Das Säuglings- und Kindesalter

6.1 Das Säuglings- und Kindesalter


Als Freud zu Beginn unseres Jahrhunderts begann, über Sexualität von Kindern zu schreiben, wurde er heftig angegriffen und als ein Mensch hingestellt, der es auf die Zerstörung von Reinheit und Unschuld abgesehen habe. Die meisten seiner Zeitgenossen waren überzeugt, dass Kinder keinerlei sexuelle Gefühle oder Fähigkeiten besäßen. Selbst heutzutage gibt es immer noch Menschen, die die Vorstellung, dass Kinder ein „Sexualleben" vom Augenblick ihrer Geburt an haben, in größte Schwierigkeiten stürzt.


Aber auch in unserer westlichen Welt haben Menschen nicht immer so gedacht. Die Vorstellung von der Kindheit als einen „reinen", zu schützenden Lebensabschnitt ist erst wenige hundert Jahre alt. Im Europa des Altertums und des Mittelalters wurden Kinder nicht viel anders als Erwachsene behandelt und konnten an den meisten ihrer Beschäftigungen teilhaben. Sie verrichteten die gleichen Arbeiten, spielten die gleichen Spiele, sangen die gleichen Lieder und trugen alle die gleichen Kleider. Maler des Mittelalters porträtierten Jungen und Mädchen als kleine Erwachsene mit kräftigen Körpern und ernsten Gesichtern. Mittelalterliche Poeten und Dichter schenkten den Kindern keine besondere Beachtung, sondern erwähnten sie nur in Verbindung mit Erfahrungen und Problemen Erwachsener. Es gab keine besondere Kinderliteratur. Wenn sie überhaupt lesen konnten, lasen Kinder die klassischen griechischen und lateinischen Autoren im Original. Es gab nicht einmal besondere Schulen für Kinder. Die meisten erhielten ohnehin keine formelle Ausbildung, sondern arbeiteten für ihre Eltern, wurden in einem Handwerk unterwiesen oder lebten als Pagen bei vornehmen Familien. Nur wenige Kinder hatten private Hauslehrer, alle anderen besuchten Klassen zusammen mit Kindern aller Altersstufen. Erst im 16. Jahrhundert gründeten bestimmte religiöse Orden Schulen ausschließlich für Jugendliche.


Die Sexualität von Kindern wurde nicht als Problem betrachtet. Sexualität war ganz allgemein mit Reproduktion gleichgestellt, daher schenkten die Menschen sexuellen Handlungen vor der Pubertät wenig Beachtung. Solange Jungen und Mädchen zu Fortpflanzung unfähig waren, wurden ihnen auch keine sexuellen Beschränkungen auferlegt. An dieser Stelle sollte man sich auch daran erinnern, dass sich niemand die Mühe machte, das genaue Alter einer Person festzustellen. Kinder und ihre Eltern wussten oft nicht genau, wie alt sie waren. Auf alle Fälle war man der Ansicht, dass ein Mädchen reif für die Ehe sei, sobald es seine erste Menstruation hatte.


Diese traditionellen Einstellungen begannen sich gegen Ende des Mittelalters zu verändern. Technischer Fortschritt, zunehmende Spezialisierung des Handwerks, das Wachstum der Städte und die Entstehung eines Mittelstandes brachten eine neue Familienstruktur und neue Lebensweisen mit sich. Die Kirchen begannen, genaue Geburtsregister zu führen. Altersunterschiede gewannen zunehmend an Bedeutung, wie es auch nach und nach bedeutsam wurde, seine Zeit nicht zu vergeuden und Zeitpläne strikt einzuhalten. Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert begann man, die Kindheit als eigenen Lebensabschnitt mit ganz spezifischen Bedürfnissen zu begreifen. Die Menschen bauten Schulen, schrieben Bücher, erfanden Spiele und Spielsachen, die für Kinder besonders geeignet sein sollten. Der Zeitpunkt emotionaler, intellektueller und sozialer Reife von Jungen und Mädchen verlagerte sich so in einen späteren Lebensabschnitt. Mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts wurde dieses „Beschützen" der jungen Menschen noch auf einen weiteren Lebenszeitraum ausgedehnt - auf die Adoleszenz oder das Jugendalter. So lebten junge Menschen schließlich in einer ganz anderen Welt als Erwachsene.


Diese neue Welt war durch wachsende sexuelle Unterdrückung gekennzeichnet. Wie bereits oben erwähnt, verlangte die moderne Zeit mit ihrem Streben nach Leistungsfähigkeit und Tüchtigkeit von jedem einzelnen ein Höchstmaß an Selbstkontrolle. Die Menschen konnten es sich nicht länger leisten, einfach zu tun, wonach ihnen zumute war, und so wurden sie hinsichtlich ihrer spontanen körperlichen Funktionen äußerst empfindlich. Husten, Schneuzen, Gähnen, Rülpsen und Furzen in der Öffentlichkeit, das bis dahin als gesund und natürlich gegolten hatte, war in der vornehmen Gesellschaft jetzt unmöglich geworden. Nacktheit wurde nicht länger geduldet. Man begann, die Ausscheidungs- und Fortpflanzungsorgane als schmutzig und ekelerregend zu betrachten und tabuisierte sie schließlich ganz.


Im 18. Jahrhundert behaupteten die Ärzte plötzlich, sie hätten eine neue, entsetzliche Gefahr für die Gesundheit des Geistes und des Körpers entdeckt - das Masturbieren der Kinder. Aus der Sicht medizinischer Bücher jener Zeit war Masturbation die Ursache fast aller menschlichen Behinderungen und Krankheiten, und sie konnte sogar zum Tode führen. Eltern brachten das Leben ihrer Kinder in Gefahr, wenn sie sie nicht daran hinderten. Unter den „verzogenen" Kindern der Reichen gab es nur wenige zwischen sechs und zwölf Jahren, die nicht dem „einsamen Laster" frönten. (Das sind übrigens die Jahre, die man später als „Latenzperiode" bezeichnete.) Nur eingreifende Maßnahmen konnten diese unglücklichen Jungen und Mädchen vor Geisteskrankheit und Tod bewahren.


Der Kreuzzug gegen die Masturbation dauerte länger als 200 Jahre und führte zu vielen grotesken Erziehungsmethoden. Das Ziel war immer dasselbe: Kinder gegen ihre eigene Sexualität zu schützen, indem man deren Existenz überhaupt verleugnete. In Sachen Sexualität mussten Kinder unwissend bleiben, man musste sie von allen „schlechten" Einflüssen fernhalten. Also mussten sie ständig überwacht werden, aus Furcht, ihre „Reinheit" könne durch „Schmutz" befleckt werden. (Zur gleichen Zeit fanden allerdings die Erwachsenen nichts dabei, Kinderarbeit zu dulden. Selbst im viktorianischen England waren arme Kinder gezwungen, täglich mehr als zwölf Stunden in Kohlebergwerken und Fabriken zu arbeiten.) Im Laufe der Zeit wurde über kindliche Masturbation in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr gesprochen. Eltern und Lehrer bestärkten sich gegenseitig in der Annahme, es sei nichts weiter als eine „unnatürliche" Angewohnheit gottloser oder kranker Kinder, an der „normale" Jungen und Mädchen ohnehin keinen Spaß hätten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten die meisten Erwachsenen sich erfolgreich eingeredet, dass die Kindheit der einzige Lebensabschnitt sei, in dem ein Mensch kein sexuelles Verlangen habe.


Es ist leicht einzusehen, dass viele Leute, die diese Meinung teilten, auf die Schriften Freuds schockiert und bestürzt reagierten. Hatte es doch den Anschein, dass er genau das Gegenteil behauptete. Nach seiner Theorie wurde jedes Kind mit einem ausgeprägten sexuellen Trieb geboren, und die ersten Jahre waren für die spätere Richtung dieses Triebes entscheidend. Trotz der großen Anzahl von Gegnern gewann diese psychoanalytische Ansicht nach und nach eine breite Gefolgschaft. Dies änderte jedoch nichts an der ängstlichen Haltung von Eltern und Lehrern. Im Gegenteil, da sie die Sexualität ihrer Kinder nicht länger ignorieren konnten, waren sie jetzt um so mehr um mögliche Einflüsse auf ihre Entwicklung besorgt. Darüber hinaus wurden sie sich der eigenen Verantwortung in diesem Zusammenhang bewusst, und dieses Bewusstsein erzeugte nur neue Befürchtungen.


Heute scheint der Einfluss Freuds seinen Höhepunkt überschritten zu haben. Viele Sexualforscher der Gegenwart messen seinen Auffassungen keine zentrale Rolle mehr zu und halten im großen und ganzen Kindheitserlebnisse für nicht so ungeheuer entscheidend. Man ist sich heute mehr denn je bewusst, dass Männer und Frauen die Fähigkeit haben zu lernen, zu vergessen und wieder zu lernen und so ihre sexuellen Einstellungen und Reaktionen im Laufe ihres Lebens zu verändern. Trotzdem wird die Bedeutung sexueller Lernprozesse im Säuglings- und Kleinkindesalter nach wie vor anerkannt. Es besteht kein Zweifel, dass Eltern und enge Verwandte einen erheblichen Einfluss auf die sexuelle Entwicklung eines Kindes nehmen können. Die Disziplin, die sie fordern, die Gewohnheiten, die sie einführen, die Beispiele, die sie geben, vermitteln Jungen und Mädchen einen ersten Begriff vom Unterschied zwischen den Geschlechtern und davon, wie sie mit ihrem eigenen Körper umgehen können. Erwachsene vermitteln Kindern ihre sexuelle Einstellung auf vielen verschiedenen Wegen: durch ihren Sinn für Achtung und Vertraulichkeit, durch die Art und Weise, in der Fragen nach sexuellen Dingen beantwortet werden, durch die Begriffe, die sie für die Geschlechtsorgane und für sexuelle Handlungen benutzen, durch den Ausdruck ihrer Stimme, durch Gesten und Mienenspiel.


Leider fühlen sich viele Erwachsene in unserem Kulturkreis in ihrer Sexualität eher unwohl, und das macht es ihnen unmöglich, ihre Kinder als glückliche und gesunde sexuelle Wesen anzuerkennen. Daher entwickelt sich häufig eine Kommunikationslücke zwischen den Generationen. Kinder, die man so erzieht, dass sie sich wegen ihrer normalen Körperreaktionen schämen oder schuldig fühlen, verlieren das Vertrauen in ihre Eltern und hören bald auf, ihnen Fragen über Sexualität zu stellen. Wenn dies geschieht, fühlen sich viele Eltern insgeheim erleichtert, und schließen vielleicht sogar daraus, ihre Kinder hätten das Interesse an sexuellen Dingen verloren. Die meisten Erwachsenen haben sich ja ohnehin heute daran gewöhnt, die Jahre der späten Kindheit als sexuelle „Latenz"-Phase zu betrachten, das heißt als Lebensphase, in der die sexuelle Entwicklung vorübergehend zum Stillstand kommt.


Es trifft auch zu, dass Kinder einige Jahre vor der Pubertät ihre sozialen Interessen und Verpflichtungen erheblich erweitern. Ihre sexuelle Aktivität mag dann vorübergehend vermindert sein. Außerdem gehen ältere Kinder häufig nach Geschlechtern getrennt ihren Freizeitaktivitäten nach. Die Gele-


genheit zu körperlichem Kontakt zwischen Jungen und Mädchen wird dadurch geringer. Besonders Mädchen werden gewarnt, sich küssen oder umarmen zu lassen, sich nackt zu zeigen oder Geschlechtsverkehr zu haben. Dennoch werden Kinder, die einmal angefangen haben, bis zum Orgasmus zu masturbieren, dies auch weiterhin tun. Das heißt also, wenn es eine Latenzperiode tatsächlich gibt, dann scheint sie nicht biologischer Natur zu sein. Diese Schlussfolgerung wird durch verschiedene anthropologische Studien gestützt. Kinder in sexuell freizügigen „primitiven" Gesellschaften geben ihre sexuellen Spiele im späten Kindesalter nicht auf. (Weitere Beispiele für die soziale Einstellung gegenüber kindlichen sexuellen Spielen sind im Kap. 12 „Die sexuell Unterdrückten" zu finden.)


 

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