Homosexueller Geschlechtsverkehr

7.3 Homosexueller Geschlechtsverkehr


Menschen können nicht nur Geschlechtsverkehr mit Partnern des anderen Geschlechts haben, sondern auch mit solchen gleichen Geschlechts. Anders ausgedrückt: Männer und Frauen können sowohl heterosexuellen als auch homosexuellen Geschlechtsverkehr haben. Die Vorsilben „hetero-" und „homo-" kommen aus dem Griechischen und bedeuten „anders-" bzw. „gleich-".


Wie bereits erwähnt, ist gleichgeschlechtliches Verhalten unter Kindern häufig und unter heranwachsenden Jugendlichen nicht ungewöhnlich. In den Jahren vor der Pubertät haben Kinder in unserem Kulturkreis häufiger sexuellen Kontakt zu Menschen gleichen Geschlechts als zu solchen des anderen Geschlechts. In dieser Zeit werden heterosexuelle Spiele sogar eher unterbunden, während homosexuelle Aktivitäten kaum Beachtung finden. Erst später kehrt sich die Situation um. Wenn Jugendliche die Pubertät erreicht haben, wird von Jungen und Mädchen erwartet, dass sie ausschließlich heterosexuelle Interessen entwickeln. Jeder Versuch homosexueller Aktivität wird streng verurteilt. Trotzdem haben viele Menschen weiterhin - auch bis ins hohe Alter - homosexuelle Kontakte. Für viele von ihnen stellen diese Kontakte nur vereinzelte Episoden in einem sonst heterosexuellen Leben dar. Für andere werden sie zu gelegentlichen Erlebnissen, für wieder andere sind sie die bevorzugte oder auch einzige Form sexuellen Verhaltens.


In ihren beiden Studien des menschlichen Sexualverhaltens haben Kinsey und seine Mitarbeiter zur Klärung des Sachverhalts eine sehr praktische Methode benutzt. Sie erfanden eine siebenteilige Skala, die das Verhältnis von heterosexuellem zu homosexuellem Verhalten in der Bevölkerung insgesamt messen sollte. Am einen Ende dieser Skala (Kategorie 0) wurden Menschen eingeordnet, die ausschließlich heterosexuelle Erfahrung hatten; am anderen Ende (Kategorie 6) wurden Menschen eingeordnet, die ausschließlich homosexuelle Erfahrungen hatten. Zwischen diesen beiden Extremen lagen Menschen, die sowohl heterosexuelle als auch homosexuelle Erfahrungen hatten (Kategorien 1-5). Es ergab sich so die folgende Einteilung:


Kategorie 0: Ausschließlich heterosexuelles Verhalten


Kategorie 1: Überwiegend heterosexuelles, gelegentlich homosexuelles Verhalten


Kategorie 2: Überwiegend heterosexuelles, jedoch häufiger als gelegentlich homosexuelles Verhalten


Kategorie 3: Heterosexuelles und homosexuelles Verhalten zu gleichen Teilen


Kategorie 4: Überwiegend homosexuelles, jedoch häufiger als gelegentlich heterosexuelles Verhalten


Kategorie 5: Überwiegend homosexuelles, gelegentlich heterosexuelles Verhalten


Kategorie 6: Ausschließlich homosexuelles Verhalten.


(Siehe auch Schaubild und Tabelle S: 237)


Diese Kategorien haben natürlich an sich nichts Neues oder Revolutionäres. Man wusste immer schon, dass es Menschen gibt, die nur heterosexuellen Verkehr haben, und andere mit ausschließlich homosexuellem Verkehr. Man wusste auch, dass einige Menschen mit Partnern beiderlei Geschlechts sexuellen Verkehr haben. Tatsächlich haben die Menschen vermutlich schon lange vor Kinsey diese grundlegende Einsicht gehabt. Aber zumindest in unserer westlichen Kultur war für die öffentliche Meinung eine solche Idee niemals akzeptabel, weil man einfach annahm, die Prozentzahl derer mit ausschließlich heterosexuellen Erfahrungen sei so groß und der Prozentsatz aller anderen Gruppen so klein, dass eine solche Einteilungsskala wenig sinnvoll sei. Bevor Kinsey also seine umfangreichen Untersuchungen machte, war man der Auffassung, homosexuelle Handlungen seien nur seltene und unnatürliche Ausnahmen. Kinsey bewies, dass diese überkommene Ansicht falsch war. So zeigen seine Statistiken beispielsweise, dass etwa 50 Prozent aller Männer und 20 Prozent aller Frauen, bevor sie das mittlere Lebensalter erreichen, in irgendeiner Form eindeutige sexuelle Erlebnisse mit Partnern des gleichen Geschlechts gehabt haben. 37 Prozent aller Männer und 13 Prozent aller Frauen haben nach ihrer Pubertät zumindest ein homosexuelles Erlebnis, das zum Orgasmus führte. Dies betrifft also fast zwei von fünf Männern und mehr als eine von acht Frauen. Nach Kinseys Feststellungen verhalten sich darüber hinaus vier Prozent aller Männer (und ungefähr zwei Prozent aller Frauen) während ihres ganzen Lebens ausschließlich homosexuell.
 

 
Kinsey-Skala zum Verhältnis zwischen heterosexuellem und homosexuellem Verhalten.
Die Skala und die ihr zugrundeliegenden Daten stammen aus den von Kinsey im Jahre 1953 veröffentlichten Materialien über Männer (M) und Frauen (F). Die Spanne der prozentualen Angaben resultiert aus unterschiedlichen Verteilungen in bestimmten Untergruppen der sieben Kategorien. Diese Kategorien selbst sind in mancher Hinsicht etwas willkürlich, die Skala sollte deshalb eher als Kontinuum verstanden werden.
 



Als diese Ergebnisse zum erstenmal veröffentlicht wurden, erregten sie in der Öffentlichkeit großes Aufsehen. Viele Menschen weigerten sich, die große Anzahl der berichteten homosexuellen Kontakte zu akzeptieren. Selbst heute noch bezweifeln verschiedene Experten, dass die Zahlen repräsentativ sind. Allerdings hat sie bis heute kein Forschungsergebnis widerlegt. Die Arbeit Kinseys mag einige Irrtümer enthalten und zeitgebunden sein, sie ist aber bis heute noch die zuverlässigste Untersuchung über die Häufigkeit homosexuellen Verhaltens.


Eine heute erstellte Studie könnte sehr wohl ergeben, dass die Zahl derer, die sich homosexuell verhalten, noch sehr viel größer ist (besonders bei den Frauen). Der größte Schock für die Öffentlichkeit war jedoch die Schlussfolgerung, die Kinsey aus seinen Erkenntnissen zog. Bis dahin war es üblich gewesen, „Heterosexuelle" und „Homosexuelle" als zwei verschiedene Menschenklassen anzusehen. Man bezeichnete „Homosexuelle" gelegentlich als „sexuell Invertierte", „psychosexuelle Hermaphroditen" oder „das dritte Geschlecht". Man glaubte, sie litten an einer besonderen Krankheit, „Homosexualität" genannt, und seien daher vom Rest der Menschheit deutlich verschieden. Homosexuelle, die sowohl mit Männern als auch mit Frauen Geschlechtsverkehr hatten, bezeichnete man als getarnte Homosexuelle, die irgendwie „mogelten". Angesichts der wissenschaftlichen Ergebnisse wurden all diese Vorurteile aber gegenstandslos. Die Statistiken zeigten einfach, dass „Heterosexualität" und „Homosexualität" keine klar umrissenen, trennbaren und unvereinbaren Eigenschaften sind. Kinsey hat es einmal so ausgedrückt, dass es falsch sei, „zwischen zwei deutlich verschiedenen Gruppen, Heterosexuellen und Homosexuellen, zu unterscheiden. Man kann die Welt nicht in Schafe und Ziegen einteilen. Nicht alle Dinge sind schwarz oder weiß . . . Die Natur kennt keine scharfen Einteilungen. Nur der Mensch erfindet Kategorien und versucht, die Wirklichkeit in verschiedene Schubfächer zu zwingen. Alles Leben ist in jeder Hinsicht ein Kontinuum. Je früher wir dies im Hinblick auf das menschliche Sexualverhalten lernen, um so eher werden wir die Wahrheit über die Sexualität begreifen."


Kinsey führte weiter aus, welche Folgerungen dieser neue Ansatz nahelegt: „Man könnte über diese Dinge wesentlich präziser nachdenken, wenn Menschen nicht als heterosexuell oder homosexuell bezeichnet würden, sondern als Individuen mit einer bestimmten Anzahl heterosexueller Erfahrungen und einer bestimmten Anzahl homosexueller Erfahrungen. Statt diese Begriffe als Hauptwörter zu verwenden, mit denen Personen bezeichnet werden, oder als Adjektive, die Menschen beschreiben, sollten sie eher dazu verwandt werden, die Form der sexuellen Beziehung oder die Stimuli, auf die ein Mensch erotisch reagiert, zu charakterisieren."


Diese Feststellung trifft den Sachverhalt genau, weil das „Problem Homosexualität" zumindest zum Teil durch die Gedankenlosigkeit und die sprachliche Schlamperei derer verursacht wird, die über sie sprechen. Um nur ein Beispiel zu geben: In der Armee, im Gefängnis, in psychiatrischen Anstalten werden Menschen manchmal als „Homosexuelle" etikettiert, wenn man feststellt, dass sie eine einzelne homosexuelle Erfahrung gemacht haben. Denjenigen, die solche Etiketten vergeben, fällt es jedoch nicht auf, dass auch jeder Mensch mit nur einer einzelnen heterosexuellen Erfahrung als „Heterosexueller" bezeichnet werden müsste, würde man sich dieser Logik anschließen.


Dabei geht es allerdings nicht nur um Wortspielereien. In einigen Ländern kann ein Mann ins Gefängnis kommen, seine Arbeit und seinen Beruf verlieren und amtlich als „sexueller Psychopath" registriert werden, und das aufgrund eines einzigen homosexuellen Kontakts. Heranwachsende, die man bei homosexuellen Handlungen ertappt, werden von ihren Freunden und Verwandten als „Schwule" bezeichnet und werden so zu sexuellen und sozialen Einzelgängern. Das kann zur Folge haben, dass man ihnen jegliche Chance nimmt, ihre heterosexuellen Fähigkeiten zu entwickeln. Ein glücklich verheirateter „Familienvater", der etwa in alkoholisiertem Zustand in einer kompromittierenden Situation mit einem anderen Mann angetroffen wird, wird so nur allzu oft von seinen Mitmenschen als „auch so einer" abgestempelt.


Abgesehen davon, dass eine solche Etikettierung sozial zerstörend wirkt, ist sie auch unlogisch. Wie bereits gesagt, wird niemals in umgekehrter Weise etikettiert, das heißt eine einzelne heterosexuelle Erfahrung scheint niemals auszureichen, um jemanden als „heterosexuell" zu bezeichnen. Darüber hinaus untergräbt ein solcher Wortgebrauch sein eigenes Ziel, indem er die Anzahl der „Homosexuellen" noch vergrößert und die „Homosexualität" als weit verbreiteten „Zustand" erscheinen lässt.


Andererseits ist es aber auch nicht sinnvoll, mit dem Wort „homosexuell" nur den relativ kleinen Personenkreis zu bezeichnen, der sich ausschließlich dem eigenen Geschlecht zuwendet (Kategorie 6). In diesem Falle müsste man logischerweise auch nur die Menschen als „heterosexuell" einstufen, die ausschließlich auf das andere Geschlecht reagieren (Kategorie 0). Daneben bliebe kein Raum für die große Zahl von Menschen, die sich zu beiden Geschlechtern hingezogen fühlen (Kategorien 1-5).


Schließlich müssen wir uns bewusst sein, dass sich selbst bei ein und demselben Menschen die Balance zwischen hetero- und homosexuell über eine Zeitspanne hin in die eine oder andere Richtung verschieben kann. Es gibt Menschen, die im Laufe ihres Lebens eine Zeitlang ausschließlich heterosexuelle, zu einer anderen Zeit ausschließlich homosexuelle Interessen haben. Andere Menschen zeigen beide Verhaltensweisen mit unterschiedlicher Intensität. Aus diesem Grunde ist es falsch, die Gesamtheit der Bevölkerung in „Heterosexuelle" und „Homosexuelle" einzuteilen. Genauso falsch ist es, ein Individuum als „heterosexuell" oder „homosexuell'' zu bezeichnen. Es ist praktisch unmöglich anzugeben, wieviele Menschen „heterosexuell" und wieviele „homosexuell" sind. Es ist lediglich möglich zu entscheiden, wieviele Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt den einzelnen Kategorien der Kinsey-Skala zuzuordnen sind. Auf die Frage, „Wieviele Homosexuelle gibt es?" oder „Bin ich ein Homosexueller?" gibt es keine sinnvolle wissenschaftliche Antwort.


Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass in unserer Gesellschaft Menschen als Heterosexuelle oder Homosexuelle bezeichnet werden. Selten erheben die Betroffenen dagegen Einspruch. Zum Zweck des besseren Verständnisses benutzen selbst Fachleute diese Bezeichnungen noch, wenn sie sie auch möglicherweise verschieden definieren.


Wenn wir uns also von der allgemeinen Diskussion nicht ausschließen wollen, müssen wir uns für das vorliegende Buch zu einem Kompromiss entschließen. Denn diese Sprachgewohnheiten haben, so unpräzise sie auch sein mögen, doch einige Vorteile. Sie können dazu beitragen, bestimmte Auseinandersetzungen zu vereinfachen und dringende soziale Probleme zu artikulieren. Mit anderen Worten: solange ihr willkürlicher Charakter verstanden wird, kann die traditionelle Terminologie einige nützliche Zwecke erfüllen.


In diesem Sinn wird vorgeschlagen:


• Das Wort heterosexuell soll Menschen bezeichnen, die eine klare erotische Vorliebe für das andere Geschlecht haben (Kategorien 0-2 der Kinsey-Skala).


• Das Wort homosexuell soll Menschen bezeichnen, die eine klare erotische Vorliebe für das eigene Geschlecht haben (Kategorien 4-6 der Kinsey-Skala).


• Das Wort ambisexuell soll Menschen bezeichnen, die erotisches Interesse an beiden Geschlechtern haben (Kategorien 1-5 der Kinsey-Skala).


Es fällt auf, dass sich die dritte Definition mit den beiden anderen teilweise überschneidet. Das heißt, dass die Bezeichnung „ambisexuell" (von lat. ambo; beide) sich auf „Heterosexuelle" und auf „Homosexuelle" beziehen kann. Dieser Widerspruch ist unvermeidlich, es sei denn, man wollte nur solche Personen als ambisexuell bezeichnen, deren erotisches Interesse zu gleichen Teilen auf beide Geschlechter gerichtet ist (Kategorie 3). Dieser Wortgebrauch hat sich jedoch nirgends durchgesetzt. Einige Personen können also in dem einen Zusammenhang als „heterosexuell" (oder „homosexuell") und in einem anderen als „ambisexuell" bezeichnet werden.


Da die hier verwendeten Bezeichnungen sich an der Kinsey-Skala orientieren, muss noch einmal betont werden, dass dieser Skala nicht die Summe der möglichen sexuellen Aktivitäten zugrunde liegt, sondern dass es nur um das Verhältnis zwischen heterosexuellem und homosexuellem Verhalten geht. Das bedeutet, dass Menschen, die die gleiche Anzahl homosexueller Erfahrungen haben, in verschiedenen Kategorien eingeordnet werden können. Danach wird eine Person, die zehn homosexuelle und nur fünf heterosexuelle Erlebnisse hatte, als „homosexuell" bezeichnet, während eine andere Person, die gleichfalls zehn homosexuelle Erlebnisse, aber 50 heterosexuelle Erlebnisse hatte, als „heterosexuell" bezeichnet wird. (Je nach Zusammenhang können natürlich auch beide als ambisexuell bezeichnet werden.)


Schließlich muss noch darauf hingewiesen werden, dass das hier verwandte Wort „Erlebnis" sich nicht nur auf den Vollzug sexueller Kontakte, sondern auch auf die psychische Reaktion bezieht. So ist ein Mann, dessen augenscheinliche sexuelle Aktivität ausschließlich heterosexuell ist, möglicherweise dennoch als „homosexuell" zu bezeichnen, wenn er psychisch weit häufiger und intensiver auf Männer als auf Frauen reagiert. Aus diesem Grunde kann das Wort „homosexuell" auch auf jemanden angewendet werden, der überhaupt nicht sexuell „aktiv" ist. (In älteren Büchern wurde dies manchmal als „latente Homosexualität" bezeichnet (von lat. latere: verborgen sein).) Leider bezeichnete dieser Ausdruck immer wesentlich mehr als unerfüllte oder geheime Wünsche. Er wurde auch dazu benutzt, unbewusste, nicht erkannte homosexuelle Neigungen zu bezeichnen. Da jedoch diese Neigungen im Grunde genommen bei jedem Menschen vorhanden sind, ist die Bezeichnung „latenter Homosexueller" auch nicht sinnvoller als Ausdrücke wie „latenter Raucher", „latenter Vielfraß" oder „latenter Schwarzfahrer".


All diese Ausführungen muss man im Gedächtnis behalten, wenn man von „Homosexualität" als einer sexuellen Orientierung spricht. Die bloße Tatsache, dass solche Einschränkungen notwendig sind, bestätigt nur, was in diesem Buch bereits gesagt wurde: Die sexuelle Orientierung von Männern und Frauen wird am ehesten durch relative, nicht aber durch absolute Begriffe verständlich gemacht, genau wie ihr biologisches Geschlecht oder ihre Geschlechtsrolle. Wie in Teil I des Buches bereits beschrieben wurde, sind Männlichkeit und Weiblichkeit, Maskulinität oder Femininität, Heterosexualität oder Homosexualität immer eine Frage des Ausprägungsgrades.


Es gibt noch einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt, der an dieser Stelle ausführlicher berücksichtigt werden sollte: Besonders in unserer Gesellschaft ist das Wort „homosexuell" nie ein neutraler, formaler Ausdruck gewesen, Wie vorsichtig man ihn auch immer anwendet, er weckt in jedem Menschen bestimmte persönlich und sozial gefärbte Assoziationen. Im wirklichen Leben werden Menschen nicht aufgrund der statistischen Verteilung der von ihnen geäußerten sexuellen Interessen als „homosexuell" bezeichnet, sondern weil sie einem gängigen Stereotyp zu entsprechen scheinen. Die meisten Leute glauben eben zu wissen, wie ein Homosexueller auszusehen und sich zu verhalten habe. Diese Auffassung ist jedoch meist von der Wirklichkeit weit entfernt. Es gibt zum Beispiel die weit verbreitete Meinung, dass Homosexualität auf der Annahme einer falschen Geschlechtsrolle beruhe. Man glaubt einfach, dass männliche Homosexuelle sich wie Frauen benehmen und weibliche Homosexuelle Männer zu imitieren versuchen. Aufgrund solch irriger Vorstellungen glauben dann einige Eltern, sie brauchten nur ihren Sohn daran zu hindern, sich „weibisch" zu verhalten, und ihre Tochter abzuhalten, ein „Wildfang" zu werden, um zu verhüten, dass sie homosexuell werden.


Seltsamerweise hat das Studium verschiedener Kulturen ergeben, dass diese Vorstellung nur in bestimmten Gesellschaften auftaucht. In einigen antiken griechischen Stadtstaaten wurde zum Beispiel männliche Homosexualität nicht mit Schwäche und weibischem Gebaren assoziiert, sondern mit Männlichkeit, Tapferkeit und Heldenmut. So sagt man zum Beispiel, dass die berühmteste aller griechischen Elitetruppen, die „Heilige Schar von Theben", die schließlich von Philipp von Mazedonien besiegt wurde, nur aus Liebespaaren bestanden habe.


Dieses Beispiel zeigt, dass das soziale Klischee vom „Homosexuellen" je nach Zeit und Ort erheblichen Veränderungen unterliegt. Hier zeigt sich auch wieder, dass es so etwas wie den „typischen" Homosexuellen nicht gibt und dass es keinen Sinn hat, von einer „homosexuellen Persönlichkeit" zu sprechen. Die Tatsache, dass es in verschiedenen Kulturen unterschiedliche, sogar gegenteilige Auffassungen von der Homosexualität gibt, zeigt, dass sie kein bestimmter, unveränderlicher, klar bestimmbarer Zustand ist. Homosexuelle sind nicht durch irgendwelche besonderen Wesenszüge definiert, sondern durch das Bild, das sich die Menschen von ihnen machen.


Das ist auch der Grund dafür, warum Kinsey keine andere Wahl blieb, als den Gegenstand in wertfreier, rein deskriptiver Form zu behandeln. Er war zu der Einsicht gezwungen, dass sehr viele Menschen homosexuellen Verkehr haben, von denen aber nur ein Bruchteil je als homosexuell bezeichnet wird. Kinsey sah ein, dass die Entscheidung darüber, wer als homosexuell zu betrachten sei, immer willkürlich ist und dass sie ganz und gar von sozialen Konventionen abhängt. Diese Konventionen entscheiden auch darüber, ob Homosexualität mit Schwäche oder Stärke, Sünde oder Rechtschaffenheit, Ketzerei oder Rechtgläubigkeit, Geisteskrankheit oder geistiger Gesundheit gleichgesetzt wird. Das heißt, die Homosexualität als solche kann weder ein moralisch noch rechtlich oder medizinisch definierter Zustand sein, sondern sie ist ein zugewiesener Status. Sie ist eine soziale Kategorie oder ein Etikett, mit dem bestimmte Personen in bestimmten Situationen belegt werden. Homosexuell sein heißt, die Rolle des Homosexuellen, wie sie in einer bestimmten Gesellschaft verstanden wird, zu spielen.


Interessanterweise gibt es die Rolle des „Homosexuellen" in manchen Gesellschaften nicht, wenngleich homosexuelles Verhalten dort durchaus verbreitet sein mag. Wenn dieses Verhalten nicht als ungewöhnlich betrachtet und ausgesondert wird, dann wird es auch niemals zum Problem für den einzelnen oder die Gesellschaft. So wissen wir zum Beispiel, dass bei bestimmten Naturvölkern, wie den Siwah in Afrika, den Aranda in Australien und den Keraki in Neuguinea, im Grunde genommen alle Männer sowohl heterosexuellen als auch homosexuellen Verkehr hatten. Offensichtlich machte man bei diesen Völkern keinen Unterschied zwischen Heterosexuellen und Homosexuellen. Natürlich wäre die Kinsey-Skala immer noch anwendbar, sie würde jedoch, zumindest für die Männer, nur unterschiedliche Grade ambisexuellen Verhaltens (Kategorien 1-5) aufweisen. An den heterosexuellen und homosexuellen Extremen der Skala gäbe es einfach nichts aufzuzeichnen (Kategorien 0 und 6).


Man kann begründet annehmen, dass selbst in unserer westlichen Zivilisation die Abgrenzungen nicht immer so deutlich waren wie heute. In der griechischen Antike zum Beispiel wurde homosexueller Verkehr als Bestandteil männlichen Geschlechtsverhaltens weitgehend als normal empfunden. Vor allen Dingen sah man darin keinen Hinderungsgrund für Ehe und Vaterschaft. Selbst das Wort „Homosexualität" war unbekannt. Statt dessen sprach man von Päderastie (wörtl,: Knabenliebe; von griech. pais: der Knabe, oder hier eher der männliche Jugendliche, und griech. erastes: der Liebhaber). Päderastie wurde als sozial löblicher und gesellschaftlich nützlicher Brauch gefördert, aber weder von dem älteren Liebhaber noch von dem jüngeren Geliebten nahm man je an, sie könnten keine Beziehung zu Frauen haben. Das bedeutet, dass das Wort „homosexuell" auf die alten Griechen nicht anwendbar gewesen wäre. Wenn man sie überhaupt mit einem modernen Ausdruck klassifizieren will, scheint das Wort „ambisexuell" noch das genaueste zu sein.


Selbst im Europa des Mittelalters, als man homosexuelle Akte als Sünde verdammte, sah man in ihnen nicht unbedingt den Beweis einer „homosexuellen Veranlagung". Wenn Menschen wegen Sodornie (so genannt nach der biblischen Stadt Sodom) bestraft wurden, so ging man immer davon aus, dass sie sehr wohl zu „ordentlichem" heterosexuellem Verhalten fähig seien. Gleichzeitig muss man auch bedenken, dass nur ganz bestimmte Handlungen, wie Anal- oder Oralverkehr, bestraft wurden. Liebe und Zärtlichkeit zwischen Männern in anderer Form riefen kaum Misstrauen hervor. Erst in der Moderne fing man an, Personen mit gleichgeschlechtlichem Verhalten als einen grundsätzlich verschiedenen Menschentyp zu betrachten. Man nahm an, dass der Durchschnittsmann oder die Durchschnittsfrau erotischer Beziehungen zum gleichen Geschlecht nicht fähig seien. Solche Beziehungen wurden nun als Folge einer angeblich besonderen angeborenen Anlage ausgemacht. Die Psychiatrie fing an, sich mit dieser „Anlage" zu befassen und belegte sie mit verschiedenen exotischen Namen, bis man gegen Ende des 19. Jahrhunderts das neue Wort „Homosexualität" einführte. Diese Bezeichnung (wie der Gegenbegriff „Heterosexualität") fand alsbald weltweite Anerkennung und wurde in alle europäischen Sprachen übernommen. (Das Wort „Homosexualität" wurde 1869 von dem österreichischen Schriftsteller Kertbeny [Benkert] geprägt.)


Ein moderner Leser, dem weder Ursprung noch Geschichte dieses Begriffes bekannt sind, könnte seine wirkliche Bedeutung leicht missverstehen. Wir reden heute allzu leichtfertig von Homosexualität und Heterosexualität, und jeder scheint sofort zu wissen, was wir damit meinen. Wir täten jedoch gut daran, uns darüber klar zu werden, dass solche, sich gegenseitig ausschließende Kategorien von vornherein eine unzulässige Vereinfachung und Wertung darstellen. Tatsächlich konnten sie nur in einer repressiven Kultur entstehen, die das breite Spektrum menschlicher sexueller Ausdrucksformen nicht länger gelten lassen wollte. Jede Kultur, die eine scharfe Trennung zwischen Homosexuellen und Heterosexuellen vornimmt, verrät damit eine seltsam enge Auffassung von der menschlichen Natur. Sie ist blind gegenüber der wirklichen Vielfalt des Lebens und damit den Abstufungen und Nuancen menschlichen Sexualverhaltens.


Ohne repressive Erziehung, psychischen Druck und gesellschaftliche Sanktionen sind die Menschen zu sexuellen Reaktionen gegenüber beiden Geschlechtern fähig. Menschen, deren erotisches Interesse sich nur auf ein Geschlecht richtet, sind das Produkt einer gesellschaftlichen Konditionierung. Man kann sagen, dass Männer und Frauen, die sich ihrer homosexuellen Neigungen überhaupt nicht bewusst sind, ebenso Produkte ihrer Erziehung sind wie solche, die in keiner Weise auf das andere Geschlecht reagieren können. Damit soll natürlich nicht ausgesagt sein, dass in einer idealen Welt jedermann ambisexuell wäre. Deutliche sexuelle Vorlieben und eine bestimmte Exklusivität sexueller Interessen entwickeln sich wahrscheinlich ohnehin. Außerdem kann man, wie bereits an anderer Stelle bemerkt, bei den meisten Männern und Frauen annehmen, dass sich ihre Interessen überwiegend heterosexuell entwickeln. Es gibt keinen triftigen Grund, das zu bedauern. Man muss jedoch bedauern, dass viele Menschen sich ihres ursprünglichen Potentials nicht mehr bewusst sind und sich dennoch als den einzig richtigen Maßstab ihren Mitmenschen gegenüber präsentieren. Bedauerlich ist auch die Engstirnigkeit und Intoleranz, mit der so „einseitig" geprägte Menschen jeden behandeln, der anders ist als sie selbst. Dabei wissen wir, dass sich in unserer eigenen Kultur viele ausschließlich „Heterosexuelle" und „Homosexuelle" in Ablehnung oder Freundschaft gegenüberstehen. Die ersteren sind im allgemeinen stolz auf ihre ausschließlich heterosexuelle Orientierung, während man von den ausschließlich Homosexuellen erwartet, dass sie schuldbewusst und unterwürfig sind. Schließlich werden sie als gottlose, kriminelle und kranke „Abweichler" auch heute noch oft ganz selbstverständlich als Menschen zweiter Klasse behandelt. Es überrascht daher nicht, dass sie in der Vergangenheit oft wenig Selbstbewusstsein hatten. Die Wende zum Positiven ist hier relativ neu. Indem sie das frühere Schimpfwort „schwul" heute auf sich selbst anwenden, stellen sie das offizielle Wertsystem in Frage und fordern lang verweigerte Bürgerrechte. In mancher Beziehung ist das natürlich eine gesunde und gute Entwicklung. Sie hat aber auch negative Seiten, weil sie die bestehende Teilung der Menschen in zwei Lager bekräftigt. Einer zunehmend selbstbewussten, aber auch militanten „Schwulenwelt" werden vielleicht von den „Normalen" im Laufe der Zeit Zugeständnisse gemacht, so dass beide ein Verhältnis „friedlicher Koexistenz" erreichen. Aber man könnte dabei vergessen, dass diese Trennung künstlich ist und es immer war. In Wirklichkeit gehören „Schwule" und „Normale" in eine und dieselbe Welt, und solange sie dies nicht einsehen, werden sie sich selbst und die „anderen" weiterhin missverstehen.


In der Vergangenheit war es hauptsächlich die sozial dominierende heterosexuelle Bevölkerung, die sich ihre Homosexuellen schuf, indem sie bestimmte Personen so etikettierte, die ihren engen sexuellen Normen nicht entsprachen. Dies geschieht natürlich auch heute noch. Unter dem Einfluss einer homosexuellen Bürgerrechtsbewegung ergreifen neuerdings jedoch viele Männer und Frauen von sich aus die Initiative, indem sie sich selbst als „Schwule" bezeichnen. Sie entwickeln eine „schwule Identität", die es ihnen ermöglicht, selbstbewusst als Homosexuelle aufzutreten. Sie tun dies, weil sie „es satt haben, sich zu verstecken" und „ein Doppelleben zu führen".


Dennoch ist für viele „Homosexuelle" dieser Prozess der Selbstfindung langsam und mühevoll. Während jemand, der in der Öffentlichkeit einmal als Homosexueller abgestempelt ist, keine andere Wahl hat, als das Etikett zu akzeptieren, braucht der „heimliche" Homosexuelle unter Umständen Jahre, bis er sich selbst als „schwul" begreifen kann. Zunächst misst er seinen Neigungen vielleicht wenig Bedeutung zu und glaubt, er unterscheide sich gar nicht von seinen „normalen" Freunden. Wie wir gesehen haben, ist eine solche Auffassung ja auch durchaus berechtigt. Sie entspringt nicht fehlender Einsicht, sondern eher einer natürlichen Abneigung, abgestempelt und etikettiert zu werden. Diese Abneigung kann sich noch steigern, wenn er mit bestimmten, angeblich „typischen" Homosexuellen zusammengebracht wird, mit denen er sonst nichts gemein hat. Dieser Prozess des „coming out" (der homosexuellen Bewusstwerdung) kann daher recht verworren sein, voller Umwege und Sackgassen, falscher Ansätze und Niederlagen. Viele Menschen werden sich deshalb tatsächlich ihrer homosexuellen Neigung nie ganz bewusst. Einige verzichten vollständig auf sexuelle Kontakte; einige kultivieren ihre bescheidenen heterosexuellen Interessen so gut wie möglich; andere pflegen sowohl heterosexuelle als auch homosexuelle Beziehungen, halten sich aber für im Grunde „normal", und wieder andere haben ausschließlich homosexuellen Geschlechtsverkehr, sind aber davon überzeugt, dass sie dies nur aus nicht-sexuellen „legitimen" Gründen tun, zum Beispiel um als männliche Prostituierte Geld zu verdienen.

Viele Menschen, die heute (durch sich oder andere) als Homosexuelle etikettiert sind, nehmen schließlich einen „schwulen Lebensstil" an, das heißt, sie integrieren sich in eine Subkultur, die ihnen verschiedene vorgefertigte Rollen und Interaktionsmuster, Ideologien, Geschmacks- und Moderichtungen anbietet. Dieser vorgeprägte Lebensstil wird dann für die Bevölkerung oft zum Definitionskriterium für „Homosexualität". Angesichts der bereits zuvor erklärten Sachverhalte müsste jetzt aber deutlich geworden sein, dass man das Problem nicht in so oberflächliche Begriffe fassen kann, Wenn wir die Wahrheit über die „Homosexuellen" in unserer Mitte herausfinden wollen, müssen wir uns selbst und unsere Kultur in ihrer Gesamtheit untersuchen.


Schließlich muss noch festgestellt werden, dass zumindest in unserer Gesellschaft die zuvor erwähnten sozialen, rechtlichen und psychischen Probleme für männliche und weibliche Homosexuelle sehr verschieden sind. Aus diesem Grunde ziehen auch viele weibliche Homosexuelle die Bezeichnung „Lesbierinnen" vor (nach der Insel Lesbos, der Heimat der Sappho, einer homosexuellen Dichterin im klassischen Griechenland). Worte wie „lesbisch" oder „Lesbierin" sollen darauf hinweisen, dass weibliche Homosexuelle sich nicht mit allen Problemen männlicher Homosexueller identifizieren können und dass ihre Situation in vielerlei Hinsicht anders ist. Diese Frage (und die Sinnhaftigkeit eines besonderen Etiketts für weibliche Homosexuelle) wird an anderer Stelle ausführlicher diskutiert (vgl. Kap. 12.3 „Die sexuell Unterdrückten - Homosexuelle").


In den folgenden Abschnitten werden die verschiedenen Arten des homosexuellen Geschlechtsverkehrs kurz dargestellt. Das Wort „Geschlechtsverkehr" wird hier natürlich in demselben Sinn gebraucht wie in den vorausgegangenen Kapiteln. Schließlich sind die sexuellen Techniken von Homosexuellen und Heterosexuellen die gleichen. Leute, die fragen „Aber was machen denn die Homosexuellen eigentlich?", beweisen damit nur, dass es ihnen in ihrer eigenen heterosexuellen Beziehung an Phantasie fehlt. Diese Beschränktheit beweist einmal mehr, wie sehr Menschen dem erotischen Potential ihres eigenen Körpers entfremdet sein können. Sie ist ein weiteres Zeichen für die sexuelle Barbarei, die beide Gruppen, die „homosexuelle" und „heterosexuelle", in unserer Gesellschaft unterdrückt.


Die gesellschaftliche Einstellung gegenüber homosexuellem Verhalten wird ausführlicher in Teil III „Sexualität und Gesellschaft" des vorliegenden Buches behandelt, insbesondere im Kap. 12.3 „Die sexuell Unterdrückten -Homosexuelle".


 

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