Formen des Sexualverhaltens

7. Formen des Sexualverhaltens


Man kann menschliches Sexualverhalten auf sehr verschiedene Weise klassifizieren. Man kann zum Beispiel eine bestimmte Art sexueller Aktivität als Standard oder Norm definieren und alle anderen Arten dann als „Varianten" oder „Abweichungen" bezeichnen. Dieses Vorgehen wird traditionellerweise von der Kirche, den Gesetzgebern und der Psychiatrie gewählt.


Die sexuellen Normen, die so festgelegt werden, sind jedoch Veränderungen unterworfen und nicht immer deckungsgleich. So kann ein bestimmtes Sexualverhalten in einer bestimmten historischen Periode als normal gelten, während es in einer anderen als abnorm betrachtet wird, Theologen, Gesetzgeber und Ärzte haben darüber hinaus unterschiedliche Auffassungen davon, was im sexuellen Verhalten eines Menschen richtig oder falsch ist. Das bedeutet: man kann nicht davon ausgehen, dass jede moralisch einwandfreie sexuelle Handlung zugleich auch als legal und als gesund gilt. Ebenso ist nicht jede sexuelle Sünde auch ein Sexualverbrechen, nicht jedes Sexualverbrechen deutet gleichzeitig auf eine „Sexualstörung" hin. (Vgl, a. Kap. 10 „Anpassung und Abweichung".)


Angesichts dieser Tatsachen erscheint es sinnvoll, eine andere, neutralere Sicht anzustreben. Wenn man sich dem Problem unvoreingenommen nähern will, muss man Werturteile vermeiden und rein technische Ausdrücke wählen. Man könnte so zum Beispiel das Sexualverhalten einfach danach einteilen, auf welche „Objekte" es sich bezieht. Man könnte dann etwa unterscheiden zwischen Handlungen, die eine Person alleine ausführt, und solchen, die des Kontakts mit anderen bedürfen. Ein solcher Kontakt wiederum kann mit einem Partner des anderen Geschlechts stattfinden, mit einem Partner des gleichen Geschlechts oder mit einem Tier. Wir kommen dann auf vier Grundformen des Sexualverhaltens:


1. Sexuelle Selbststimulierung


2. Heterosexueller Geschlechtsverkehr


3. Homosexueller Geschlechtsverkehr


4. Sexueller Kontakt mit Tieren.


Natürlich beziehen sich diese Unterscheidungen lediglich auf verschiedene Formen des Verhaltens, nicht auf verschiedene Arten von Menschen. Das bedeutet: eine und dieselbe Person kann sehr wohl alle vier Formen des Sexualverhaltens ausüben. Es gibt Menschen, die zunächst vor allem sexuelle Selbststimulierung wählen, dann durch eine kurze Phase sexueller Erfahrungen mit Tieren gehen und danach ihr Interesse Menschen des anderen Geschlechts zuwenden. Andere pflegen ihr Leben lang sowohl heterosexuelle als auch homosexuelle Kontakte. Wieder andere machen unterschiedliche sexuelle Erfahrungen während ihrer Jugend und finden schließlich vollkommene Befriedigung in einer traditionellen Ehe. Es kann aber auch sein, dass der Verlust des Ehepartners durch Tod oder Scheidung manche Männer und Frauen dazu veranlasst, frühere Verhaltensformen wieder aufzunehmen.


Die moderne Sexualforschung hat gezeigt, dass das menschliche Sexualverhalten nicht von einem bestimmten und unbeirrbaren biologischen Instinkt geleitet wird, sondern in hohem Maße sozialen Einflüssen und Lernprozessen unterliegt. Außerdem haben historische und anthropologische Studien ergeben, dass unterschiedliche Gesellschaftsformen ihre Mitglieder in dieser Hinsicht ganz unterschiedlich prägen. Insgesamt ist man heute deshalb der Ansicht, dass Menschen ihre sexuellen Objekte nach den jeweiligen Umständen auswählen und ihr sexuelles Verhalten ein Ergebnis ihrer individuellen Lernerfahrungen ist.


Zweifellos begünstigen die meisten Gesellschaften eine ganz bestimmte Objektwahl gegenüber allen anderen: die eines erwachsenen Partners des anderen Geschlechts. So ist der heterosexuelle Verkehr die bei weitem verbreitetste Form des Sexualverhaltens. Der Grund hierfür ist offensichtlich, dass nur sexueller Kontakt zwischen Männern und Frauen zur Fortpflanzung führen und dadurch das Überleben der Art und der sozialen Gruppe gewährleisten kann. Jede Gesellschaft, die eine Vorliebe für Masturbation, homosexuellen Geschlechtsverkehr oder sexuellen Kontakt mit Tieren entwickelte, würde damit ihr eigenes Überleben in Frage stellen.


Dennoch ist bekannt, dass das Überleben der Menschen auch dadurch bedroht sein kann, dass sich die Menschen im Übermaß vermehren. In diesem Fall kann der Gesellschaft unter Urnständen keine andere Wahl bleiben, als ihre sexuellen Angewohnheiten zu ändern. So berichtet der griechische Philosoph Aristoteles in seiner Schrift „Politika", dass die Bewohner der Insel Kreta unter dem Druck der Überbevölkerung gezwungen waren, offiziell homosexuelles Verhalten einzuführen, um so die Geburtenrate zu senken. Dieser Bericht mag wahr sein oder nicht, er zeigt auf alle Fälle, dass sich schon vor über 2000 Jahren Menschen der Tatsache bewusst waren, dass die Wahl des sexuellen Objektes zu einem gewissen Grad auch von den Bedürfnissen der Gesellschaft diktiert wird.


Diese Feststellungen sollen nicht zur Auffassung führen, menschliches Sexualverhalten sei von biologischen Faktoren unabhängig. Im Gegenteil: Die überwiegende Neigung zum heterosexuellen Geschlechtsverkehr ist aus der Abstammung des Menschen vom Säugetier leicht zu erklären. Obwohl viele höhere Säugetiere die Fähigkeit besitzen (und sie auch nutzen), sexuelle Selbststimulierung, homosexuellen Geschlechtsverkehr oder Kontakte mit Tieren anderer Spezies auszuüben, besteht ihre überwiegende sexuelle Ausdrucksweise in der heterosexuellen Kopulation innerhalb der eigenen Spezies. Man kann davon ausgehen, dass bei den Menschen wie bei den höheren Säugetieren zumindest ein Teil dieses allgemeinen Verhaltensmusters angeboren ist. Allerdings muss man berücksichtigen, dass die Gesellschaft gleichzeitig alles daran setzt, um die natürliche Vorliebe für den heterosexuellen Geschlechtsverkehr zu unterstützen und andere, genauso natürliche Arten des Sexualverhaltens zu unterdrücken. Insgesamt legen die heutigen Erkenntnisse zwei Schlussfolgerungen nahe: In einer Gesellschaft ohne Tabus und Verbote würde der heterosexuelle Geschlechtsverkehr immer noch die häufigste Form des Sexualverhaltens sein. Andererseits würden die übrigen Formen des Sexualverhaltens sehr viel weiter verbreitet sein, als sie es zur Zeit in den meisten Gesellschaften sind.


In den letzten Jahren hat die sexuelle Freizügigkeit in unserer Gesellschaft erheblich zugenommen. Infolgedessen sind sich heute mehr Menschen als je zuvor der Vielfalt menschlichen Sexualverhaltens bewusst. Man kann jedoch kaum feststellen, ob das Verhalten selbst sich verändert hat, da statistische Daten erst seit ein paar Jahrzehnten gesammelt werden. Wir wissen, dass zumindest theoretisch unsere Vorfahren im 19. Jahrhundert wesentlich stärker beschränkt waren. Dennoch könnte ihr Verhalten in der Praxis dem unseren sehr ähnlich gewesen sein.


Heute sind die Menschen offensichtlich besser informiert, und sie haben eher Gelegenheit, ihre sexuellen Möglichkeiten zu erforschen. Die Einführung zuverlässiger Verhütungsmittel hat viele Paare von den Ängsten uner-


wünschter Schwangerschaft befreit. Die soziale Emanzipation der Frau hat mehr Aufrichtigkeit in die Beziehungen zwischen Frau und Mann gebracht. Die Massenmedien sorgen für intensive Sexualinformation, die Jung und Alt auch darin unterstützen kann, sich als sexuelle Wesen zu verstehen und zu akzeptieren.


Diese Entwicklungen werden hoffentlich bald zu der allgemeinen Einsicht führen, dass Liebe nur in einem Klima der Toleranz gedeihen kann, dass eine einzelne, strikt durchzusetzende sexuelle Verhaltensnorm nicht notwendig ist und dass die Interessen der Gesellschaft am besten gewahrt werden, wenn jedem das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zuerkannt wird.


Die folgenden Abschnitte geben einige allgemeine Informationen über die vier Grundformen des Sexualverhaltens und eine kurze Beschreibung der gebräuchlichen Techniken. Die soziale Bedeutung dieser Verhaltensweisen wird im dritten Teil des Buches in den Kap. 10 „Anpassung und Abweichung" und 12 „Die sexuell Unterdrückten" eingehender dargestellt.


 

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