Genitalverkehr

7.2.3 Genitalverkehr


Genitalverkehr ist definiert als sexueller Kontakt zwischen den Geschlechtsorganen zweier Partner.


Die Geschlechtsorgane sind die empfindlichsten erogenen Zonen des menschlichen Körpers; daher ist für die überwiegende Mehrheit von Männern und Frauen der genitale Kontakt die bevorzugte Form des Geschlechtsverkehrs. Zudem ist die Vereinigung von Penis und Vagina anatomisch einfach. In unserer Kultur war Sexualität traditionsgemäß mit dem Zweck der Fortpflanzung eng verbunden. Daher wurde die Vereinigung von Penis und Vagina (lat. copulatio) lange Zeit hindurch als die einzig natürliche Form des Geschlechtsverkehrs angesehen. Manueller und oraler Verkehr wurden gelegentlich gestattet, solange die Partner ihn unter dem Vorsatz zum anschließenden Koitus praktizierten. Ohne diese Absicht galten diese Formen des Geschlechtsverkehrs als sündig. Diese Sünde war überdies in den meisten westlichen Ländern strafbar.


Als im Laufe des 19. Jahrhunderts Psychiater begannen, ihr Augenmerk auch auf das menschliche Sexualverhalten zu richten, wagten sie anfangs nicht, die herrschende Sexualmoral in Frage zu stellen. Wenngleich ihre Wortwahl neu und anders war, die Aussage blieb dieselbe: Jede Art nicht-koitaler Sexualität war falsch. Ohne jedoch auf die ewige Verdammnis zu warten, erklärten sie eine sofortige Bestrafung zu Lebzeiten: Masturbation, „Oralismus" und „Analismus" wurden so von religiösen Verstößen zu psychiatrischen Störungen. Die „Sünder" sahen sich plötzlich in Geisteskranke verwandelt.


Dennoch begann im Laufe der Zeit eine zunehmende Anzahl von Ärzten, die allgemeinen Auffassungen über den Zweck des Sexualverhaltens kritisch zu untersuchen. Im Ergebnis dieser Studien wurden sie mit ihren Ausführungen sehr viel vorsichtiger. Vieles zunächst als „pervers" oder „abnorm" Bezeichnete wurde jetzt nur noch „unreif" genannt und galt nicht mehr als sicheres Zeichen von Krankheit. Man ging sogar soweit, Masturbation und Oralverkehr als gesund und therapeutisch wertvoll zu betrachten. Selbst heutzutage gibt es jedoch noch traditionelle psychiatrische Arbeiten, die eine besondere Vorliebe für nicht-koitale Sexualität als „Perversion" beschreiben, die es zu korrigieren gelte. Die Mehrheit der modernen Psychiater teilt diese überholte Auffassung jedoch nicht. Sie sind eher an den subjektiven und objektiven Auswirkungen des Sexualverhaltens interessiert. Heute haben sich die Fachleute weitgehend darauf geeinigt, dass Bezeichnungen wie Krankheit, Perversion, Störung und Anomalie sehr eng gefasst und nur in folgenden Fällen angewandt werden sollten: wenn eine sexuelle Handlung der


Person, die sie ausführt, Schaden zufügt oder andere durch sie geschädigt werden. Sieht man die menschliche Sexualität von diesem Standpunkt aus, ist bei nicht-koitalem Geschlechtsverkehr zur Besorgnis kein Anlass. Andererseits kann der Koitus selbst in bestimmten Fällen, wie zum Beispiel bei einer Vergewaltigung, sehr wohl zu einem psychiatrischen (und juristischen) Problem werden (vgl. Kap. 8.3 „Problematisches Sexualverhalten").


Es ist natürlich anzunehmen, dass der genitale Geschlechtsverkehr immer die verbreitetste Form des Geschlechtsverkehrs bleiben wird. Er war dies in der Vergangenheit und wird es mit Sicherheit auch in Zukunft bleiben. Dennoch werden auch in unserer Gesellschaft, die sich erst langsam aus einer Periode der sexuellen Unterdrückung befreit, viele Paare erst lernen müssen, wie sie ihn vollkommen genießen können.


Die Apposition der Geschlechtsorgane


Wenn unverheiratete Jugendliche ihre ersten Erfahrungen mit dem Geschlechtsverkehr machen, vermeiden sie häufig das Einführen des Penis in die Vagina, weil sie eine unerwünschte Schwangerschaft fürchten oder weil das Mädchen seine „Jungfräulichkeit" erhalten will, So kann beispielsweise ein Mädchen seinen Freund dazu anregen, bekleidet auf ihr liegend Bewegungen wie bei einem Koitus durchzuführen. Die meisten Jungen kommen auf diese Weise rasch zu einem Orgasmus.


Wenn beide sich größere Freiheiten zugestehen, können sie einen Teil und schließlich fast die gesamte Kleidung ablegen. Dennoch kann das Mädchen auch weiterhin Angst vor Schwangerschaft, Zerstörung des Hymen, Blutungen, Schmerzen oder einer Infektion durch Geschlechtskrankheiten haben. Dann kann sie trotzdem ihrem Freund erlauben, seinen Penis an ihrer Vulva zu reiben, solange er nicht einzudringen versucht. Ein solches Aneinanderlegen der Geschlechtsorgane („Apposition") kann für beide Partner sehr angenehm sein. Mit etwas Übung können beide auf diese Weise zum Orgasmus kommen, denn der Penis wird direkt stimuliert, und durch seinen Druck auf bestimmte Bereiche der Vulva können die empfindliche Klitoris und die kleinen Schamlippen indirekt stimuliert werden. Selbst Paare, die normalerweise Koitus praktizieren, genießen gelegentlich diese einfache Form des Geschlechtsverkehrs .


Es wäre jedoch falsch, sie nur als Ersatz für den Koitus anzusehen. Manche Menschen betrachten sie durchaus als eine Form mit eigener Berechtigung und finden sie auf ihre Weise besonders erregend. So kann die Apposition der Geschlechtsorgane beispielsweise auf Cunnilinctus folgen, wenn die Vulva durch Speichel und vaginale Gleitflüssigkeit befeuchtet ist. Man kann jedoch auch besondere Gleitmittel verwenden, die die Geschlechtsorgane vor Überreizung schützen und die Erregbarkeit erhöhen.


Koitus


Das Wort Koitus (von lat. coire: zusammengehen) bezeichnet des Einführen des Penis in die Vagina. Der Koitus ist die am weitesten verbreitete Form des Geschlechtsverkehrs.


Es hat Gesellschaftsformen gegeben, in denen sich der sexuelle Kontakt zwischen Mann und Frau nur auf den Koitus beschränkte und jede Art von Präliminarien, Variationen und Improvisationen zu unterbleiben hatten. In diesen Gesellschaften wurde besonderer Wert auf die Fortpflanzungsfunktion der Sexualität gelegt und jede sexuelle Lust, besonders bei Frauen, missbilligt. Selbst heute gibt es in unserer Gesellschaft noch Männer, die nur die Vereinigung von Penis und Vagina interessiert und für die jede andere Art des Geschlechtsverkehrs überflüssig ist. Bei ihnen dauert ein Koitus möglicherweise nicht länger als ein paar Sekunden. Daher empfinden sie, abgesehen von einem schnellen Orgasmus, nur wenig sexuellen Genuss. Die Partnerinnen bleiben dabei oftmals unbefriedigt. Andererseits gibt es Paare, die aus ihrem Geschlechtsverkehr ein ausgedehntes und äußerst abwechslungsreiches Ritual machen. Für sie ist der Koitus nur eine von vielen Möglichkeiten, sich gegenseitig zu befriedigen.


Die Einführung verlässlicher Verhütungsmittel hat in neuerer Zeit viele Menschen von den Ängsten einer unerwünschten Schwangerschaft befreit. Dadurch hat auch das Interesse am Koitus zugenommen. Immer mehr Frauen bestehen auf ihrem Recht auf sexuelle Befriedigung; sie geben sich nicht mehr damit zufrieden, lediglich die Rolle eines „Sexualobjekts" zu spielen. Sie wollen aber nicht nur Lust empfangen, sondern auch geben. Anstatt lediglich auf Stimulation zu warten, werden sie zu gleichwertigen Sexualpartnern. Viele Paare werden sich inzwischen auch bewusst, dass es beim Koitus nicht eine „aktive" männliche und eine „passive" weibliche Rolle geben muss, sondern dass es wesentlich befriedigender ist, gemeinsam zu agieren oder die Initiative wechselweise zu ergreifen. So kommt dem Koitus ein neuer Stellenwert als zwischenmenschlichem Kommunikationsmittel zu.


Wie bei allen Formen des Geschlechtsverkehrs ist eine vollkommene gemeinsame Befriedigung auch beim Koitus fast immer das Ergebnis von Praxis und Erfahrung. Besonders junge Menschen neigen dazu, zu viel zu früh zu erwarten. Die meisten Jungen und Mädchen denken, träumen und reden sogar über ihren ersten Koitus, lange bevor er überhaupt stattfindet. Das kann dazu führen, dass sich ihre Hoffnungen, Ängste und Phantasien in Enttäuschung verwandeln, wenn es endlich zum wirklichen Erlebnis kommt. Ein gutes Beispiel ist die große Bedeutung, die der „Defloration", dem Zerreißen des Hymen, beim Mädchen zugemessen wird. Der Hymen kann bereits durch die Benutzung von Tampons, durch Masturbation oder bestimmte Sportarten zerstört worden sein. Dennoch bleibt er bei den meisten Frauen mehr oder weniger intakt und wird erst durch das erste Einführen des Penis in die Vagina zerrissen. Viele Jugendliche haben eine übertriebene und unrealistische Vorstellung von diesem Augenblick; sie ängstigen sich manchmal sogar jahrelang davor. So kann ein Junge darum besorgt sein, ob sein Penis auch hart genug wird, um den Hymen zu durchstoßen, und ein Mädchen kann schmerzhafte körperliche Verletzungen befürchten. Keine dieser Sorgen ist gerechtfertigt. Es gibt keinen Grund für den Mann, brutal vorzugehen, weil der Hymen normalerweise leicht zerreißt. Ein allmähliches, langsames und behutsames Vorgehen ist sicher am günstigsten. Frauen können hingegen ein gewisses Unbehagen oder leichte Blutungen spüren, sie sollten sich aber nicht vor großen Schmerzen fürchten. Nur in sehr seltenen Fällen stellt sich heraus, dass der Hymen zu stark für eine Penetration ist. Dann kann ein Arzt durch einen kleinen chirurgischen Eingriff das Problem lösen.


Im allgemeinen sind die Partner am besten beraten, wenn sie den Koitus nicht unvorbereitet und übereilt beginnen, sondern sich Zeit lassen, um sich allmählich darauf einzustellen. Sie können den Genuss zum Beispiel erheblich erhöhen, indem sie zunächst eine Form des manuellen oder oralen Verkehrs praktizieren. In jedem Fall sollte man erst dann zum Koitus übergehen, wenn die Vagina genügend eigene, natürliche Gleitflüssigkeit abgesondert hat. Ohne diese Gleitflüssigkeit kann der Koitus für beide Partner schmerzhaft werden.


Ist die Vagina der Frau ausreichend angefeuchtet, kann der Mann langsam den Penis einführen. Es ist nicht notwendig, sofort tief einzudringen; denn die Frau kann trotz ihrer Erregung noch ein wenig angespannt sein. In diesem Fall kann der Mann ihr helfen, sich zu entspannen, indem er nur die Spitze des Penis im äußeren Teil der Vagina langsam vor und zurück bewegt. Wenn sich die Frau dann bereit fühlt, kann sie durch Bewegungen des Beckens die Penetration vertiefen. Spontane Bewegungen des Beckens beim Geschlechtsverkehr sind bei allen Säugetieren zu beobachten; sogar beim menschlichen Säugling treten sie auf, wenn er beginnt, seine sexuellen Fähigkeiten zu entdecken. So instinktiv dieses Verhalten auch sein mag, erfahrene Liebhaber können es erheblich vervollkommnen.


Männer mit einer begrenzten sexuellen Erfahrung könnten annehmen, gleichmäßig tiefe und rasche Stöße hätten die größte Wirkung. Dies ist jedoch in Wirklichkeit nur selten der Fall. Zumindest zum Beginn des Koitus finden beide Partner es meist angenehmer, wenn der Mann sich langsam bewegt und ein zu tiefes Eindringen zunächst vemeidet. Er kann viel lernen, wenn er die Initiative zunächst der Frau überläßt. In den meisten Fällen werden ihr langsame Bewegungen am angenehmsten sein, bei denen der Penis jeweils aus dem Scheideneingang herausgezogen wird, bevor er erneut tief eindringt. Der Grund hierfür ist einfach: Mit steigender sexueller Erregung erweitert sich der innere Teil der Vagina, während sich das äußere Drittel durch die zunehmende Durchblutung verengt. Es ist also das äußere Drittel der Vagina (die sogenannte orgastische Manschette), das durch den Penis am stärksten stimuliert wird.


Es sollte auch erwähnt werden, dass viele Frauen lernen können, die Muskeln am Scheideneingang zu kontrollieren. Sie können so einen festen Ring um den Penis formen und dadurch die gemeinsame Stimulierung erhöhen, Frauen mit einem weiten und erschlafften Scheideneingang, denen diese Muskeln nicht bewusst sind, oder bei denen sie unterentwickelt sind, können diesen Zustand durch richtiges Training verbessern. (Vgl. Kap. 8.2,2 „Sexuelle Funktionsstörungen bei der Frau".)


Während Mann und Frau mit dem Koitus fortfahren, beschleunigen sich normalerweise auch die Bewegungen ihrer Becken, und der Penis dringt tiefer in die Scheide ein. Gelegentlich gehen diese Bewegungen nur von einem Partner aus, während der andere relativ passiv bleibt, ein andermal bewegen sich beide Partner gemeinsam. Innerhalb des allgemeinen Rhythmus werden die Bewegungen sehr unterschiedlich, einmal tief, dann wieder flach; auch kann der Penis sich tief in der Vagina durch kreisende Bewegungen der Hüften drehen.


Nur die Erfahrung lehrt ein Paar, wie beide den größten Lustgewinn beim Koitus erfahren können. Wenn jeder die Reaktionen des anderen aufmerksam beobachtet, werden beide schnell feststellen, wie sie einander am besten befriedigen können. Kein noch so erfahrener technischer Ratgeber kann so viel vermitteln, wie die unmittelbare praktische Erfahrung und die offene Kommunikation der Partner. Besonders die Frau sollte sich nie davor scheuen, dem Mann genau zu sagen, wie sie stimuliert werden möchte, und sich dabei immer bewusst sein, dass sie im gemeinsamen Interesse handelt, wenn sie sich ungezwungen ihren eigenen sexuellen Gefühlen hingibt. Während der Mann vielleicht versuchen wird, den Zeitpunkt für seinen Orgasmus zu kontrollieren und hinauszuzögern, braucht eine Frau sich nie zurückzuhalten. Denn sie kann möglicherweise, solange die Erektion eines Mannes anhält, mehrere Orgasmen haben.


Leider wird vielen Männern und Frauen die Lust am Koitus dadurch verringert, dass sie den Orgasmus überbewerten. Da ein Mann weiß, dass er relativ schnell zum Orgasmus kommen kann, muss er Rücksicht nehmen, dass auch seine Partnerin befriedigt wird. Eine Frau hingegen kann fürchten, ihr Orgasmus komme nicht früh genug oder sie werde vielleicht gar keinen Orgasmus haben. Solche Ängste können das Verständnis zweier Partner stark beeinträchtigen und eine sexuelle Beziehung schließlich ganz unmöglich machen.


Es scheint, dass die meisten Paare sehr viel mehr sexuelles Glück erfahren könnten, wenn sie sich mehr auf den Koitus selbst als auf seinen möglichen Ausgang konzentrierten. Es gibt keine Vorschrift, dass das Ziel jeder sexuellen Begegnung ein Orgasmus sein müsse. Denn wo es um die Liebe geht,


sollte man sich niemals unter den Druck irgendwelcher Leistungen und Ziele setzen. Es ist das gemeinsame körperliche Erlebnis, das beim Koitus zählt, nicht der „Höhepunkt" oder ein „erfolgreiches" Finale. Für erfahrene Liebende ist der kunstvolle Aufbau von Spannung wichtiger als deren möglicher Abbau. Orgasmus ist etwas, das sich auf dem Höhepunkt sexueller Erregung ganz von selbst ergibt; er ist kein Preis, um den man kämpfen muss und den es zu gewinnen gilt.


In verschiedenen älteren Ehebüchern wurden die Partner nicht nur dazu angehalten, einen Orgasmus anzustreben, sondern der Orgasmus sollte von beiden Partnern möglichst zum gleichen Zeitpunkt erreicht werden. Die Belohnung dafür sollte dann vollkommene Ekstase sein. In der Praxis brachte dieser Rat jedoch wesentlich mehr Nach- als Vorteile. Denn zunächst lag das Hauptgewicht nicht mehr auf dem Koitus selbst, sondern auf dessen Ergebnis. Beide Partner waren dadurch unter Umständen gezwungen, beherrscht und kontrolliert zu bleiben, um sich zu synchronisieren und den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen. So kamen sie dann oft überhaupt nicht zum Orgasmus. Schließlich betrachteten sich Männer und Frauen, denen es nicht gelungen war, ihre Reaktionen in Übereinstimmung zu bringen, womöglich als funktionsgestört.


Diese rein technische Einstellung zum Koitus ist glücklicherweise inzwischen etwas aus der Mode gekommen. Heute sind die meisten „Sexualexperten" der Meinung, dass gleichzeitiger Orgasmus nicht den wesentlichen Beweis einer intakten sexuellen Beziehung darstellt. So gewinnt die Erkenntnis an Boden, dass es besser ist, sich um den Orgasmus überhaupt keine Gedanken zu machen. Statt dessen lernen die Partner, jeden Augenblick ihres Zusammenseins zu genießen, ohne dabei etwas Bestimmtes leisten oder beweisen zu müssen. Es stellt sich dabei heraus, dass dieses langsame, nicht-fordernde Liebesspiel die tiefste Befriedigung bringt. Oft kann es auch dazu beitragen, sexuelle Hemmungen abzubauen und so das ganze erotische Potential eines Menschen freizulegen. Und es führt gleichzeitig zu häufigeren Orgasmen.


In der Vergangenheit verlangte man von guten Christen, dass sie beim Koitus nur eine einzige Stellung einnähmen: Die Frau hatte auf dem Rücken und der Mann, sie anblickend auf ihr zu liegen. Die weniger gehemmten „Heiden" Afrikas, Asiens und der Pazifischen Inseln machten sich über diese Stellung lustig und bezeichneten sie als „Missionarsstellung". Durch die zunehmenden Kontakte zwischen den Kulturen im 19. Jahrhundert begannen Europäer und Nordamerikaner zu verstehen, dass ihre Einstellung zur Sexualität unnötig starr war. Sie begannen, antike griechische Vasenbilder, römische Wandmalereien, chinesische Pergamentrollen, japanische Holzschnitte und indische Liebesbücher nach neuen, erregenden Koitusstellungen zu durchforschen. Ihre Entdeckungen führten bald zu dem begeisterten Glauben, man habe lange verlorene Geheimnisse wahrer sexueller Erfüllung wiedergefunden.


Aber ebenso wie Routine und starres Festhalten an bestimmten Verhaltensmustern in sexuellen Dingen schlecht sind, liegt auch in immer neuen athletischen Verrenkungen kein garantiertes Glück. Es gibt auch beim Koitus keine maximale, unübertreffliche oder auch nur natürlichste Stellung. Deshalb wird in den Eheberatungsbüchern der jüngeren Zeit der Beschreibung von Koituspositionen kein besonders breiter Raum mehr gewidmet. Phantasievolle Sexualpartner, die bemüht sind, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu verstehen und zu befriedigen, werden ihre Stellungen spontan so wählen, wie es die Gelegenheit ergibt. Eingehende Beschreibungen solcher Stellungen sind überflüssig und können sogar nachteilig sein, weil dadurch die Vorstellung unterstützt würde, der Koitus sei ein rein mechanischer Vorgang.


Wahrscheinlich ist es unklug, überhaupt irgendwelche bestimmten Stellungen beim Koitus zu beschreiben. Ein Koitus besteht immer aus einer Folge von Bewegungen, die sich zu einem geschlossenen Ganzen verbinden. Die meisten Partner wechseln ohne Vorausplanung oder bewusste Absicht von der einen zur anderen Position. Es mutet pedantisch an, zehn, zwölf, 20 oder mehr bestimmte Positionen auszuwählen und jeder einzelnen eine besondere Bedeutung beizumessen. Natürlich kann man eine Reihe grundlegender Positionen des Koitus unterscheiden, aber ihre Anzahl ist wirklich sehr begrenzt: Die Partner können stehen, sitzen oder liegen; sie können einander zugewandt sein, oder die Frau kann dem Partner den Rücken zukehren; die Partner können aufeinander liegen, beide können aber auch auf der Seite liegen.


Man nahm früher an, bestimmte Positionen seien besonders wirkungsvoll, weil sie es dem Mann ermöglichten, die Klitoris der Frau mit seinem Penis zu stimulieren. Aus diesem Grund hielt man auch bestimmte andere Stellungen für weniger wirkungsvoll, bei denen diese Möglichkeit nicht besteht. Die moderne Sexualforschung hat herausgefunden, dass beide Auffassungen falsch sind. Wie bereits mehrfach betont, zieht sich mit zunehmender Erregung die Klitoris unter ihre Vorhaut zurück und ist dann für direkte Stimulation nicht mehr zugänglich. Sie wird jedoch indirekt, durch die Bewegungen der umgebenden Gewebe, angeregt. Dies wiederum wird durch die Bewegungen des Penis bewirkt, die sich auch auf die kleinen Schamlippen übertragen. Eine solche indirekte Stimulierung ist deshalb fast immer gegeben. Dabei ist es nicht ausschlaggebend, in welchem Winkel der Penis eingeführt wird.


Es gibt indes eine Stellung, die die Frau als besonders befriedigend empfinden kann, da sie ihr fast vollständige Kontrolle über die Bewegungsabläufe beim Koitus gibt: auf dem Mann sitzend, der in einer eher passiven Stellung auf dem Rücken liegt. Bei den Griechen und Römern war diese Stellung besonders beliebt, sie galt dort als „Normalstellung". Heute wird sie von Sexualtherapeuten häufig empfohlen, weil sie für Mann und Frau als günstige Methode zur Überwindung sexueller Störungen gilt.


Manche Frauen ziehen es jedoch vor, eher selbst passiv zu bleiben, auf dem Rücken zu liegen und das Gewicht des Mannes auf sich zu spüren. Für sie kann die „Missionarsstellung" tatsächlich am angenehmsten sein. In dieser Position mit gespreizten Beinen kann der Penis sehr tief in die Vagina eindringen. Das erhöht auch die Chancen einer Schwangerschaft, denn die ejakulierte Samenflüssigkeit bildet dicht vor der Cervix eine Ansammlung, Die Frau kann die Befruchtung noch begünstigen, indem sie nach dem Koitus für eine Weile einfach auf dem Rücken liegenbleibt. Die tiefe Penetration ist überdies für viele Frauen sexuell sehr angenehm, so dass sie sich möglicherweise spontan solchen Positionen zuwenden.


Abschließend soll noch erwähnt werden, dass Menschen, die korpulent oder schwach sind, beim Koitus am bequemsten auf der Seite liegen. Diese Stellung, bei der der Penis von hinten eingeführt wird, ist wahrscheinlich die am wenigsten anstrengende. Sie empfiehlt sich natürlich auch für hochschwangere Frauen.


 

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