Transsexualität

8.4 Transsexualität


Wie schon an anderer Stelle beschrieben, ist die sexuelle Entwicklung des Menschen unter mindestens drei Aspekten zu sehen: dem biologischen Geschlecht, der Geschlechtsrolle und der sexuellen Orientierung (vgl. Kap. 6 „Die Entwicklung des Sexualverhaltens"), Es wurde darauf hingewiesen, dass es Menschen gibt, die sich mit einer Geschlechtsrolle identifizieren, die im Widerspruch zu ihrem biologischen Geschlecht steht. Es gibt also Menschen mit einem männlichen Körper, die sich als Frauen fühlen, und solche mit einem weiblichen Körper, die sich selbst für Männer halten. Insbesondere nach der Pubertät fühlen sich solche Menschen mit ihren sekundären Geschlechtsmerkmalen sehr unwohl; sie versuchen daher mit allen Mitteln (auch denen der operativen „Geschlechtsumwandlung"), ihren Körper mit ihrer Selbsteinschätzung in Übereinstimmung zu bringen. Diesen Zustand nennt man Transsexualität.


Die Ursachen für Transsexualität sind bisher nur wenig erforscht. Wir wissen, dass die Geschlechtsrolle schon sehr früh festgelegt wird und dass es nach einer gewissen Zeit keine Möglichkeit mehr gibt, die geschlechtliche Selbstidentifikation eines Menschen zu verändern. So ist ein hermaphroditischer Junge, dessen Geschlecht bei der Geburt falsch diagnostiziert wurde, möglicherweise von seinen Eltern als Mädchen erzogen worden. Entdeckt man den Irrtum schließlich, dann ist es für eine umfassende Korrektur zu spät, so dass sich der Junge weiterhin als Mädchen versteht. Es gibt leider auch seltene Fälle, in denen die Eltern das biologische Geschlecht ihres Kindes einfach nicht akzeptieren wollen und eine entsprechende Selbstfindung verhindern. (Ein Beispiel ist die Mutter, die ihre Tochter nötigt, die Rolle des Sohnes zu spielen, den sie sich eigentlich gewünscht hat.) In anderen Fällen scheinen die Kinder von sich aus, ohne oder gegen den Einfluss der Eltern, eine konträre Geschlechtsrolle anzunehmen. Angesichts dieser Tatsachen gehen viele Sexualforscher heute davon aus, dass für Transsexualität eine Kombination biologischer und sozialer Faktoren bestimmend ist. Andere meinen, dass manche Kinder ihre transsexuelle Veranlagung vielleicht schon entwickeln, bevor sie geboren werden.


Soweit bekannt ist, ist die Transsexualität so alt wie die Menschheit, wenngleich Transsexuelle in verschiedenen Kulturen und historischen Zeitabschnitten sehr unterschiedlich behandelt wurden. In der Antike galt eine Umwandlung des Geschlechts als ein Mysterium, dem man Respekt und Hochachtung zollte. In der griechischen Mythologie wird zum Beispiel vom blinden Seher Teiresias erzählt, der sich als junger Mann wie durch ein Wunder in eine Frau verwandelte und später wieder in einen Mann. So machte er die sexuellen Erfahrungen des Mannes und der Frau, was ihm zu hohem Ansehen verhalf. Wir wissen auch, dass es bestimmten Männern in verschiedenen Gesellschaften der Vergangenheit (einschließlich einiger Indianerstämme Amerikas) erlaubt war, (oder man sie sogar darin unterstützte), eine feminine Geschlechtsrolle zu übernehmen und als „Schamanen" zu leben. Sie trugen Frauenkleider und heirateten große Krieger oder berühmte Männer ihrer Stämme und versorgten den Haushalt. Sie selbst waren oft sehr angesehen, weil man glaubte, sie hätten magische Kräfte. Eine solche, gesellschaftlich anerkannte Lösung war natürlich nicht nur für Transsexuelle außerordentlich günstig, sondern auch für andere sexuelle Minderheiten, wie Hermaphroditen, Transvestiten und „weiblich" empfindende Homosexuelle. Anderen homosexuellen Männern dagegen war es möglich, die sexuelle Erfüllung ihrer maskulinen Rolle durch die Heirat mit einem Schamanen zu finden. Sexuell weniger tolerante Gesellschaften der westlichen Welt haben eine vergleichbare Lösung nie geboten. Im Gegenteil, unsere christliche Kultur zeichnete sich immer durch fanatische Unterdrückung und Verfolgung sexueller Abweichungen aus, und so war ihre Einstellung Transsexuellen gegenüber meist durch Sanktionen bestimmt. Langsam ist es jedoch klar geworden, dass verbale Drohungen und Strafverfolgungen, Gewaltanwendung, Elektroschocks und Aversionstherapien die Situation nicht ändern oder bessern können.


Viele Fachleute sind heute der Auffassung, dass man Transsexuellen helfen sollte, ihr Ziel zu erreichen oder ihm zumindest näher zu kommen. Ein berühmter Arzt hat das Ziel so ausgedrückt: „Wenn man den Geist nicht so verändern kann, dass er zum Körper passt, dann sollten wir uns vielleicht dazu entschließen, den Körper so zu verändern, dass er dem Geist entspricht." Moderne Hormonbehandlungen und neue chirurgische Techniken ermöglichen es heute, die anatomische Erscheinung eines Menschen erheblich zu verändern. So ist es durch Hormonbehandlung und „operative Geschlechtsumwandlung" möglich, einem Mann die Charakteristiken eines weiblichen Körpers zu geben (dazu gehören auch Brüste und eine künstliche Vagina), so dass man ihn für eine Frau halten kann, (Das Gegenteil ist in einem gewissen Umfang auch möglich. Für den Chirurgen ist es jedoch einfacher, bei einem Mann eine künstliche Vagina zu schaffen, als bei einer Frau einen künstlichen Penis.) Es gibt inzwischen verschiedene spezialisierte Kliniken, in denen Transsexuelle in dieser Weise Hilfe finden können. Diese Kliniken waren zunächst vor allem Universitäten angeschlossen. Aber auch private Chirurgen haben sich inzwischen auf diesem Gebiet spezialisiert. In den letzten sechs Jahren haben sich in den Vereinigten Staaten hunderte von Patienten einer operativen Geschlechtsumwandlung unterzogen, und hunderte mehr haben sich dafür angemeldet.
 


 
Zwei Beispiele für Transsexualität


Vom weiblichen zum männlichen Geschlecht: Annie M. an ihrem 16. Geburtstag (links) und vier Jahre später nach einer operativen „Geschlechtsumwandlung" (rechts).


Vom männlichen zum weiblichen Geschlecht: Der englische Schriftsteller James Morris (links) war nach einer operativen „Geschlechtsumwandlung" als Jan Morris (rechts) unvermindert erfolgreich.

 


Die Geschlechtsumwandlung selbst kann sich über mehrere Jahre erstrecken. Sie beginnt mit einer längeren „Probezeit" und Hormonbehandlung (deren Wirkung wieder rückgängig gemacht werden kann) und führt schließlich zum chirurgischen Eingriff, der endgültig ist. Nach der Operation sollte der oder die Betroffene sich zu regelmäßigen Gesprächen einfinden, um die therapeutischen Ergebnisse und Probleme bei der Anpassung an die neue Lebenssituation zu besprechen.


Bei jedem Schritt auf diesem Weg sind fachlicher Rat und Hilfe wichtig. So wird es zum Beispiel von einem bestimmten Zeitpunkt an erforderlich, dass der Behandelte Kleidung trägt, die seinem neuen Geschlecht entspricht. Dadurch kann er zunächst mit seiner Umwelt in Konflikt geraten.


Bei alldem ist aber eine korrekte Diagnose entscheidend wichtig. Nur wirklich „echte" Transsexuelle sollten operiert werden. Jeder andere wird später die Operation bereuen, und dann ist es zu spät. Die Diagnose der Transsexualität ist nicht leicht und nur einem sehr erfahrenen Arzt oder Therapeuten möglich.


Ist die Behandlung abgeschlossen, werden einige rechtliche Schritte notwendig: Der „neue" Mann oder die „neue" Frau müssen einen anderen Namen haben, Ausweispapiere sind zu ändern. Ein Ortswechsel sowie Maßnahmen zur beruflichen Umschulung oder Neueingliederung können notwendig werden. In vielen Ländern Europas wird eine Geschlechtsumwandlung rechtlich noch nicht anerkannt. Die Folgen dieser amtlichen Unbarmherzigkeit sind oft verheerend. Man kann nur hoffen, dass Gesetzgeber und Richter sich bald überall mit diesen Problemen befassen und für die Zukunft vernünftige Lösungen anbieten.


 

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