Das Erlernen der Geschlechtsrolle

6.1.2 Das Erlernen der Geschlechtsrolle


Kinder lernen bereits in frühem Alter, sich mit dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zu identifizieren. Zur gleichen Zeit lernen sie auch, sich in bestimmten Situationen „wie ein Mann" oder „wie eine Frau" zu verhalten, das heißt sie lernen, eine männliche oder weibliche Geschlechtsrolle anzunehmen.

Der Begriff „Geschlechtsrolle" wurde von Money, einem der führenden Forscher auf diesem Gebiet, so erklärt: „Alle die Dinge, die ein Mensch sagt oder tut, um sich, je nachdem, als Junge oder Mann, Mädchen oder Frau darzustellen. Das schließt Sexualität im Sinne von Erotik ein, ist aber nicht darauf beschränkt. Die Geschlechtsrolle wird nicht bei der Geburt festgelegt, sondern nach und nach durch Erfahrungen aufgebaut und vervollständigt; das geschieht durch zufälliges und ungeplantes Lernen, durch gezieltes Unterweisen und Einschärfen."


Nach der Geburt eines Kindes wollen die Eltern, Verwandten, Freunde und Nachbarn als erstes wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Ein Blick auf die äußeren Geschlechtsorgane des Kindes klärt diese Frage gewöhnlich, und die Antwort hat unmittelbar soziale Konsequenzen.


Ein Erwachsener tritt gewöhnlich Jungen und Mädchen sehr unterschiedlich entgegen. So fällt es ihm zum Beispiel meist leichter, ein männliches Kind seiner Stärke wegen zu loben und ein weibliches Kind wegen eines hübschen Gesichts, als umgekehrt. In unserem Kulturkreis werden Jungen meist blau gekleidet, Mädchen rosa. (Für die meisten Amerikaner ist Rosa eine ausgesprochen feminine Farbe.) Den Jungen gibt man andere Namen als den Mädchen, und man schneidet ihre Haare unterschiedlich. Man schenkt ihnen unterschiedliche Spielsachen und leitet sie zu unterschiedlichen Spielen an. Selbst in den ersten Monaten seines Lebens wird ein Junge unter Umständen anders berührt, aufgenommen und gehalten, und er erhält andere, auch zurückhaltendere Liebkosungen als ein Mädchen. Wenn er heranwächst, wird ihm gesagt, dass „große Jungen" nicht weinen dürfen und dass er lernen soll, seine Gefühle zu kontrollieren. Von einem Mädchen dagegen erwartet man Zärtlichkeit und Zuneigung. Kinderspiele und Kinderlieder betonen auf ganz verschiedene Weise, dass Jungen ruppig oder laut sein dürfen, während Mädchen zerbrechlich und zurückhaltend sind. Jungen lernen deshalb rasch, dass man sie für sanftes, leises Auftreten nicht belohnt, Mädchen lernen, ihre aggressiven Impulse zu unterdrücken, (Vgl. a. Kap. 9 „Die sozialen Rollen von Mann und Frau".)


Unter dem Einfluss solcher Einstellungen, Beispiele und Erwartungen Erwachsener begreifen sich Jungen und Mädchen nach und nach auch selbst als sexuelle Wesen. Und sie lernen, wie die beiden Geschlechter miteinander in Beziehung stehen. Wenn sie anfangen, das Sprechen zu beherrschen (im Alter zwischen 18 Monaten und zwei Jahren), ist die Festlegung ihrer Geschlechtsrolle bereits weitgehend vollzogen. Zu dieser Zeit identifizieren sie sich sehr stark mit dem Elternteil gleichen Geschlechts, nach ungefähr zwei weiteren Jahren ist ihre Selbstidentifikation als männlich oder weiblich normalerweise unwiderruflich festgelegt. Es sei noch angemerkt, dass vier- bis fünfjährige Kinder die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane immer noch verwechseln können und dass sie Männer und Frauen nach ganz anderen Kriterien unterscheiden, zum Beispiel nach ihrer Größe, Gestalt, Kleidung oder Frisur. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich über ihre eigene Männlichkeit oder Weiblichkeit im unklaren sind. Es bedeutet lediglich, dass für Kinder in diesem Alter die Geschlechtsorgane noch keine wichtigen Unterscheidungsmerkmale darstellen.


In seltenen Fällen werden Kinder bei ihrer Geburt aufgrund sexueller Missbildungen falsch beurteilt und in einer Geschlechtsrolle erzogen, die nicht mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmt. Wird dieser Fehler später entdeckt, kann eine Umkehrung der Geschlechtszuordnung notwendig werden. In den ersten Lebensmonaten ist eine solche Umkehrung oft möglich, wenn alle Erwachsenen, die mit dem Kind Kontakt haben, in dieser Sache konsequent und standhaft sind. Ist das Kind älter als 18 Monate, wird ein solcher Versuch schon schwieriger; nach dem vierten Geburtstag ist sicher, dass er misslingt. (Vgl. a. Kap, 5.3 „Sexuelle Fehlbildungen".)


Es gibt auch bestimmte Fälle, in denen Kinder, die eindeutig männlichen oder weiblichen Geschlechts sind, eine unklare, gestörte oder falsche Geschlechtsrolle annehmen. Diese Probleme werden in Kap. 8.4 „Transsexualität" behandelt.


 

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