Sexuelle Funktionsstörungen

8.2 Sexuelle Funktionsstörungen


Manche Menschen sind, wie oben bereits mehrfach erwähnt, infolge körperlicher Fehlbildungen, Behinderungen, Krankheiten oder Unfallfolgen in ihrem sexuellen Ausdrucksvermögen eingeschränkt. Es gibt jedoch auch körperlich gesunde Menschen, die beim Geschlechtsverkehr wenig oder gar keine Befriedigung finden, weil ihre sexuelle Reaktion aus psychischen Gründen gehemmt oder blockiert ist. Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet man dies als „sexuelle Funktionsstörung" oder „sexuelle Dysfunktion".


Die Unterscheidung zwischen körperlichen und psychischen Ursachen sexueller Störungen ist sicher etwas willkürlich, denn Körper und Geist sind so eng miteinander verbunden, dass man eine Trennungslinie zwischen ihnen kaum ziehen kann. Lediglich von den sexuellen Funktionsstörungen eines einzelnen Menschen zu sprechen, wäre jedoch ebenfalls eine starke Vereinfachung, da sich diese Störungen in der Regel nur in der Beziehung zu einer anderen Person äußern. Es wäre daher in den meisten Fällen richtiger, von einem gestörten sexuellen Verhältnis zweier Personen zu sprechen. Deshalb behandeln Sexualtherapeuten heute meist nicht nur einen einzelnen Patienten, sondern bestehen auf einer Therapie beider Partner.


Man schätzt, dass heute in den Vereinigten Staaten von Amerika in mehr als der Hälfte aller Ehen zumindest ein Partner an sexuellen Funktionsstörungen leidet. Dies hat zwangsläufig auch einen Einfluss auf den anderen Partner, so dass oft beide erhebliche Frustrationen zu ertragen haben. Natürlich können solche Frustrationen auch durch dauernde Körperbehinderungen eines Partners verursacht werden. Aber selbst in diesen Fällen kann sachliche Beratung manchmal die sexuellen Möglichkeiten erweitern und so ein akzeptables Minimum an sexueller Befriedigung erreichen. In einer größeren Zahl der Fälle sind die Probleme jedoch psychologischer Natur; die moderne Sexualtherapie kann sie zu beseitigen helfen. In der Folge der bahnbrechenden Arbeiten von Masters und Johnson wurde eine Vielzahl neuer therapeutischer Techniken entwickelt, die heute in vielen Teilen der USA erfolgreich angewandt werden.


Andererseits haben aber gerade die Erfolge der Sexualtherapie und die steigende Nachfrage gezeigt, wie sehr wir alle einer veränderten Einstellung zur Sexualität bedürfen. Sexuelle Not scheint weit verbreitet zu sein, und obwohl man sich um genaue Daten streitet, zweifelt niemand mehr am hohen Stellenwert des Problems.

In der Vergangenheit schrieb man sexuelle Funktionsstörungen beim Mann oft der Zauberei oder irgendwelchen Verwünschungen zu, oder man glaubte, „Degenerierung", „Selbstbefleckung", „Unmoral" oder „Exzesse" seien verantwortlich. Heute wissen wir, dass beide Erklärungen falsch sind und man die Ursachen an anderer Stelle suchen muss. Sexualtherapeuten haben herausgefunden, dass sexuelle Störungen ihre Ursachen überwiegend in strenger Erziehung, in traumatischen sexuellen Erlebnissen, in Unwissenheit, in restriktiver Religiosität oder in falschen Anleitungen durch wenig informierte oder voreingenommene Geistliche, Eheberater, Ärzte, Psychotherapeuten oder andere Fachleute haben. Alle diese verschiedenartigen Ursachen können wiederum auf die insgesamt repressive Einstellung unserer Gesellschaft gegenüber der Sexualität zurückgeführt werden.


Die sexuelle Unterdrückung, unter der wir alle leben, hat viele Gesichter. In bezug auf die sexuellen Funktionen des Menschen können wir auf einen besonders negativen Aspekt verweisen, der bezeichnender ist als alle anderen: die nahezu ausschließliche Konzentration des Interesses auf die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane. Die übertriebene Bedeutung, die den Geschlechtsorganen zugemessen wird, macht nicht nur den Durchschnittsmenschen, sondern selbst bestimmte Sexualtheoretiker blind für die große Vielfalt menschlicher sexueller Fähigkeiten. Hieraus folgen Belastungen, aufgrund derer heute unzählige Männer und Frauen an sexuellen Funktionsstörungen leiden. Das Klischee vom sexuell aktiven Mann und der passiven Frau kann für manche Menschen so belastend sein, dass ein Mann, von dem immer die Initiative zum Koitus erwartet wird, diesen nicht mehr lustbetont erleben zu können fürchtet. Diese Sorge kann schließlich zu einer ausgesprochenen Versagensangst führen. Dies kann dann wiederum zu einer Blockade seiner natürlichen sexuellen Reaktion rühren und dazu, dass er nicht mehr in der Lage ist, seine Partnerin zu befriedigen. Auf der anderen Seite kann eine Frau, der man beigebracht hat, dass Frauen nicht die Initiative zu ergreifen hätten, es als belastend empfinden, sich ständig diese Zwänge aufzuerlegen. Eine solche unnatürliche Passivität kann dazu fuhren, dass der Geschlechtsverkehr unerfreulich und belastend wird, Es verwundert nicht, wenn hieraus Funktionsstörungen resultieren. Die Therapie ist in beiden Fällen klar: Nur eine bewusst veränderte Einstellung vermag von den Ängsten und Frustrationen zu befreien und die ursprüngliche sexuelle Reaktion wiederherzustellen. Die nachfolgende Diskussion soll zeigen, dass man in der modernen Sexualtherapie hierfür oft bestimmte Übungen anwendet, bei denen die Initiative auf die Frau übertragen wird.


Die Überbewertung des Koitus führt bei vielen Männern und Frauen dazu, dass sie auf andere Arten des Geschlechtsverkehrs verzichten. Das verursacht Langeweile und Eintönigkeit. Durch die einseitige Konzentration auf den genitalen Kontakt werden darüber hinaus alle anderen erogenen Zonen vernachlässigt. Dies wiederum führt zu einer Situation, in der die Geschlechtsorgane „alleine die Verantwortung tragen" für sexuelle Befriedigung, während der übrige Körper mehr oder weniger „unbeteiligt" bleibt. Die sexuelle Reaktion kann jedoch nicht in dieser Weise eingeschränkt und aufgeteilt werden, ohne dass im Laufe der Zeit Verhaltensstörungen entstehen. Es ist allerdings bemerkenswert, wie schnell die sexuellen Fähigkeiten wieder belebt werden können, sobald sich die Partner nichtkoitalen Formen des Geschlechtsverkehrs zuwenden. Aus diesem Grunde raten viele Sexualtherapeuten ihren Patienten zu manuellem oder oralem Verkehr, um das sexuelle Selbstvertrauen wiederherzustellen. Bemerkenswert ist, dass homosexuelle Partner, die keinen Koitus haben, sehr viel seltener unter Funktionsstörungen leiden, als dies bei Heterosexuellen der Fall ist. Für männliche und weibliche Homosexuelle ist es selbstverständlich, sich auf vielfältige Weise sexuell zu befriedigen. Sie sind es gewohnt, das beste aus der jeweiligen sexuellen


Situation zu machen. Viele „normale" Paare könnten aus dieser Einstellung lernen. Gerade deshalb ist es grotesk, dass in manchen Ländern nichtkoitaler Geschlechtsverkehr als „Verbrechen wider die Natur" unter Strafe steht.


Eine weitere Ursache für sexuelle Funktionsstörungen ist die Überbewertung des Orgasmus. Durch die oft kurze Dauer des Koitus wurde Männern und Frauen viel sexueller Genuss geraubt. Der Geschlechtsverkehr wird zu einer zielorientierten Aufgabe. Dabei wird Sexualität zu Leistung und als solche zum Gradmesser für persönlichen Erfolg oder Misserfolg. Gleichzeitig wird dem erfolgreichen Finale als vermeintlichem „Höhepunkt" des Geschlechtsverkehrs, nicht dem Geschlechtsverkehr selbst, die höchste Bedeutung zugemessen. Mit anderen Worten, es ist nicht mehr der Vorgang, sondern das Ergebnis, dem das Hauptinteresse gewidmet wird. Diese Fixierung führt dazu, den wirklichen Genuss des Augenblicks geringzuschätzen. Die normalen sexuellen Reaktionen können so erheblich beeinträchtigt werden. Aus diesem Grunde haben Männer dann einen Orgasmus, bevor sie befriedigt sind, und Frauen erreichen gleichzeitig keinen Orgasmus. Sexualtherapeuten haben indes gezeigt, dass diese sexuellen Funktionsstörungen verschwinden können, wenn die Partner ihre Einstellung verändern. Es gibt Therapieprogramme, bei denen dem Mann und der Frau geraten wird, jeden Orgasmus beim Geschlechtsverkehr bewusst zu vermeiden. Man kann einem Paar dabei vorschlagen, sich gegenseitig ausführlich zu stimulieren, jedoch sofort jeden Körperkontakt abzubrechen, sobald sich einer von ihnen dem Orgasmus nähert. Manche Therapeuten gehen sogar so weit, ihren Patienten den Orgasmus zu untersagen, während sie ihnen gleichzeitig raten, sich täglich mehrere Stunden gegenseitig zu streicheln und zu liebkosen. Diese einfache Anweisung führt oft zu überraschenden Ergebnissen. Von der „Orgasmuspflicht" befreit, können sich beide Partner zum ersten Male in ihrem Leben ungezwungen dem Liebesspiel hingeben. Dadurch kann sich auch ihre Einstellung zueinander von Grund auf ändern. Diese neue Einstellung wird dann zur Quelle erheblich gesteigerter orgastischer Fähigkeit, Wenn nach einigen Wochen die sexuelle Reaktionsfähigkeit wieder hergestellt ist, wird das Verbot vom Therapeuten aufgehoben und der Orgasmus wird zum regelmäßigen, erfreulichen Erlebnis, dessen zeitliche Bestimmung keinerlei Schwierigkeiten mehr mit sich bringt. Gleichzeitig hat sich jedoch das Ereignis von einer Pflichtübung zu einer frei gewählten Möglichkeit gewandelt, Orgasmus ist nicht mehr und nicht weniger als eine erfreuliche Unterbrechung im Verlaufe gegenseitiger Stimulierung. Sehr wichtig ist dabei, dass die Partner lernen, dass es nicht notwendig ist, bei jeder sexuellen Begegnung gleichzeitig zum Orgasmus zu kommen. Kommt es gelegentlich nicht zum Orgasmus, muss dies das gemeinsame Glück nicht beeinträchtigen. Geschlechtsverkehr zu haben ist kein Kampf, auch kein sportlicher Wettkampf. Begriffe wie Erfolg und Leistung sind in einer glücklichen sexuellen Beziehung fehl am Platz,


Es scheint, dass sexuelle Funktionsstörungen der einen oder anderen Art bei vielen Menschen in unterschiedlichsten Gesellschaften seit Beginn der Menschheitsgeschichte bestanden haben. Wir wissen zum Beispiel, dass sich die Ärzte in der Antike und im Mittelalter mit diesem Problem beschäftigt und die verschiedensten medizinischen Behandlungsmethoden versucht haben. Doch scheinen diese Funktionsstörungen in unserer Zeit schwerer und häufiger geworden zu sein. Im 19. und 20. Jahrhundert begannen Psychiater, sie zu behandeln; die „Heilerfolge" waren jedoch nicht immer überzeugend, Wir wissen heute, dass dies auch kaum anders sein konnte, da die mit den sexuellen Funktionen verbundenen Vorgänge noch weitgehend unbekannt waren.


Erst die gezielte Forschung von Wissenschaftlern wie Masters und Johnson ermöglichte es den Therapeuten schließlich, sexuelle Funktionsstörungen unmittelbar zu behandeln, statt sie als Symptome für andere Probleme oder Krankheiten zu sehen. Masters und Johnson waren auch wegweisend in der Methode der „paarweisen" Therapie durch einen männlichen und einen weiblichen Therapeuten, und sie behandelten eher zwei Partner als ein einzelnes Individuum. Ihre Patienten waren meist Eheleute oder Einzelpersonen, die ihre (heterosexuellen oder homosexuellen) Partner mitbrachten. Personen, die keinen Partner hatten, wurden für die Dauer der Therapie mit einem „Ersatzpartner" zusammengebracht. Die Methode von Masters und Johnson wurde inzwischen vielerorts übernommen. In den Vereinigten Staaten und in anderen westlichen Ländern gibt es heute eine große Zahl kompetenter Sexualtherapeuten, die ihren Patienten mit zunehmendem Erfolg zu helfen wissen.


Leider gibt es gegenwärtig jedoch auch noch viele wenig qualifizierte Personen, die sich Sexualtherapeuten nennen, die ihre Patienten aber eher ausnutzen und ihnen mehr schaden als helfen. Es wäre wünschenswert, die Sexualtherapie in Zukunft an eine bestimmte Form der Weiterbildung zu binden. Es sollte niemandem erlaubt sein, in einem so wichtigen Bereich zu praktizieren, der nicht die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen besitzt.


In den folgenden Abschnitten werden die zur Zeit erfolgreichsten Verfahren der Sexualtherapie, besonders die von Masters und Johnson, zusammengefasst. Bei diesen Ausführungen erschien es angebracht, statt der üblichen Fachausdrücke bestimmte umgangssprachliche Bezeichnungen zu verwenden.


 

[Titelseite] [Inhalt] [Vorwort z. dt. Ausgabe] [Vorwort z. 2. Auflage] [Der menschl. Körper] [Das Sexualverhalten] [Entwicklung] [Formen] [Sexuelle Störungen] [Sexualität & Gesellsch.] [Anhang (Akt. Themen)] [Bildnachweis]