Heterosexueller Geschlechtsverkehr

7.2 Heterosexueller Geschlechtsverkehr


Das Wort „Verkehr", auf zwischenmenschliche Beziehungen angewandt, kann jede Form der Kommunikation meinen. So kann von allgemein gesellschaftlichem „Verkehr" gesprochen werden, vom „Schriftverkehr" oder vom „Besucherverkehr" in einer Firma. Im Sprachgebrauch von Ärzten, Juristen und ähnlichen Berufen ist demgegenüber heute die Bedeutung des Wortes stark eingegrenzt. Wenn sie das Wort „Verkehr" benutzen, ist immer nur eins gemeint: Geschlechts-Verkehr. Und meist meinen sie damit nur eine bestimmte Form des Geschlechtsverkehrs: den Koitus.


Dieser stark eingeschränkte Gebrauch des Begriffs hat sich inzwischen leider auch in der Umgangssprache durchgesetzt. So wird zum Beispiel in manchen Eheberatungs-Büchern heute nur noch „Geschlechtsverkehr" (gleichbedeutend mit Koitus) und „Petting" (gleichbedeutend mit allen anderen Formen des Sexualverhaltens) unterschieden. Gleichzeitig wird dann erklärt, dass dem erregenden Ereignis des Geschlechtsverkehrs selbst ein „Vorspiel" vorauszugehen und ein „Nachspiel" zu folgen habe. Dieser Sprachgebrauch legt es also nahe, als Geschlechtsverkehr nur eine bestimmte Form der Intimität zu betrachten: den Kontakt von Penis und Vagina,


Diese Auffassung greift jedoch wesentlich zu kurz. Nicht ohne Grund haben wir im ersten Teil des Buches festgestellt, dass die sexuelle Reaktion des Menschen den ganzen Körper einschließt und dass ein Orgasmus auf vielerlei Weise erreicht werden kann (vgl. Kap. 2.2 und 3.2). Statistisch gesehen ist der Koitus sicher die verbreitetste Form des sexuellen Kontakts, er ist jedoch keinesfalls die einzige. Tatsächlich ist er für viele Männer und Frauen nicht einmal die bevorzugte Form. Darüber hinaus gibt es Menschen, die aufgrund körperlicher Gebrechen, Verletzungen oder Krankheiten nicht in der Lage sind, Koitus zu haben. Trotzdem unterhalten viele von ihnen glückliche sexuelle Beziehungen.


Da der Koitus die einzige Form des Geschlechtsverkehrs ist, die zur Zeugung von Kindern führt, wurde diesem in unserer Kultur lange Zeit ein hoher Stellenwert zugemessen. In der jüdischen und christlichen religiösen Tradition waren eben Sexualität und Fortpflanzung untrennbar miteinander verbunden. Jede sexuelle Handlung, die nicht zu einer Schwangerschaft führen konnte, wurde als sündig verurteilt und abgelehnt. In vielen westlichen Ländern folgte auf diese religiöse Verurteilung auch die Bestrafung solcher sexueller Handlungen. Nicht-koitaler Geschlechtsverkehr wurde zur ernsten Verfehlung, und die Strafen konnten sehr hart sein. Schließlich wurden diese „Verbrechen" von der modernen Psychiatrie zu „Krankheiten" umdefiniert. Erwachsene, die nicht den Koitus jeder anderen Form des Sexualverhaltens vorzogen, galten als seelisch krank oder zumindest „unreif".


Heute wird uns langsam bewusst, dass diese negative Einstellung gegenüber jeder Art des nicht-koitalen Geschlechtsverkehrs viele Menschen unnötig belastet hat. Es besteht auch kein Zweifel, dass die ständige Überbetonung von Penis und Vagina bei gleichzeitiger Vernachlässigung der anderen „erogenen Zonen" des Körpers dazu führt, Männer und Frauen sinnlich abzustumpfen und damit ihre sexuelle Entfaltung zu behindern (vgl. a. Kap. 8.2 „Sexuelle Funktionsstörungen"). Aus diesem Grunde betonen moderne „Sexualexperten" die Bedeutung von „Petting" und „Vorspiel". Aber selbst diese wohlmeinenden Menschen verkennen die wirklichen Zusammenhänge. Solange der Koitus als entscheidende Form des Geschlechtsverkehrs angesehen wird, sind alle anderen Formen eindeutig abgewertet. Sie werden bestenfalls als „Varianten" oder „Ersatzhandlungen" angesehen, deren Hauptfunktion es ist, „Vor"- oder „Nachspiel" für das „Hauptereignis" zu sein. Die Partner werden sich also immer verpflichtet fühlen, ihren spontanen sexuellen Spielen einen Koitus folgen zu lassen. Sie werden damit fortfahren, den Geschlechtsverkehr in Akte, Kapitel und eskalierende Phasen einzuteilen und dabei die Fähigkeit nie erwerben, ihr volles erotisches Potential zu entwickeln.


Aus diesem Grunde verfolgt dieses Buch auch nicht die Ansätze anderer Sexual- und Ehehandbücher, sondern behandelt dieses Thema in einer weniger spezifischen Form. Es wird zunächst mit einer sehr einfachen Begriffsbestimmung begonnen und nicht der Versuch gemacht, dem Leser den Vorzug irgendeiner bestimmten Art sexuellen Verhaltens aufzuzwingen:


Geschlechtsverkehr ist jede Kommunikation zwischen Menschen, bei der eine sexuelle Reaktion mitspielt.


Diese Kommunikation kann natürlich auf vielfältige Weise stattfinden. Menschen können sexuell aufeinander reagieren, wenn sie sich umarmen und küssen; aber auch, wenn sie sich nur in die Augen sehen oder miteinander telefonieren. Anders ausgedrückt: man muss die Geschlechtsorgane des anderen nicht berühren, und es braucht nicht einmal zu einem direkten körperlichen Kontakt zu kommen. Und dennoch kann es „Geschlechtsverkehr" im wahren Sinne des Wortes sein, wenn es zu einem Austausch und gemeinsamen Bewusstsein sexueller Gefühle kommt.


Damit könnte man die ganze Angelegenheit als geklärt ansehen, gäbe es nicht Geistliche, Juristen und Ärzte, die das sexuelle Verhalten des Menschen spezifizieren, klassifizieren und kategorisieren zu müssen glauben. Selbstverständlich hat jeder Berufszweig seine eigenen Anschauungen und Ansichten, und wenn man gerne in Ausdrücken der Fachsprache redet, kann man auch eine große Zahl neuer Spezialausdrücke erfinden. Selbst Geschlechtsverkehr ohne direkten Körperkontakt läßt sich in unterschiedlichste Begriffe fassen. So kann man zum Beispiel von einem Menschen, der durch einen obszönen Telefonanruf erregt wird und den Anrufer zum Fortfahren auffordert, sagen, er habe „vokalen und auralen Geschlechtsverkehr". In gleicher Weise wäre die Beziehung zwischen einem Exhibitionisten und einem Voyeur ganz schlicht als „visueller Geschlechtsverkehr" zu bezeichnen. Und man könnte durchaus von „postalischem Geschlechtsverkehr" sprechen, wenn Menschen sich Briefe und Fotos schicken, die sie sexuell anregen.


Solche Beispiele zeigen, dass diese Begrifflichkeit ins Lächerliche abgleiten kann. Für die praktische Anwendung sind die Fachleute daher übereingekommen, sich nur einer einzigen Terminologie zu bedienen, die solche Formen von Geschlechtsverkehr beschreibt, bei denen körperlicher Kontakt mit den Geschlechtsorganen zumindest einer der teilnehmenden Personen eingeschlossen ist. Diese Kompromißlösung ist zwar nicht ganz zufriedenstellend, sie vereinfacht die Sache jedoch erheblich. Da sie weitgehend akzeptiert wird, wird sie auch in den weiteren Ausführungen als Grundlage und Struktur verwendet. Nach allgemeinem modernem Sprachgebrauch kann man deshalb zwischen vier elementaren Arten des Geschlechtsverkehrs unterscheiden:


• Manueller Verkehr (von lat. manus: Hand), wenn die Geschlechtsorgane eines Partners mit der Hand (oder den Händen) des anderen Kontakt haben


• Oralverkehr (von lat. os: Mund), wenn die Geschlechtsorgane eines Partners mit dem Mund des anderen Kontakt haben


• Genitalverkehr (von lat. genitalia: Geschlechtsorgane), wenn die Geschlechtsorgane eines Partners mit denen des anderen Kontakt haben


• Analverkehr (von lat. anus: Darmausgang), wenn die Geschlechtsorgane eines Partners mit dem Anus des anderen Kontakt haben.


Dies sind natürlich nur technisch-funktionale Begriffsbestimmungen, und sie beschreiben keine Verhaltensweisen die sich gegenseitig ausschließen. Es trifft zwar zu, dass manche Männer und Frauen sich auf eine bestimmte Form des Geschlechtsverkehr beschränken; die meisten ziehen es jedoch heute vor, von einer Form des Geschlechtsverkehrs zu einer anderen zu wechseln. So kann Geschlechtsverkehr zunächst manuell, dann oral und schließlich genital sein. Wollte man die Begriffsbildung noch weiter treiben, könnte man noch einige weitere Unterscheidungen einführen und zum Beispiel von „femoralem Verkehr" (von lat. femora: Oberschenkel) sprechen, wenn ein Mann seinen Penis zwischen die Schenkel der Partnerin legt. Denn ein Paar kann möglicherweise viele Stunden mit allen Variationen des Geschlechtsverkehrs verbringen, bevor ein Orgasmus erreicht wird. Andererseits können sie sich gegenseitig stimulieren, ohne zum Orgasmus zu kommen. Für unsere Definition ist dies alles nicht erheblich. Es ist immer das Ganze einer sexuellen Wechselwirkung zwischen einem Paar, das den Ausschlag gibt, nicht die allerletzte mögliche Phase.


Andererseits muss daran erinnert werden, dass nur die sexuellen Aspekte dieser Interaktion uns hier interessieren. Die hier verwendete Definition des manuellen Verkehrs bezieht sich zum Beispiel nicht auf die Untersuchung der Geschlechtsorgane eines Patienten durch einen Arzt. Die bloße Tatsache, dass die Geschlechtsorgane eines Menschen mit den Händen, dem Mund, den Geschlechtsorganen oder dem Anus eines anderen in Berührung kommen, ist kein Grund, von Geschlechtsverkehr zu sprechen. Die Bezeichnung ist nur dann gerechtfertigt, wenn zumindest einer von ihnen eine sexuelle Reaktion zeigt, die von dem anderen bemerkt und unterstützt wird. (Das bedeutet unter anderem auch, dass Kinder, die ihre Geschlechtsorgane aus reiner Neugier gegenseitig berühren, damit noch keinen Geschlechtsverkehr haben.)


Während man über eine allgemeine Definition des Geschlechtsverkehrs relativ einfach zu einem Konsens gelangen kann, wäre es einfältig, eine allgemein gültige Beschreibung zu wagen. Die Sexualität eines Menschen ist eine ganz und gar persönliche Angelegenheit. Jeder hat andere sexuelle Interessen, und daher werden auch zwei verschiedene Paare nie auf die gleiche Weise sexuell miteinander verkehren. Manche benötigen für ihr Liebesspiel nur Minuten oder Sekunden, andere dehnen es über Stunden aus. Manche Männer und Frauen wiederholen das Erlebnis nie mehr, andere nur in großen Zeitabständen, wieder andere haben über Jahre hinaus mehrmals täglich Geschlechtsverkehr.


Keine dieser Verhaltensformen ist falsch, solange sie die beteiligten Menschen befriedigt, und es ist vermessen, wenn irgendein Religions-, Rechts- oder Medizinexperte daran herumkritisiert. Leider haben genau dies viele solcher Experten in der Vergangenheit versucht. Statt die Menschen darin zu unterstützen, ihr Glück zu finden und ihre individuellen Fähigkeiten zu entwickeln, führten diese Experten enge Normen vom „natürlichen", „normalen" und „gesunden" Geschlechtsverkehr ein. denen sich jeder anpassen sollte. Alles was diesem Wunschbild nicht entsprach, wurde als „unnatürlich", „abnorm" und „krankhaft" abgestempelt.


In unserer Gesellschaft war man lange der Auffassung, der Koitus sei die einzige akzeptable Form des Sexualverhaltens. Noch heute gibt es einige Staaten in den USA, wo Gesetze den nicht-koitalen Geschlechtsverkehr als „Verbrechen wider die Natur" bestrafen. So müssen selbst verheiratete Paare, die oralen Verkehr praktizieren, mit langen Gefängnisstrafen rechnen, wenn ihre „Straftat" bekannt wird. Diese Gesetze werden dadurch nicht weniger absurd, dass sie selten angewandt werden. Vielmehr macht gerade die Anwendung in bestimmten Einzelfällen sie zum Skandal. Ebenso unannehmbar wie die Gesetze selbst ist die primitive Auffassung von der menschlichen Sexualität, die aus ihnen spricht. Danach ist Geschlechtsverkehr beim Menschen nichts anderes als ein Mittel zur Produktion von Nachkommenschaft, wie die Paarung beim Vieh. Jeder Versuch, etwas anderes aus ihm zu machen, soll angeblich die „Absicht der Natur" pervertieren. Die Menschheit soll sich also in allen anderen Lebensbereichen weiterentwickeln, nur in ihrem Sexualverhalten soll sie auf der Stufe der Tiere stehenbleiben.


Glücklicherweise sind die meisten Menschen in unserer Gesellschaft zu einer wesentlich fortschrittlicheren Einstellung gekommen. Es wurde ihnen bewusst, dass sich in einer sexuellen Beziehung jeder Partner als ganze Person einbringen muss und dass die Forderung in sich schon pervers ist, den sexuellen Kontakt auf bestimmte Teile des Körpers zu beschränken.


Trotzdem gibt es heute noch viele, die nicht in der Lage sind, ihr erotisches Potential voll zu entwickeln. Obwohl sie vielleicht keine Angst mehr haben, ihr Liebesspiel vielfältiger zu gestalten, sehen sie darin immer noch nur ein Mittel zum Zweck. Genau wie ihre Vorfahren sind sie nach wie vor mehr am Ergebnis als am Vorgang des Geschlechtsverkehrs interessiert. Die Absicht, Nachkommen zu zeugen, hat sich bei ihnen ganz einfach in die Absicht verwandelt, Orgasmen zu erzeugen. Sie besitzen noch nicht die Fähigkeit, Sexualität um ihrer selbst willen zu genießen. Es ist jedoch eben diese Fähigkeit, die Mann und Frau aneinander bindet, ihnen Befriedigung bringt und ihre sexuelle Funktionsfähigkeit bis ins hohe Alter sicherstellt.


Die folgenden Kapitel geben einen groben Überblick über einige Formen des Geschlechtsverkehrs, wobei weder die Reproduktionsfunktion noch der Orgasmus überbewertet werden sollen. Das Hauptziel ist hier vielmehr, wie in diesem Buch allgemein, einige Begriffe zu erläutern und bestimmte Techniken zu beschreiben sowie auf verschiedene Möglichkeiten hinzuweisen. Die Auswahl unter diesen Möglichkeiten muss jedem einzelnen vorbehalten bleiben. Der Text will nicht den Versuch machen, irgendeinen Richtwert, eine Norm oder ein bestimmtes Ziel zu setzen, außer dem des gemeinsamen Genusses.


 

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