Problematisches Sexualverhalten

8.3 Problematisches Sexualverhalten


Wir wissen aus der Geschichte, dass es Kulturen gab, bei denen nahezu jedes Sexualverhalten als göttlich inspiriert und somit als natürlich galt. Diese Kulturen waren nicht liberal oder permissiv im modernen Sinn, gewährten aber Raum für sehr verschiedene erotische Geschmacksrichtungen. Man erlaubte jedem, seinen persönlichen sexuellen Interessen nachzugehen, und bestrafte ihn nur, wenn er die Rechte anderer verletzte.


Unsere eigene Kultur basiert allerdings auf anderen Traditionen. Sowohl die alten Israeliten als auch die frühen und mittelalterlichen Christen sahen in der Fortpflanzung den einzigen Zweck der Sexualität. So waren sie auch allem nicht-reproduktiven Sexualverhalten gegenüber äußerst intolerant. Im Alten Testament steht zum Beispiel auf männlichen homosexuellen Geschlechtsverkehr und sexuellen Kontakt mit Tieren die Todesstrafe. Diese Strafandrohung wurde weit über 1000 Jahre selbst im christlichen Europa aufrechterhalten.


Der Theologe Thomas von Aquin fasste im 13. Jahrhundert die überlieferte christliche Sexualdoktrin zusammen und erklärte, Gott lasse Geschlechtsverkehr nur zu, wenn er erfolge:


• zum richtigen Zweck (dem der Fortpflanzung),


• mit der richtigen Person (dem Ehepartner) und


• in der richtigen Weise (durch Koitus).


Jede sexuelle Handlung, die nicht völlig diese dreifache Bedingung erfüllte, war „unnatürlich" und sündhaft.


In neuerer Zeit hat der Einfluss der Kirche auf den Staat nachgelassen. Die Theologen sind durch Psychiater als die neuen Experten für sexuelles Verhalten abgelöst worden. Die alte Doktrin setzt sich in anderer Form fort, Sie wurde nur von der religiösen in die medizinische Sprache übersetzt. Was einst als unnatürlich galt, nannte man nun ungesund, und aus Sünde wurde Krankheit. Im 19. Jahrhundert führten Psychiater das Konzept der „Psychopathia sexualis" (das heißt der „Sexuellen Geisteskrankheit") ein und begannen, von „Aberrationen", „Deviationen" und „Perversionen" zusprechen.


Diese Worte implizieren deutlich die Verletzung einer unbezweifelbaren Norm, ein Abweichen vom korrekten Kurs, ein Abirren vom rechten Weg und eine Wende in die verkehrte Richtung. Tatsächlich wurden diese Begriffe lange vor ihrem Einzug in die Medizin bereits von christlichen Moralisten benutzt, um Ketzerei und Unglauben anzuprangern. Daher überrascht es kaum, dass die neuen sexuellen Aberrationen, Deviationen und Perversionen den alten Ketzereien des Mittelalters entsprachen. Während der modernen Psychiatrie nicht mehr viel an der Fortpflanzung lag, hielt sie doch an der zweifachen Norm des „richtigen" Geschlechtsverkehrs mit der „richtigen" Person fest. Jede andere Art sexuellen Verhaltens wurde als pathologisch oder pervers bezeichnet. Wenn es nun auch vom Inhalt her kaum einen Unterschied gab, so hatte sich doch der Stil sehr geändert. Die verschiedenen


„Psychopathien" und „Perversionen" wurden nun unter neuen exotischen Namen methodisch klassifiziert und rubriziert. Das gab dem ganzen Unternehmen eine Aura wissenschaftlicher Objektivität.


Die folgende, stark gekürzte Liste mag davon einen Eindruck vermitteln: Wie zuvor konnten die Menschen von der Norm des „korrekten" Koitus abweichen,


1. indem sie das „falsche" Sexualobjekt wählten oder


2. indem sie die „falsche" sexuelle Handlungsweise wählten.


So galt ein Mann als sexuell pervers, wenn er anstatt einer gleichaltrigen, nicht-verwandten Partnerin eine der folgenden Möglichkeiten wählte:


• sich selbst (Autoerotik)


• einen anderen Mann (Homosexualität)


• zwei oder mehrere Frauen gleichzeitig (Troilismus)


• eine nahe Verwandte (Inzest)


• ein Kind (Pädophilie)


• eine alte Frau (Gerontophilie) .


• ein Tier (Zoophilie)


• einen Leichnam (Nekrophilie)


• eine Statue (Pygmalionismus)


• ein lebloses Objekt (Fetischismus).


Natürlich waren diese „Perversionen" gravierender, wenn sie kombiniert auftraten, wenn etwa ein junger Mann sich für einen Knaben entschied (homosexuelle Pädophilie). Selbst wenn ein Mann das „richtige" Sexualobjekt wählte, konnte er dennoch Gefahr laufen, sich als pervers zu erweisen, wenn er, statt durch einfachen Koitus, sexuelle Befriedigung hauptsächlich suchte, indem er


• Nacktheit und geschlechtliche Handlungen anderer beobachtete (Voyeu-


rismus)


• seine eigenen Geschlechtsorgane vorzeigte (Exhibitionismus)


• seinen Körper an dem einer Partnerin rieb (Frottage)


• oralen Geschlechtsverkehr hatte (Oralismus)


• Analverkehr hatte (Analismus)


• der Partnerin Schmerz zufügte oder sie erniedrigte (Sadismus)


• sich selbst Schmerz zufügen oder sich erniedrigen ließ (Masochismus)


• Kleidung des anderen Geschlechts anlegte (Transvestismus)


• etwas stahl (Kleptolagnie)


• etwas anzündete (Pyrolagnie)


• mit dem eigenen oder dem Urin der Partnerin spielte (Urolagnie)


• mit dem eigenen oder dem Kot der Partnerin spielte (Koprophilie). Auch diese Perversionen waren schlimmer, wenn sie kombiniert auftraten.


Hatte also jemand gern Analverkehr, während er seinem Partner gleichzeitig Schmerz zufügte, so lag sadistischer Analismus vor. Ließ er sich gerne beleidigen, während jemand auf ihn urinierte, so nannte man das masochistische Urolagnie. Als besonders schwerwiegende sexuelle Perversion wurde angesehen, wenn jemand „falsche" sexuelle Handlungen mit einem „falschen" Objekt vornahm. Das war zum Beispiel der Fall, wenn jemand Oralverkehr mit verschiedenen Frauen gleichzeitig hatte (oralistischer Troilismus). Jemand, der öffentlich in die schmutzigen Windeln seiner kleinen Tochter masturbierte, war ein exhibitionistischer, koprophil-inzestuös-pädophiler Fetischist. Schließlich konnten alle diese Perversionen und ihre Kombinationen noch durch „exzessives" sexuelles Verlangen verschlimmert werden („Erotomanie", beim Mann auch „Satyriasis" und bei der Frau „Nymphomanie").


Wie gesagt, ist diese Aufzählung keineswegs vollständig. Verschiedene Psychiater führten noch andere längere Kataloge ein. Darüber hinaus war die Wortwahl nicht immer einheitlich. So wurde Homosexualität gelegentlich auch als „konträre Sexualempfindung", „psychosexueller Hermaphroditismus", „Uranismus" oder „Inversion" bezeichnet. Auch zwischen männlicher und weiblicher Homosexualität wurde unterschieden: die Männer waren „Päderasten" und die Frauen „Tribaden" oder „Sapphistinnen". Andererseits rieten einige Psychiater von zu vielen Unterscheidungen ab. Entsprechend machten sie einige Unterscheidungen nicht mit. Statt dessen subsumierten sie zum Beispiel „Pygmalionismus" und „Transvestismus" unter den Oberbegriff „Fetischismus". Denn schließlich sind Statuen und Kleidung leblose Gegenstände und also „Fetische".


Es soll hier auch erwähnt werden, dass nicht alle Perversionen als gleich bedrohlich galten. Fetischismus wurde eher toleriert als Homosexualität. Diese wiederum wurde als nicht so gravierend angesehen wie Inzest. Es gab aber niemals einen Konsens darüber, worin nun die schwerste Perversion, also die schwerste sexuelle Psychopathie, bestehe. Eine Zeitlang galt „Autoerotik" als das größte Übel; dann war es „Troilismus". Heute war es der „Exhibitionismus", der die höchste Gefahr zu verkörpern schien, morgen war „Analismus" die widerlichste sexuelle Abartigkeit. Und dann gab es natürlich noch solche Perversionen, bei denen tatsächlich Menschen zu Schaden kommen konnten: „Sadismus" (Lustmord), „Kleptolagnie" (Diebstahl) und „Pyrolagnie" (Brandstiftung).


Dennoch, wie schwer auch immer die Krankheit oder der angerichtete Schaden gewesen sein mag, es war in der Hauptsache der „Perverse", der ärztliche Hilfe brauchte. Waren Perverse aber Kranke, dann konnte man sie für ihre Handlungen nicht verantwortlich machen. Die richtige soziale Reaktion auf ihr „abnormes Verhalten" war daher nicht moralische Verurteilung oder gesetzliche Bestrafung, sondern psychiatrische Behandlung.


Andererseits stellte sich aber bald heraus, dass jeder Mensch bis zu einem gewissen Grade an irgendeiner Art von Perversion litt. Millionen Männer und Frauen masturbierten oder hatten Phantasien von sexuellen Orgien. Unzählige Menschen verspürten homosexuelle Neigungen oder inzestuöse Wünsche. Viele sammelten Dinge wie Liebesbriefe, Haarlocken, Taschentücher oder Kleidungsstücke einer geliebten Person. Menschen erfreuten sich an Nacktheit und zeigten sich selbst nackt. Sie wurden in ihren sexuellen Beziehungen aggressiv oder unterwürfig, waren von Toiletten fasziniert oder bedienten sich „schmutziger" Worte.


Diese Beobachtungen führten schließlich zu der Überzeugung, dass sexuelle Perversionen keine grotesken oder absonderlichen Krankheiten seien, sondern vielmehr übertriebener Ausdruck „normaler" Neigungen. Es handelte sich also lediglich um graduelle Unterschiede. Immer mehr Psychiater kamen deshalb zu der Überzeugung, dass nur derjenige als pervers zu bezeichnen sei, der ausschließlich oder fast ausschließlich in sexuellen Dingen die „falsche" Wahl traf. Jemand, der nur gelegentlich das falsche Sexualobjekt oder die falsche sexuelle Handlung wählte, ansonsten jedoch imstande war, „normalen" Koitus zu genießen, war nicht wirklich pervers. In der Tat verlangten einige Psychiater eine drastische Kürzung des alten Katalogs. Sie behaupteten, dass selbst Menschen, die sich ausschließlich „autoerotisch", „homosexuell", „troilistisch", „gerontophil", „oral-" oder „anal-erotisch" oder „transvestitisch" verhielten, keineswegs pervers seien. Man könne sie höchstens als Personen mit besonders engen Verhaltensmustern bezeichnen, eine medizinische Behandlung sei aber überflüssig.


Auch wurde bald deutlich, dass die sogenannten sexuellen Deviationen, Aberrationen und Perversionen sehr komplex und kaum vergleichbar waren. Da gab es ganz gewöhnliches, aber auch seltsam bizarres Benehmen, zwanghafte und sehr wohlüberlegte Handlungen. Sie konnten harmlos oder gefährlich sein, so dass man zweifeln durfte, ob es gerechtfertigt war, sie alle in einen Topf zu werfen. Dass sie darüber hinaus auch noch psychopathologische Erscheinungen oder Krankheiten waren, erschien zunehmend fraglich. Die meisten kritischen Beobachter sahen bald die Notwendigkeit einer umfassenden Neuorientierung bei der Beurteilung dieser Verhaltensformen ein.


Diese Neuorientierung wurde durch die psycho-analytische Theorie Freuds geliefert. Freud bezeichnete die sexuellen Perversionen als Folge einer „fixierten" oder gehemmten „psycho-sexuellen Entwicklung". Das heißt, er ging davon aus, dass jedes Kind mit einem starken sexuellen Trieb geboren wird, der jedoch noch nicht seinen rechten Ausdruck finden kann. Statt dessen ist das Kind „polymorph pervers", das heißt „pervers" in vielfältigen Formen und verschiedenen Stadien. Reife Sexualität ist nach Freud das Ergebnis eines komplexen und weitgehend unbewussten psychischen Entwicklungsprozesses. Wird dieser Prozess gestört, so kann es zu einer „Fixierung" kommen, der Erwachsene bleibt dann unreif, das heißt möglicherweise „pervers" .


Die psychoanalytische Auffassung fand, wenngleich sie anfangs umstritten war, bald Anerkennung und hatte dann erheblichen Einfluss auf die Kindererziehung in Europa und Nordamerika. Viele empirische Sexualforscher blieben allerdings skeptisch. Sie bezweifelten die Existenz eines „korrekten" Sexualtriebs, der „pervertiert" werden kann. Als Kinsey und seine Mitarbeiter in den vierziger und fünfziger Jahren ihre umfassenden Studien über das menschliche Sexualverhalten vorlegten, fanden sie den Begriff der Perversion völlig entbehrlich. Inzwischen haben sich viele dieser nüchternen Einstellung Kinseys angeschlossen. Bei den meisten amerikanischen Wissenschaftlern sind Worte wie „Perversion", „Aberration" und „Deviation" in Verruf geraten. Ein rein formaler soziologischer Begriff wie „sexuelle Abweichung" oder „sexuelle Devianz" (sexual deviance) ist noch gebräuchlich, aber er hat eine völlig andere Bedeutung.


Wenn moderne Sexualforscher eine objektive und weniger dogmatische Betrachtungsweise annehmen, wollen sie damit aber nicht sagen, dass man nun alle sexuellen Normen oder Maßstäbe über Bord werfen sollte. In vielen Fällen ist man sich wohl darüber klar, dass bestimmte Formen von Sexualverhalten Anlass zur Besorgnis geben. Dies trifft besonders zu, wenn das Verhalten


1. zwanghaft,


2. destruktiv und


3. belastend für den Betreffenden ist.


Es ist klar, dass sexuelle Handlungen, die den Handelnden selbst bedrücken, geändert werden sollten. Enge oder starre Verhaltensmuster, die jemanden an voller Befriedigung hindern, sind kaum erstrebenswert. Destruktives Verhalten kann, abgesehen von seinen subjektiven Auswirkungen, für andere gefährlich sein und muss daher unterbunden werden.


In vielen Fällen kann das unerwünschte Verhalten geändert oder zumindest positiv beeinflusst werden. Dies geschieht durch die eine oder andere Art der Psychotherapie, die jedoch auf freiwilliger Basis, besser noch auf ausdrücklichen Wunsch des Betroffenen erfolgen muss, wenn sie erfolgreich sein soll. Erzwungene Behandlung gibt auf diesem Gebiet zu wenig Hoffnung Anlass. Darüber hinaus wirft die zwangsweise Änderung menschlichen Verhaltens ohne Einwilligung des Betroffenen sehr ernste ethische Fragen auf. Außer in wirklich extremen Fällen ist dies moralisch wohl nicht zu vertreten.


Ein weiteres Problem ist die Frage der Verfolgung oder Bestrafung destruktiven Verhaltens, das unbeteiligte Opfer schädigt. Gesetzlicher Schutz vor sexuellen Gewalttaten aller Art ist eine der grundlegenden Pflichten des Staates. Gleichzeitig sollte man jedoch ungewöhnliches Sexualverhalten, das nicht zu einer ausdrücklichen Beschwerde oder Anzeige eines Opfers führt, nicht in jedem Falle kriminalisieren.

 

[Titelseite] [Inhalt] [Vorwort z. dt. Ausgabe] [Vorwort z. 2. Auflage] [Der menschl. Körper] [Das Sexualverhalten] [Entwicklung] [Formen] [Sexuelle Störungen] [Sexualität & Gesellsch.] [Anhang (Akt. Themen)] [Bildnachweis]