Sexuelle Störungen

8. Sexuelle Störungen


Worte von „Störung" oder „Fehlanpassung" werden in unserer Gesellschaft oft missbraucht. Menschen, die in irgendeiner Weise als individualistisch, impulsiv, spontan, originell, neugierig, kritisch oder kreativ auffallen, werden oftmals von ängstlichen Konformisten allzu rasch als gestört bezeichnet. Tatsächlich ist jedoch oftmals eher der wohlangepasste Mensch, der ohne Auflehnung ungerechte und bedrückende Lebensumstände auf sich nimmt, derjenige, der ein Problem hat. In manchen Situationen ist es menschlicher und richtiger, eine „Störung" zu entwickeln.


Dies gilt besonders für die sexuelle Unterdrückung. Menschen, denen es keine Schwierigkeiten bereitet, ihre sexuellen Interessen zurückzustellen, die sich bereitwillig in enge traditionelle Rollenschemata fügen und die die öffentliche Sexualmoral nicht in Frage stellen, müssten eigentlich das Gemüt von Robotern haben; falls es solche Menschen überhaupt gibt, ist es gut vorstellbar, dass sie gefühllos oder vielleicht sogar gefährlich sind. Glücklicherweise gibt es diese vollständige Anpassung höchst selten. Selbst die frömmsten Puritaner waren nicht immer gegen Versuchungen gefeit. Wie sehr sie sich auch bemühten, sich ihrer eigenen rigiden Moral anzupassen -der Erfolg war nie von langer Dauer. Nach ihren eigenen unrealistischen Normvorstellungen hätten sie sich also durchaus manchmal als „gestört" bezeichnen müssen, aber tatsächlich war natürlich für solche Schuldgefühle wenig Anlass.


Unsere heutige Gesellschaft pflegt noch immer viele puritanische Traditionen, obwohl bei oberflächlicher Betrachtung der Eindruck entsteht, wir hätten uns von den meisten traditionellen Zwängen befreit. Unsere Moralvorstellungen, die Strafgesetze und die psychiatrischen Normen zeugen nach wie vor von einem unreflektierten und sehr engen Verständnis von Sexualität. So sind nach wie vor „Störungen" in einem gewissen Ausmaß unvermeidbar. Unter den gegebenen Umständen können deshalb nur sehr wenige Menschen behaupten, in ihrem Sexualleben vollkommen angepasst und glücklich zu sein.


Andererseits ist die Frage offen, ob vollständige sexuelle Befriedigung überhaupt möglich ist. Bis zu einem gewissen Ausmaß sind sexuelle Probleme vermutlich ein fester Bestandteil menschlicher Existenz. Sie sind vielleicht auch der Preis unserer Zivilisation. Wie dem auch sei, es scheint infantil und anmaßend, immer auf vollständiger Zufriedenheit zu bestehen. Ein erwachsener Mensch kann mit einem bestimmten Maß an Enttäuschungen umgehen. Er erwartet nicht, dass er mit seiner Umwelt in dauernder Harmonie lebt. Er muss lernen, Dinge zu verbessern, die er verändern kann, aber Dinge zu akzeptieren, die sich seinem Einfluss entziehen.


Angesichts der Unzulänglichkeiten der Welt und unter Berücksichtigung der unvermeidbaren Frustrationen, die sich aus unserer Kultur ergeben, sollte uns nicht jedes Anzeichen sexueller Gestörtheit in Aufregung versetzen. Schließlich ist gerade sie oftmals ein Ausdruck dafür, dass sich noch Leben regt. Deshalb gibt auch die freiwillige Unterdrückung aller persönlichen Bedürfnisse, ebenso wie das eigensinnige Bestehen auf ihrer vollkommenen Befriedigung, viel größeren Anlass zur Sorge. Die meisten Menschen finden hier


von sich aus ein vernünftiges Mittelmaß. Auch sie können sehr wohl an „Störungen" leiden. Die Hilfe von Fachleuten wollen oder benötigen sie jedoch nicht.


Es erscheint wichtig, diese Binsenweisheiten hier zu wiederholen, da die nachfolgenden Ausführungen sonst leicht missverstanden werden könnten. Wenn wir im weiteren verschiedene Formen sexueller Störungen untersuchen, bedeutet dies nicht in jedem Fall, dass es sich hier um „unnatürliche" Zustände, unmoralische Taten, strafbare Handlungen oder Krankheiten handelt, sondern wir tragen einfach der Tatsache Rechnung, dass bei manchen Menschen der „normale" Mangel an sexueller Konformität oder Befriedigung so groß werden kann, dass die Fähigkeit selbst zu einer einfachen persönlichen Beziehung erheblich beeinträchtigt ist. Das heißt, dass also bestimmte Menschen mit ihrer Sexualität solche Schwierigkeiten haben, dass ein Eingreifen von außen gerechtfertigt und wünschenswert erscheint. Hierbei kann das Eingreifen im Interesse des Betroffenen oder im Interesse des Partners liegen.


Natürlich ist hier nicht die Rede von körperlichen Mängeln, Fehlbildungen oder Behinderungen oder von Krankheiten im üblichen Sinn. Diese werden an anderer Stelle in diesem Buch eingehend besprochen. Statt dessen ist von Menschen die Rede, die körperlich vollkommen gesund sind, ihre sexuellen Probleme sind psychischer Natur. Manche Menschen leiden zum Beispiel an einer psychisch bedingten Beeinträchtigung ihrer sexuellen Reaktion. In der Fachsprache bezeichnet man sie als „sexuell funktionsgestört". Vielen kann eine bestimmte Form von Sexualtherapie helfen. Andere sind in ihrem Sexualverhalten so wenig flexibel, dass sie mit sich selbst unzufrieden und rücksichtslos gegen andere werden. Ihre sexuellen Handlungen sind dann oftmals eher frustrierende, selbstzerstörerische Rituale, oder sie verwandeln sich in offene Aggression. Ein solches Sexualverhalten ist sicher problematisch. In extremen Fällen müssen solche Menschen vom Gesetz in ihre Schranken verwiesen werden. Sehr häufig kann man ihnen jedoch mit bestimmten Formen der Psychotherapie helfen.


Schließlich gibt es gelegentlich Menschen, bei denen sich die sexuelle Störung auf die gesamte eigene Anatomie bezieht. Sie haben eine Geschlechtsidentität entwickelt, die zu ihrem biologischen Geschlecht im Widerspruch steht. Sie leben mit dem Gefühl, im falschen Körper gefangen zu sein, und können meist nicht eher glücklich werden, als bis dieser „Fehler" korrigiert worden ist. Nur eine „Geschlechtsumwandlung" kann hier oftmals das innere Gleichgewicht wieder herstellen. Diese sogenannten Transsexuellen sind natürlich für jede ärztliche Hilfe dankbar, die sie ihrem Ziel näher bringt.


Die folgenden Kapitel diskutieren zunächst einige Grundfragen der Sexualtherapie, geben dann grundlegende Informationen über sexuelle Funktionsstörungen, problematisches Sexualverhalten und Transsexualität. Die psychosoziale Dimension dieser Verhaltensformen wird ausführlicher im dritten Teil dieses Buchs „Sexualität und Gesellschaft" behandelt.


 

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