Die sexuelle Reaktion bei Kleinkindern

6.1.1 Die sexuelle Reaktion bei Kleinkindern


Moderne Sexualforscher haben die Entwicklung des Sexualverhaltens oft mit dem Erlernen einer Sprache verglichen. Dieser Vergleich ist durchaus einleuchtend. Wir wissen zum Beispiel, dass Menschen verschiedener Kulturen ein unterschiedliches Sexualverhalten zeigen, ebenso, wie sie eine andere Sprache sprechen. Darüber hinaus gibt es Unterschiede innerhalb ein und derselben Kultur. Genau wie es jemand in seiner Muttersprache zu außerordentlicher Meisterschaft bringen kann, können manche Menschen sexuell reaktionsfähiger sein als andere. Wie manche Menschen an Sprachfehlern leiden, sind andere sexuell gehemmt oder sexuell reaktionsunfähig. Schließlich können Menschen es lernen, auf eine Vielzahl verschiedener sexueller Reize zu reagieren, wie sie es lernen können, verschiedene Sprachen zu verstehen. Das bedeutet, dass jedes gesunde Kind mit der Fähigkeit geboren wird, jede nur mögliche menschliche Sprache zu erlernen und jede nur mögliche Form menschlichen Sexualverhaltens anzunehmen. In beiden Fällen hängt die Entwicklung von kulturellen Lernprozessen (kultureller Konditionierung) ab.


Säuglinge bezeichnet man im Englischen als ,,infants" (von lat. infans: jemand, der noch nicht sprechen kann). Obwohl Säuglinge alle körperlichen Voraussetzungen zum Sprechen haben (Mund, Zunge, Stimmbänder usf.), sind sie noch nicht in der Lage, Wörter zu bilden, die für andere Menschen verständlich sind. Sie produzieren eine wahllose Folge von Lauten verschiedener Art, d. h. auch Vokale oder Konsonanten, die in der Sprache gar nicht vorkommen, die sie zu lernen haben. Diese „zusätzlichen" Vokale und Konsonanten werden später unterdrückt und vergessen, wenn das Kind lernt, seine Muttersprache richtig zu sprechen. Wenn es dann später tatsächlich eine Fremdsprache lernt, muss es möglicherweise eine Menge Zeit und Energie darauf verwenden, eben diese Laute wieder zu lernen, die man ihm einst ausgetrieben hat.


Die frühe Entwicklung kindlichen Sexualverhaltens verläuft sehr ähnlich. Alle Kinder werden mit bestimmten körperlichen Anlagen geboren, die sie befähigen, auf sexuelle Reize zu reagieren. Männliche Säuglinge können häufige Erektionen des Penis haben, bei weiblichen Säuglingen kann es zum Feuchtwerden der Vagina kommen. Sie empfinden es als angenehm, wenn man ihre Geschlechtsorgane oder andere erogene Zonen berührt, und sie können schon relativ früh Orgasmen haben. Trotzdem sind Säuglinge noch „sexuell unartikuliert". Sie reagieren eher wahllos auf jede Art Reize, und ihre Reaktionen sind noch nicht aufeinander abgestimmt und koordiniert. Erst nach und nach, im Verlauf sozialer Lernprozesse, beginnen Kinder ihr Sexualverhalten in solche Bahnen zu lenken, die den kulturellen Voraussetzungen ihrer Umgebung entsprechen. Das bedeutet, sie erlernen nicht nur die „richtige" Reaktion, sondern lernen es auch, die „falsche" Reaktion zu unterdrücken und zu vergessen. Wenn sie dann später einmal versuchen, ihre sexuelle Reaktionsfähigkeit zu erweitern, kann es sein, dass sie eine Menge Zeit und Energie darauf verwenden müssen, eben diese Reaktionen neu zu erlernen, die man ihnen einst ausgetrieben hat.


Für Säuglinge ist die hauptsächliche Quelle sinnlicher Reize die Mutter. Indem sie gestreichelt, umarmt und gestillt werden, lernen sie, geliebt und akzeptiert zu werden und Vertrauen zu fassen. Körperliche Nähe gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit, das sie brauchen, um sich gesund zu entwickeln Daher ist es bedauerlich, dass in einigen Krankenhäusern Säuglinge immer noch von ihren Müttern getrennt werden und so beide der ersten wichtigen Chance zur Kommunikation beraubt werden. Dieser anfängliche Fehler kann dann später von den Müttern noch fortgesetzt werden, indem sie Hautkontakt zu ihren Kindern vermeiden und z.B. das Kind auch dann nicht ausziehen wenn sie mit ihm spielen. Aus diesem Grunde entgeht auch einer Mutter, die nicht stillt, eine wichtige Gelegenheit zum Aufbau einer engen Beziehung zu ihrem Kind. Ein Kind will mehr, als nur ernährt werden. Es hat auch Verlangen nach menschlicher Wärme und Geborgenheit. Manche Mütter bemerken zwar dieses Verlangen ihrer Kinder, sind jedoch bereits nach kurzer Zeit nicht mehr bereit, es zu erfüllen. Aber genau wie ein Kind nicht sprechen lernen kann, wenn nicht mit ihm gesprochen wird, kann es auch nicht lernen, Liebe zu zeigen, ohne dass es von seinen Eltern oder anderen Erwachsenen gestreichelt, umarmt, geküsst oder gekitzelt wird. Eltern, die ihren Kindern diese körperliche und emotionale Zuwendung versagen, erzeugen in ihnen Enttäuschung, sie erziehen sie dazu, sich in ihrem eigenen Körper unwohl zu fühlen. Es besteht kein Zweifel, dass solche negativen Kindheitserlebnisse einen tiefen Eindruck auf die spätere Einstellung des Kindes gegenüber der Sexualität hinterlassen.

 

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