Das Jugendalter

6.2 Das Jugendalter


Als Jugendalter wird der Lebensabschnitt zwischen Pubertät und Erwachsensein bezeichnet. Dieser Zeitabschnitt wurde erst im Verlauf der letzten Jahrhunderte relativ lang, er war bis dahin in der Menschheitsgeschichte immer nur eine kurze Phase gewesen. Selbst heute gibt es in verschiedenen Teilen der Welt noch Naturvölker, bei denen es Jugendliche in unserem modernen Sinn gar nicht gibt. Diese Völker haben statt dessen zeremonielle Einführungsriten, bei denen ihre Kinder gleich nach Erreichen der Pubertät den Status von Erwachsenen erhalten.


Pubertät ist genaugenommen ein körperlicher Reifeprozess, bei dem sich die sekundären Geschlechtsmerkmale entwickeln und der zu Fruchtbarkeit führt. Im Gegensatz dazu wird das Jugendalter besser als ein psychischer und sozialer Reifeprozess beschrieben, der unter anderem zur vollen gesellschaftlichen Verantwortung führt. Pubertät ist ein biologisches Phänomen, das Jugendalter eine kulturell bestimmte Phase. Die Pubertät beginnt beim Menschen normalerweise mit dem zehnten Lebensjahr und endet ein paar Jahre später. Das Jugendalter beginnt mit der Pubertät und kann heute ein Jahrzehnt oder auch länger dauern.


Viele Menschen sind sich nicht bewusst, dass dies selbst in unserer westlichen Kultur nicht immer so gewesen ist. Im Europa des Mittelalters waren Jungen und Mädchen zum Beispiel rechtlich relativ früh erwachsen. Die meisten mitteleuropäischen Stämme erklärten ihre Kinder im Alter von zwölf Jahren zu Erwachsenen; Angeln und Sachsen sogar schon mit elf Jahren. Nach einem Gesetzeswerk des 13. Jahrhunderts, dem Schwabenspiegel, konnten Jungen mit 14 Jahren und Mädchen mit zwölf Jahren ohne die Einwilligung des Vaters heiraten.


Um diese Gesetze und Bräuche richtig zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, dass sie den Bedürfnissen einer weitgehend ländlichen Kultur entsprachen, dass die allgemeine Lebenserwartung sehr kurz war und dass Jung und Alt praktisch ihr gesamtes tägliches Leben teilten. Unter diesen Umständen bestand keine Notwendigkeit für eine längere besondere Zeitspanne als Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Damals war der soziale Unterschied zwischen einem Kind und einem Erwachsenen weit weniger ausgeprägt als heute. Man sah Kinder nicht sentimental als die Schwachen, Reinen und Unschuldigen an; sie arbeiteten ganz einfach mit ihren Eltern und älteren Geschwistern zusammen und übernahmen so nach und nach Einstellungen und Verantwortlichkeiten von Erwachsenen.


Es wurde zuvor bereits erwähnt, dass mit dem Beginn der Neuzeit dem Menschen Generationsunterschiede zunehmend bewusst wurden. Kinder wurden kindlicher und Erwachsene „ernster". Erwachsen zu sein bedeutete jetzt, sich unter Kontrolle zu haben und sich einer strengen Disziplin zu unterwerfen. Die Spezialisierung und Mechanisierung der Arbeit in den sich entwickelnden Städten machten es unumgänglich, neue exakte Methoden der Zeitmessung zu finden. Arbeit und Freizeit wurden klar getrennt. Junge Leute wurden in einem Handwerk oder Gewerbe nach festen Zeitplänen ausgebildet, oder sie wurden in Schulen nach einem genauen Lehrplan unterrichtet. Die Jahre, die sie in einer solchen Ausbildung zubrachten, nahmen zu. Mit der Gründung von Schulen für Jugendliche entstanden Orte, an denen man für eine bestimmte Zeit den Anforderungen des erwachsenen Lebens entzogen war. Schüler hatten viele Pflichten und wenig Rechte; sie blieben lange Zeit von Eltern und Lehrern abhängig. Mit Beginn des 16. Jahrhunderts entwickelte sich die Kindheit als ein besonderer, behüteter Lebensabschnitt. Im 18. Jahrhundert definierte man zusätzlich einen zweiten solchen Lebensabschnitt - das Jugendalter.


So vollzog sich innerhalb weniger Jahrhunderte eine starke Veränderung der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber jungen Menschen. Diese Veränderung wurde auf dem Gebiet der Sexualität besonders deutlich, wie anhand eines Vergleichs zweier bedeutender pädagogischer Werke aus dem 16. und 18. Jahrhundert gezeigt werden kann: der „Colloquia familiaria" von Erasmus von Rotterdam (1522) und des „Emile" von Jean Jacques Rousseau (1763). Erasmus schrieb die „Colloquia" für seinen sechsjährigen Patensohn, „um ihn gutes Latein zu lehren und für die Welt zu erziehen". Daher befasst sich der Text mit den verschiedensten alltäglichen Erfahrungen und Problemen, einschließlich solcher sexueller Art. Es gibt dort sehr eingehende und offene Abhandlungen über sexuelles Verlangen, sexuelle Freuden, Geschlechtsverkehr, Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt, Heirat, Scheidung, Prostitution und Geschlechtskrankheiten. Das Buch ist in offener und gelegentlich humorvoller Sprache gehalten. Die Sexualität wird als ein natürlicher und angenehmer Bestandteil des Lebens dargestellt, dem es sich mit Verständnis und gesundem Menschenverstand zu nähern gilt.


Für Rousseau dagegen, dessen Ziel es war, eine utopische, ideale Erziehung zu beschreiben, bedeutete Sexualität ein höchst problematisches, möglicherweise gefährliches Thema. Daher schreibt er nicht mehr für Kinder oder für deren Eltern, sondern nur noch für hauptberufliche Erzieher. Seine Sprache legt sich wenig fest und bleibt undeutlich, wichtige Gesichtspunkte werden absichtlich nicht erklärt, und alle möglichen negativen Begleiterscheinungen von Sexualität werden mit Nachdruck hervorgehoben. Im Gegensatz zu Erasmus unterscheidet Rousseau sehr deutlich zwischen Kindheit, Jugend und Erwachsensein. Nach seiner „modernen" Auffassung müssen Kinder hinsichtlich der Sexualität vollkommen uninformiert bleiben, Heranwachsende sollten darüber so wenig wie möglich erfahren. Nur direkte und beharrliche Fragen seien zu beantworten, die Antworten sollten den großen Ernst des Themas nachdrücklich betonen. Die „Unschuld" eines jungen Menschen soll so lang wie irgend möglich erhalten bleiben, Jugendliche müssen vor dem Wissen um Sexualität unbedingt geschützt werden. Daher belehrt das Buch aufgeklärte Erwachsene, wie dieser Schutz zu bewerkstelligen sei.


Dabei sollten wir uns jedoch daran erinnern, dass Rousseau, ebenso wie vor ihm Erasmus, nichts anderes als den damaligen Zeitgeist zum Ausdruck brachte. Das neue Leitbild war der „reine" asexuelle, idealistische Jüngling, der „seine Kräfte bewahrte", um den schweren Aufgaben des Erwachsenenlebens gewachsen zu sein. Es ist kein Zufall, dass zu Beginn des Jahrhunderts in England und Deutschland die ersten medizinischen Schriften auftauchten, die die Gefahren der Masturbation darstellten. Wenige Jahre bevor „Emile" veröffentlicht wurde, eröffnete der angesehene schweizerische Arzt Tissot eine Kampagne, die sich bald in ganz Europa ausbreitete und die eine nie dagewesene Hysterie bei den Erwachsenen über die angebliche „moralische und körperliche Korruption der Jugend" hervorrief. In diesem Klima wachsender Prüderie verloren die jungen Menschen bald nicht nur ihr Recht auf sexuelle Information, sondern vor allem auch auf jedwede sexuelle Aktivität. (Vgl. a. Kap. 7.1 „Sexuelle Selbststimulierung".)


Es muss allerdings betont werden, dass zuerst Kinder der bürgerlichen Mittelschicht von dieser Entwicklung betroffen wurden. Die Aristokratie und die unteren Sozialschichten, wie Bauern, Arbeiter, Soldaten und Bedienstete, blieben weiterhin bei ihren traditionellen Gewohnheiten und Einstellungen Erst nach der Industriellen Revolution, als die bürgerliche Mittelschicht ihre führende Position bekam, wurde ihr Lebensstil zum Vorbild für die gesamte Gesellschaft. Selbst heute gibt es in unserer Gesellschaft noch soziale Gruppen, die dieses Vorbild nicht anerkennen. In den Vereinigten Staaten sind diese Gruppen oft durch ihre ethnische Herkunft definierbar. So haben zum Beispiel die Indianer in ihren Reservaten, die Schwarzen in den Ghettos der Städte, die Eskimos in Alaska und die Polynesier auf den verschiedenen Pazifikinseln der USA ihre eigene sexuelle Moral und ihre eigenen Auffassungen von der Jugend. (In geringerem Ausmaß findet man solche kulturellen Unterschiede auch zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen der Weißen.) Darüber hinaus sind viele Mitglieder der sozialen Mittelschichten in jüngster Zeit „ausgestiegen" und leben nach den - historisch älteren - Wertsystemen der sozialen Unterschicht.


Trotzdem spiegeln, insgesamt gesehen, die sexuellen Sitten der Industrienationen immer noch die Bedürfnisse, Hoffnungen und Ängste der Mittelschichten wider, die sich zu Beginn des modernen Zeitalters entwickelten, Daher wurde das Jugendalter zu einer verhältnismäßig langen Periode der Anpassung, in der junge Menschen nicht nur vor den Härten des Lebens, sondern auch vor ihrer eigenen Unreife zu schützen sind. Die Rechte, Privilegien und Verantwortungen der Erwachsenen werden ihnen nicht von heute auf morgen zeremoniell übertragen, sondern müssen nach und nach im Laufe vieler Jahre erworben werden. Manche Menschen werden heute sogar erst Mitte oder Ende des vierten Lebensjahrzehnts zu völlig unabhängigen Erwachsenen.


In den Vereinigten Staaten wird heute der erste kleine Schritt des Erwachsenwerdens im Alter von zwölf Jahren vollzogen, wenn Kinder keinen Preisnachlass mehr erhalten und im Kino, im Museum, im Zoo, beim Busfahren oder beim Fliegen wie Erwachsene behandelt werden. Der nächste Schritt folgt dann nach weiteren vier Jahren. Mit 16 Jahren können Jungen und Mädchen einen Führerschein erwerben, und viele Einschränkungen der Gesetze gegen die Kinderarbeit entfallen für sie. In einigen Staaten erhalten sie dann auch die gesetzliche Erlaubnis, in Geschlechtsverkehr einzuwilligen. Eine weitere entscheidende Veränderung tritt im Alter von 18 Jahren ein: Frauen sind dann ehemündig; Männer können zur Armee einberufen werden. In den meisten Staaten können Männer und Frauen ohne die Einwilligung ihrer Eltern heiraten. Sie erhalten jetzt auch das Wahlrecht und können sich um öffentliche Ämter bewerben. Tatsächlich gelten sie jetzt in den meisten Staaten rechtlich als Erwachsene. In einer Reihe von Staaten müssen sie jedoch noch bis zum 21. Lebensjahr warten, bis sie Alkohol trinken oder eine Bar besuchen dürfen, in der Alkohol ausgeschenkt wird. Aber selbst dann kann es noch sein, dass sie unter bestimmten Aspekten nicht erwachsen sind. So können sie zum Beispiel als Schüler weiterhin finanziell von ihren Eltern abhängig sein. Wenn sie sich dann auch noch für einen hochspezialisierten Beruf entscheiden, kann es sein, dass sie ein weiteres Jahrzehnt oder noch länger nicht in der Lage sind, für sich selbst aufzukommen.


Man kann also davon ausgehen, dass junge Menschen, je nach sozialem Hintergrund und Lebensziel, in unserem Kulturkreis erst fünf, zehn oder 20 Jahre nach der Pubertät zu vollständiger rechtlicher und wirtschaftlicher Unabhängigkeit gelangen. Diese Verzögerung ist aufgrund der wachsenden Anforderungen, die unsere komplexe moderne Welt an das Wissen und Können der Menschen stellt, nicht immer zu vermeiden. Sie kann auch gewisse Vorteile haben, da sie eine allmähliche Annäherung an die Anforderungen des Erwachsenenlebens zulässt. Es können hieraus jedoch ernsthafte Probleme entstehen, auch solche sexueller Natur.


In unserer allgemeinen Moralvorstellungen ist der Geschlechtsverkehr verheirateten Paaren vorbehalten. Körperlich reife Männer und Frauen können jedoch oftmals nicht heiraten, ehe sie 20 bis 30 Jahre alt sind, weil sie es sich nicht leisten können oder einfach nicht heiraten wollen. So kann es sein, dass sie durch eine schwierige Zeit sexueller Frustration gehen müssen. Natürlich hat das Vorurteil gegen die Masturbation, das noch in den beiden letzten Jahrhunderten bestand, mittlerweile an Einfluss verloren. Vorehelicher Koitus wird jedoch oft noch von vielen Menschen verurteilt. So ist für viele Jugendliche die Masturbation der einzig mögliche Ausweg. Manche versuchen sich in verschiedenen ,,Petting"-Techniken, andere suchen - meist als vorübergehenden Ersatz - homosexuelle Kontakte.


Zweifellos schafft die sexuelle Unterdrückung junger Menschen oft wirkliches Unglück. Wissenschaftler der Gegenwart haben klar belegt, dass männliche Jugendliche den Höhepunkt ihrer sexuellen Reaktionsfähigkeit während ihres zweiten Lebensjahrzehnts erreichen und dass sie in dieser Zeit nur schwer ohne irgendeine Art regelmäßiger geschlechtlicher Aktivität auskommen können. Für eine junge Frau mag es leichter sein, abstinent zu leben, aber die Wahrscheinlichkeit sexueller Erfüllung in der Ehe ist ungleich größer, wenn sie in jungen Jahren die Erfahrung des Orgasmus gemacht hat.


So hat die moderne Wissenschaft wiederentdeckt, was in früheren, weniger repressiven Zeiten längst bekannt war. Wie Kinsey vor Jahrzehnten betonte, stellen viele der großen Liebesgeschichten der Weltliteratur Beziehungen zwischen Jugendlichen dar. Eros und Psyche, Acis und Galatea, Pyramos und Thysbe, Daphne und Cloe, Floir und Blancheflor, Aucassin und Nicolette, Romeo und Julia - all diese berühmten Liebenden waren nach heutigen Maßstäben minderjährig. Gretchen war es, als sie sich in Faust verliebte, Helena war erst zwölf Jahre alt, als sie ihren Gatten Menelaos verließ, um dem Paris nach Troja zu folgen. Narziss war 16, „als viele Jünglinge und Jungfrauen seine Liebe suchten". Ganymed war sogar jünger, als Zeus ihn zu seinem Liebling machte. Hyazinth war ein Heranwachsender, als Apollo und Zephir um seine Gunst stritten, auch Hylas, als Herkules ihn seinen Eltern entführte. Kurzum, wie jeder Student der Kulturgeschichte weiß, es gibt in der westlichen Mythologie und Dichtung vielfältige Hinweise auf jugendliche „Liebesobjekte". Sollte auch nur einer von ihnen heute auferstehen, so würde man ihn als einen, .gestrauchelten" Jugendlichen betrachten und seinen Liebhaber wegen „Verführung Minderjähriger" ins Gefängnis sperren.


Man kann nur hoffen, dass unsere Gesellschaft diese negativen und wirklichkeitsfremden Einstellungen fallenlässt. Es ist ein gutes Zeichen, dass eine wachsende Zahl von Erwachsenen die sexuellen Rechte Jugendlicher akzeptiert und verteidigt. Selbst einige öffentliche und private Schulen, Stiftungen und Gesundheitsorganisationen haben die überkommenen Vorwände fallenlassen und nehmen heute ein gewisses Maß sexueller Aktivität unter Jugendlichen als selbstverständlich hin. Vielerorts erhalten Jugendliche eine angemessene Sexualaufklärung, und man bietet ihnen praktische Hilfe bei persönlichen sexuellen Problemen an. Trotz solcher neueren Entwicklungen gibt es immer noch viele Männer und Frauen, für die das Jugendalter die bedrückendste Phase ihres Lebens ist. (Diese Gesichtspunkte werden in Kap. 12 „Die sexuell Unterdrückten" ausführlicher behandelt.)


Auf den folgenden Seiten werden zunächst die körperlichen Veränderungen während der Pubertät zusammengefasst. Anschließend werden einige Möglichkeiten beschrieben, wie Jugendliche in unserer Gesellschaft es lernen können, sich sexuell zu begreifen und auszudrücken.


 

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