zu sichern. Nur wer diese Verhältnisse akzeptiert, gilt als normal und kann erfolgreich sein. Die männliche soziale Rolle begünstigt maskuline Männer und die weibliche soziale Rolle bietet ihre relativen Vorteile nur femininen Frauen. (Der aggressive Mann wird die erfolgreicheren Geschäfte betreiben; die hübsche und liebenswürdige Frau wird den reicheren Ehepartner finden.) Mit anderen Worten, maskuline und feminine Eigenschaften sind Merkmale von Geschlechtsrollen, die als Reaktion auf soziale Diskriminierung entwickelt werden. Wenn sie einmal entwickelt sind, rechtfertigen und fixieren sie diese Diskriminierung. Die maskulinen und femininen Geschlechtsrollen bestärken einander gegenseitig und verewigen dadurch die ihnen zugrunde liegende Ungleichheit,


Natürlich können diese psychischen Mechanismen nur funktionieren, solange das Verhalten von Männern und Frauen nicht gegen die allgemein anerkannten Grenzen verstößt. Daher versucht jede Gesellschaft, solche Verstöße zu verhindern, indem sie die sozial definierten Geschlechtsrollen als „natürlich", ewig und unabänderlich bezeichnet. Jeder, der sich weigert sie anzuerkennen, wird als Abweichender verurteilt, der nicht nur gegen die Gesellschaft, sondern auch gegen die „Natur" selbst verstößt. Ein historisches Beispiel solchen Abweichens ist der Fall von Jeanne D'Arc, die als junges Mädchen nicht nur die französische Armee zum Sieg über die Engländer führte, sondern auch Männerkleider trug. In ihrem späteren Gerichtsverfahren beschuldigte man sie auch sofort, damit gegen die Natur gesündigt zu haben.


Die Menschen haben sich natürlich jahrhundertelang gefragt, weshalb diese angeblich „natürlichen" Rollen einer so energischen sozialen Durchsetzung bedurften. Wenn sie wirklich so natürlich waren, so hätten sie doch „von Natur aus" Männern und Frauen einfach zufallen müssen. Es ist jedoch bemerkenswert, dass die Verfechter dieser sogenannten natürlichen Ungleichheit der Geschlechter über nichts mehr aufgebracht waren, als der „Natur" ihren Lauf zu lassen. Wenn ihre Argumente jedoch wirklich zuträfen, hätte keine Notwendigkeit bestanden, den Frauen gleichberechtigte Chancen zu versagen, da sie ja unfähig gewesen wären, sich mit den Männern zu messen. Wenn Frauen von „Natur" wirklich schwächer wären, hätten die Männer nichts zu fürchten. Die Tatsache, dass viele Männer die weibliche Gleichberechtigung fürchten, lässt deshalb berechtigte Zweifel an der Stichhaltigkeit solcher Behauptungen zu.


In Wahrheit gehen menschliche Wünsche und Fähigkeiten sehr häufig über die engen Grenzen der traditionellen Geschlechtsrollen hinaus. Und es bedarf in der Tat ständiger, gemeinsamer Anstrengungen aller gesellschaftlichen Gruppen, diese Grenzen aufrechtzuerhalten. Dies geschieht nicht nur von außen, durch elterliche Anweisungen, Druck der sozialen Bezugsgruppe oder durch gesetzliche Regelungen, sondern auch von innen durch Anschauungen und Wertvorstellungen, die das Selbstbild jedes einzelnen bestimmen. Gerade im Kopf jedes einzelnen kann eine Verwirrung über die sexuelle und soziale Geschlechtsrolle die schwerwiegendsten Probleme verursachen.


Männer und Frauen, die das Gefühl haben, nicht in das Klischee maskuliner oder femininer Rollen zu passen, sie ablehnen oder als einengend empfinden, geraten leicht auch über ihr biologisches Geschlecht in Unsicherheit. Sie könnten sich dann wünschen, einen anderen Körper zu haben, der es ihnen ermöglicht, eine ihnen eher gemäße Rolle zu spielen. Oder ein anderes Beispiel: Da Männer im Glauben erzogen werden, Frauen seien sozial und sexuell passiv, verwirrt es sie unter Umständen erheblich, auf eine Frau zu treffen, die aktiv ist und zum Beispiel beim Geschlechtsverkehr die Initiative ergreift. Angesichts so „unfemininen" Verhaltens kann ein Mann dann versucht sein, die Weiblichkeit einer Frau anzuzweifeln. Wenn diese Zweifel angesichts offensichtlicher Beweise nicht aufrechterhalten werden können, beginnt er möglicherweise, an seiner Männlichkeit zu zweifeln, und es kommt so zu sexuellen Störungen. Umgekehrt wird möglicherweise ein hübscher, sanfter und zurückhaltender junger Mann ausgelacht und als „pervers" oder „schwul" hingestellt. „Richtige Frauen" werden ihn nicht als „richtigen Mann" betrachten und daher als Sexualpartner ablehnen.


Die Verwirrung geht aber noch weiter. Die Meinung, dass es in jeder sexuellen Beziehung einen aktiven Partner (den Mann) und einen passiven (die Frau) geben muss, wird so beharrlich verteidigt, dass sie nicht nur viele heterosexuelle Beziehungen zerstört, sondern auch das Verhalten bestimmter Homosexueller beeinflusst, die sich gezwungen fühlen, sich nach solchen Klischees zu verhalten. Damit unterstützen sie die merkwürdige Auffassung, dass es selbst bei Beziehungen zwischen zwei Menschen gleichen Geschlechts immer einen geben muss, der den „Mann" spielt, und einen anderen, der die Rolle der „Frau" übernimmt. Allgemein herrscht bei uns die Meinung, dass es selbst bei einem (männlichen oder weiblichen) homosexuellen Paar einen aktiven, maskulinen und einen passiven, femininen Partner gibt. Wer diese Auffassung teilt, kann natürlich kaum ein Phänomen wie die berühmte homosexuelle Elitetruppe im Griechenland der Antike erklären, die ausschließlich aus männlichen Freundespaaren bestand.


All diese Ansichten beruhen auf falschen Schlussfolgerungen, die aufgrund falscher Voraussetzungen gezogen wurden. Falsch ist die Voraussetzung, eine Frau sei von Natur aus passiv, während ein Mann von Natur aus aktiv sei. Sie führt zur falschen Schlussfolgerung, dass jede passive Person eine feminine Rolle spielt und jede aktive eine maskuline. In Wirklichkeit muss jedoch weder die sexuelle noch die soziale Rolle in dieser Weise festgelegt sein, ist doch in einigen menschlichen Gesellschaftsformen die Rollenverteilung von Mann und Frau gerade umgekehrt. Das bedeutet zusammengefasst: an unseren sexuellen Klischees ist nichts „natürlich" oder endgültig. Eine umfassende Gleichberechtigung zwischen den Menschen kann aus diesem Grunde nicht eher erreicht werden, als bis beiden Geschlechtern deutlich geworden ist, dass jeder sich aktiv und passiv verhalten darf und dass selbst zwei „aktive" oder zwei „passive" Partner eine beglückende Beziehung haben können.


Das soll nicht heißen, dass in einer idealen Zukunft alle Unterschiede zwischen den Menschen verschwinden werden. Sie werden sich, sobald die alten Klischees abgelegt worden sind, vor allem auch zwischen Menschen gleichen Geschlechts eher vertiefen. Wenn die Voraussetzungen sozialer Gleichberechtigung geschaffen sind, wird es weiterhin jedem einzelnen freistehen, in seiner Geschlechtsrolle Erfüllung zu finden. Denn eigentlich erübrigt sich der Hinweis, dass die unterschiedlichen Geschlechtsrollen an sich kein Problem darstellen. Sie können für unser Leben sehr bereichernd sein, solange wir uns bewusst sind, dass „unterschiedlich" oder „anders" beim Menschen nicht gleichbedeutend mit über- oder untergeordnet ist. Mit anderen Worten: wer für die Gleichberechtigung von Mann und Frau kämpft, bemüht sich damit nicht um triste Gleichmacherei, sondern um ein soziales Klima, indem sich Vielfalt ohne Herrschaft und Ausbeutung entwickeln kann.


In den folgenden Kapiteln wird zunächst das Grundkonzept von Geschlecht und Geschlechtsrolle weiterentwickelt, Dann folgt eine kurze Diskussion der sogenannten doppelten Moral für Männer und Frauen. Der abschließende Teil befasst sich mit der Frauenbewegung und ihrem Kampf um sexuelle Gleichberechtigung.

 

[Titelseite] [Inhalt] [Vorwort z. dt. Ausgabe] [Vorwort z. 2. Auflage] [Der menschl. Körper] [Das Sexualverhalten] [Sexualität & Gesellsch.] [Die sozialen Rollen] [Anpassung] [Ehe und Familie] [Sexuell Unterdrückte] ["Sexuelle Revolution"] [Anhang (Akt. Themen)] [Bildnachweis]