Sexualtherapie in den USA - Einfache Verfahren

8.2.3 Sexualtherapie in den USA - Einfache Verfahren für die Praxis


Geschlechtsverhalten ist im Grunde Kommunikation. Gestörtes Geschlechtsverhalten kann man daher als gestörte Kommunikation auffassen. Es kommt in der therapeutischen Praxis also darauf an, die Kommunikation zu verbessern; nicht nur zwischen den Patienten untereinander, sondern auch zwischen Arzt und Patient.


Viele Ärzte in Amerika behaupten immer wieder, ihre Patienten stellten ihnen keinerlei sexuelle Fragen. Auch könne man sexuelle Probleme deshalb in der Sprechstunde nicht berühren, ohne künstlich und unverschämt zu wirken. Tatsächlich liegt die Sache wohl aber anders: Diese Ärzte sind nicht für sexuelle Probleme sensibilisiert und nehmen die vielfachen Signale nicht wahr, die ihre Patienten aussenden. Andererseits spüren die Patienten aber ganz deutlich, wenn einem Arzt das Thema Sexualität fremd oder unbehaglich ist, und so werden sie ihr eigentliches Anliegen gar nicht erst artikulieren. Hier kann nur eine gründliche Schulung der Ärzte in allen Aspekten menschlichen Sexualverhaltens wirklichen Fortschritt bringen.


Heute werden in den Vereinigten Staaten in der Sexualtherapie vor allem vier einfache Verfahren angewandt, die im folgenden beschrieben werden: Das sogenannte PLISSIT-Modell, das „Kinsey-Interview" als Mittel der sexualtherapeutischen Anamnese, einige körperliche Übungen, wie sie besonders von Hartman und Fithian in Los Angeles angewandt werden, und der SAR (Sexual Attitüde Restructuring)-Prozess für Therapeuten und Patienten.


Das PLISSIT-Modell


Das Modell wurde von Jack Annon entwickelt, einem klinischen Psychologen in Honolulu/Hawaii, um zu belegen, dass eine intensive Therapie nicht bei allen Sexualproblemen erforderlich ist. PLISSIT ist die Abkürzung für vier Stufen der Therapie.


„P" steht für „Permission" (Erlaubnis oder Beruhigung), denn viele Sexualstörungen lassen sich auf Angst, Schuldgefühle und Hemmungen zurückführen. Es folgt daraus, dass eine mit ärztlicher Autorität gegebene Erlaubnis oder Beruhigung viele Schwierigkeiten löst und oft eine weitere Behandlung überflüssig macht.


Die nächste Stufe des therapeutischen Vorgehens heißt „LI" oder „Limited Information" (begrenzte Information). Oft genügen genaue anatomische und physiologische Auskünfte, um Patienten wieder sexuell funktionsfähig zu machen. Es ist durchaus nicht selten, dass Patienten falsche sexuelle Vorstellungen und Erwartungen hegen, und in diesen Fällen ist eigentlich wenig mehr als Aufklärung erforderlich.


Die folgende Stufe „SS"- „SpecificSuggestions" (spezifische Anregungen oder Vorschläge) - erfordert praktische Hinweise oder Übungen, die auf ein besonderes Problem zugeschnitten sind. Sie können vom Patienten oder dem Patientenpaar selbst durchgeführt werden. (Viele der von Masters und Johnson empfohlenen Übungen gehören hierzu.)


Nur die letzte Stufe „IT" - „Intensive Therapy" (intensive Therapie) -verlangt ein langwieriges und kompliziertes Eingreifen durch Spezialisten. Annon ist jedoch überzeugt, dass solche Fälle im Vergleich zu den anderen selten sind. Das ganze PLISSIT-Modell stellt daher ein abgestuftes System von therapeutischen Sieben dar, in dem die leichteren Fälle nacheinander oben abgefangen werden, während die schweren in abnehmender Anzahl nach unten sinken.


Vorteile von PLISSIT


Das Modell stellt ein gradiertes System von therapeutischen Filtern oder Sieben dar. Die ersten drei Stufen können als Kurztherapie aufgefasst werden, Bereits in der ersten Behandlungsstufe werden leichtere Fälle abgefangen. In der letzten Behandlungsstufe, der Intensivtherapie, sammeln sich die schweren Fälle.




Das „Kinsey-Interview"


Das „Kinsey-Interview" wurde von Alfred C. Kinsey entwickelt, um damit Informationen für seine berühmten Studien zu sammeln. Mit seinen Mitarbeitern befragte er Tausende von Menschen beiderlei Geschlechts, jeden Alters, jeder Rasse und sozialen Schicht nach ihrem Geschlechtsverhalten von der frühesten Kindheit bis zum Zeitpunkt des Interviews. Alle diese Interviews mussten natürlich in gewisser Beziehung standardisiert sein, um wissenschaftlich ausgewertet werden zu können. Daher wurde ein Minimum von etwa 350 Fragen festgelegt, die alle gestellt werden mussten, deren Reihenfolge aber dem befragten Individuum angepasst wurde. Diesem Verfahren lag die Einsicht zugrunde, dass man am besten die peinlichsten Fragen zuletzt stellt und verschiedenen Menschen verschiedene Dinge peinlich sind. Neben anderen wichtigen Eigenschaften mussten die Interviewer also eine große Menschenkenntnis und viel Feingefühl haben, um die Information auch wirklich lückenlos aufzuzeichnen.


Die Antworten wurden auf einem einzigen DIN A 4-Bogen verschlüsselt, so dass der Interviewer am Ende sozusagen das gesamte Geschlechtsleben des Befragten auf einer Seite zusammengefasst vor Augen hatte. Im Durchschnitt lag die Dauer des Einzelinterviews etwas über einer Stunde. Die Vorteile eines solchen Interviews - auch für die therapeutische Praxis - liegen auf der Hand. Der Hauptvorzug liegt wohl darin, dass der Therapeut gleich zu Anfang einen Gesamtüberblick über das Geschlechtsleben seines Patienten erhält. Es ergibt sich dann nicht selten, dass der Patient eine falsche Selbsteinschätzung hat; sein Problem liegt also woanders, als er vermutet. (Beispiel: Ein Transvestit, der glaubt, transsexuell zu sein.) Außerdem kann der Therapeut sofort wichtige Antworten auf Fragen finden, die er sonst vielleicht nicht gestellt hätte.


Schließlich - und das ist nicht der unwesentlichste Vorteil - zwingt die ganze Struktur des Interviews dem Interviewer eine warmherzige und wachsame, dabei aber vorurteilslose Haltung auf, die für den erfolgreichen Fortgang der Therapie entscheidend sein kann. Der Patient seinerseits erkennt gleich, dass der Therapeut alle denkbaren sexuellen Tatbestände mit Gleichmut registriert und fachmännisch beurteilt. So kann sich schnell eine Vertrauensbasis herstellen, die sich sonst viel langsamer bilden würde.


Körperliche Übungen


„Kein Kontakt ohne Takt", hat man schon oft gesagt. Der Satz ist bemerkenswert wegen seiner Doppeldeutigkeit, denn das Wort „Takt" erinnert sowohl an zarte Rücksichtnahme als auch an Fingerspitzengefühl im körperlichen Sinne. Sinn für das „Taktile", das richtige Anfassen und Körperberührung sind für die Behebung von sexuellen Störungen besonders wichtig. Aber nicht nur die Patienten müssen dieses Fingerspitzengefühl lernen, sondern auch viele Sexualtherapeuten erwägen heute eine „Behandlung" im wörtlichen Sinne, das heißt ein Handauflegen oder Massieren. Traditionsgemäß bestehen im Westen der USA dagegen weniger Hemmungen als an der Ostküste.


Die Therapeuten Hartman und Fithian in Los Angeles untersuchen die Geschlechtsorgane männlicher und weiblicher Patienten mit der Hand und fordern anschließend auch das jeweilige Patientenpaar auf, sich gegenseitig genauso zu untersuchen. Es ist dann oft das erste Mal, dass ein Mann seinen Finger in der Vagina seiner Partnerin fühlt und langsam im Uhrzeigersinn herumführt, um zu erfahren, welche Stellen sich besonders angenehm oder unangenehm anfühlen. Er bekommt auch ein Scheidenspekulum, kann selbst in die Vagina hineinsehen, die Zervix betrachten usw. Eine Frau wiederum lernt, den Penis ihres Partners auf empfindliche und unempfindliche Stellen abzutasten, den richtigen Griff anzuwenden, um einen nahenden Orgasmus


aufzuschieben. Dieses „Doktor-Spielen von Erwachsenen" hat neben dem Abbau von Hemmungen und seinem praktischen Informationswert auch einen wichtigen indirekten Zweck: Es fördert die sexuelle Kommunikation zwischen den Patienten, und zwar nicht nur die taktile, sondern auch die verbale. Sie lernen, sexuelle Lust- und Unlustgefühle präzise zu lokalisieren und vor allem zu artikulieren.


Eine zweite Übung ist ebenso einfach und nützlich: Die Patienten stellen sich nackt vor einen großen Spiegel und untersuchen sich vom Scheitel bis zur Sohle in allen Einzelheiten, während sie ihre positiven und negativen Eindrücke und Werturteile ausführlich schildern. Dem anwesenden Therapeuten sagt dieses Verfahren viel über das Körpergefühl und die Selbsteinschätzung eines Patienten, denn oft glauben körperlich sehr attraktive Menschen, dass sie hässlich seien, oder völlig normal gebaute Menschen sind ohne vernünftigen Grund mit bestimmten Körperteilen unzufrieden. Die Übung bringt also nicht selten ganz überraschende Dinge zur Sprache und wirkt dadurch entlastend oder sogar befreiend. Außerdem kann sie helfen, Missverständnisse zwischen den Partnern aufzudecken und zu beheben. Letzten Endes wird damit auch die sexuelle Kommunikation verbessert.


Ein drittes, häufig angewandtes Verfahren ist die sogenannte Kegel-Übung für Frauen, die im vorigen Abschnitt beschrieben wurde und die zur Kräftigung des Pubococcygeus-Muskel dient.


Der SAR-Prozess


Unter dem „Sexual Attitüde Restructuring" (SAR) verstehen wir einen Entwicklungsprozess, der die sexuelle Einstellung seiner Teilnehmer in Richtung größerer Toleranz ändert oder umstrukturiert. Dies geschieht besonders mit Hilfe von Filmen und Videokassetten. Ursprünglich wurde SAR vor etwa zehn Jahren in San Francisco entwickelt als Intensivkurs von acht Tagen. Er schließt neben dem audiovisuellen Material auch Vorträge ein, Gruppendiskussionen, Entspannungsübungen, Rollenspiele und viele andere intellektuelle und emotionale Erfahrungen. Solche Kurse werden nur zu besonderen Zeiten und an bestimmten Orten abgehalten, die hierfür hergestellten Filme haben aber inzwischen davon unabhängig eine große Verbreitung an Universitäten, bei Abendschulen, kirchlichen Organisationen und anderen Einrichtungen gefunden. Außerdem werden sie weithin erfolgreich in der Sexualtherapie eingesetzt. Es sind sexuelle Dokumentarfilme, aufgenommen mit gewöhnlichen Menschen (nicht mit Schauspielern), ohne Drehbuch, ohne Regie und ohne vorgefasste Meinung irgendwelcher Art. Die Filme zeigen alle erdenklichen Arten sexuellen Verhaltens von Individuen, Paaren oder Gruppen und demonstrieren unwiderlegbar eine große individuelle Variationsbreite, Damit wirken sie unrealistischen sexuellen Normvorstellungen und stereotypen Rollenauffassungen entgegen.


Sexuelle Dokumentarfilme „sagen mehr als tausend Worte". Es ist durchaus nicht dasselbe, ob man sexuelle Variationen beschrieben bekommt oder sie selbst sieht. Besonders sexuell gehemmte Patienten profitieren von solchen Filmen, denn hier werden ihnen ja nicht neue sexuelle Leistungsvorbilder suggeriert. Im Gegenteil, die individuelle Verschiedenheit ermutigt jeden Betrachter dazu, seine eigene Individualität zu kultivieren. Die bei aller Verschiedenheit aber gleich eindrucksvolle ständige Kommunikation, die in diesen Filmen sichtbar wird, prägt sich als das tragende Element der glücklichen sexuellen Begegnung ein.


Die Filme haben viele denkbare, nützliche Funktionen, auch einen informativen Wert für den Arzt. Sehr wenige Ärzte haben die Gelegenheit, die ganze Vielfalt menschlichen Sexualverhaltens direkt zu beobachten. Gewöhnlich beziehen sie ihr Wissen darüber aus Büchern, Vorlesungen oder Gesprächen. Das trifft besonders auf die sozial geächteten Verhaltensweisen zu. Es ist aber durchaus nicht dasselbe, ob man diese Dinge nur beschrieben bekommt oder selber wirklich sieht. Das so miterlebend erworbene Wissen ist einer rein theoretischen Kenntnisnahme immer überlegen. Es folgt daraus, dass die erwähnten sexuellen Dokumentarfilme eine bedeutende Rolle auch in der sexualmedizinischen Ausbildung spielen können. Eine umfassende Vertrautheit mit allen Erscheinungen der menschlichen Sexualität sensibilisiert den Arzt für die sexuellen Nöte seiner Patienten und ist ein sicheres Fundament für therapeutischen Erfolg.


 

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