10.1 „Natürlich" - „Widernatürlich"


Wo die Verletzung sexueller Normen als religiöses oder ethisches Problem definiert ist, erscheinen sexuelle Anpassung und sexuelle Abweichung als Tugendhaftigkeit und Sünde. Angepasstes Sexualverhalten wird als „moralisch", „sittlich" und „natürlich" beschrieben; abweichendes Verhalten bezeichnet man als „unmoralisch", „unsittlich" oder „widernatürlich".


Besonders die Begriffe „natürlich" und „widernatürlich" waren bei Moralisten aller Zeiten sehr beliebt, weil das Beschwören der Natur sehr viel eindrucksvoller ist als die Berufung auf Anstand oder Moral. Die Natur scheint unabhängig von menschlichen Launen zu sein. Daher kann sie als objektive, wirklich unparteiische Autorität, als unbestechlicher Schiedsrichter in Fragen von Gut und Böse herangezogen werden. Eine „natürliche" Moral kann daher den Anspruch erheben, unveränderlich, ewig und allgemeingültig zu sein. Daher können diejenigen, die ihre moralischen Werturteile auf die Natur gründen, sich selbst als vorurteilsfrei darstellen. In ihren Augen finden sich in der Natur selbst die Regeln, nach denen man zu leben hat. Richtig betrachtet, können die Absichten der Natur herausgefunden werden; haben wir sie einmal gefunden, müssen wir ihnen auch folgen. Nur „natürliche" Handlungen sind daher moralisch.


Diese Schlussfolgerung beruht indes auf einem fundamentalen Missverständnis von Natur und Moral. Die Natur verfolgt keine Absichten, und es wäre grundlegend unmoralisch, würden wir leugnen, dass wir für unsere Wertsysteme selbst verantwortlich sind. Der Mensch ist der Herr der Natur; er formt sie nach eigenen wechselnden Interessen. So unterstützt oder verhindert er natürliche Ereignisse, wie er es für richtig erachtet, und er benutzt ein bestimmtes Naturgesetz, um damit ein anderes auszuschalten. Sogar sein eigenes Leben ist von der Weigerung abhängig, der Natur ihren Lauf zu lassen. Würde der Mensch nur anerkennen, was sich „von Natur aus" ergibt, würde es ihm gehen wie dem Säulenheiligen Simeon, der Seife und Wasser verschmähte und dessen ganzer Körper schließlich mit eitrigen Geschwüren übersät war. Als die Maden, die sich in seinen Wunden nährten, herabfielen, sammelte er sie wieder auf, setzte sie an ihren Platz zurück und sagte: „Esset, was Gott euch gegeben hat!"


Zum Glück sind die meisten Menschen vernünftig genug, dieses fromme Beispiel nicht nachzuahmen. Sie wissen, dass der Fortschritt des Menschen von jeher davon abhing, die Natur, „so wie sie ist", nicht zu akzeptieren. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Veränderung der Natur. Man kann deshalb sagen, dass der Mensch als zivilisiertes Wesen in einer Welt lebt, die er sich selbst geschaffen hat.


Ein wichtiger Aspekt dieser von Menschen gemachten Welt sind die moralischen Werte, die das menschliche Verhalten regeln. Das wird besonders deutlich, wenn wir die unterschiedlichen früheren und neuen sexuellen Wertsysteme betrachten. Wie wir wissen, herrschte in der jüdischen und christlichen Kultur lange der Glaube, die „Natur" der Sexualität sei die Fortpflanzung und jede sexuelle Handlung, die nicht diesem Ziel diente, sei „widernatürlich". Religiöse Dogmen, mythische Vorstellungen, Sitten und Gebräuche, Zivil- und Strafrecht, selbst unser eigener Sprachgebrauch spiegeln diese Ansicht noch heute wider. Wenn wir zum Beispiel die Geschlechtsorgane des Menschen als „Genitalien" (Zeugungsorgane) bezeichnen oder als „Reproduktionssystem", drücken wir damit gleichzeitig aus, dass ihre „natürliche" Funktion die Fortpflanzung sei. Das ist jedoch eine sehr eingeschränkte Sichtweise, denn die Geschlechtsorgane haben auch andere Funktionen. Wissenschaftler sind sich dessen selbstverständlich bewusst, und sie nehmen diese alten Begriffe nicht wörtlich. Nicht-Wissenschaftler versuchen jedoch noch heute, die „wahre" Funktion dieser Organe aus ihrer Bezeichnung abzuleiten. Nach dieser Auffassung verbieten es Gott, die Natur und die Logik, dass die „Fortpflanzungsorgane" irgendwelchen anderen Zwecken dienen. Das ist allerdings genauso unsinnig, als würde man den Mund, die Zähne, die Zunge und den Hals als „Ernährungsorgane" bezeichnen und den Menschen das Sprechen, Singen, Pfeifen oder Küssen verbieten.


Es ist eine Frage der Redlichkeit des Denkens, sich von solchen vorgefassten, engstirnigen und unzulässig vereinfachenden Begriffen freizumachen. Wir sollten uns statt dessen daran erinnern, dass es nie die „Natur", sondern der menschliche Wille ist, der über den Umgang mit dem menschlichen Körper entscheidet. Ein Mensch benutzt den Mund zum Essen, aber auch zum Sprechen, Singen, Küssen oder Rauchen. Er benutzt seine Beine zum Gehen und Laufen, aber auch zum Seilspringen, zum Himmel- und Hölle-Spielen und zum Tangotanzen. Er benutzt seine Geschlechtsorgane, um sich fortzupflanzen, aber auch um Lust zu erleben und um seinem Partner Lust zu bereiten.


Jede dieser Handlungen ist gleich „natürlich" oder „widernatürlich" wie die andere. Die Freiheit, die Natur abzuwandeln oder zu vervollkommnen, ist Teil menschlicher Existenz. Sie ist aber auch die wesentliche Grundlage der Kultur. Menschen lassen sich heute ihr Haar und ihre Fingernägel nicht „natürlich" wachsen, sondern sie schneiden und färben sie je nach Mode. Sie essen ihre Nahrung nicht „natürlich" roh, sondern kochen, braten oder backen sie. Schmerzen ertragen sie nicht „natürlich", sondern sie nehmen schmerzstillende Mittel. Sie geben sich nicht mit der „natürlichen" Vielfalt von Pflanzen und Tieren zufrieden, sondern züchten neue Obstsorten und Viehrassen. Die „Natur" hat nicht vorgesehen, dass Menschen fliegen, sie hat sie deshalb nicht mit Flügeln ausgestattet. Aber die Menschen haben diese „natürliche" Behinderung ganz „natürlich" überwunden, indem sie Ballons, Luftschiffe, Flugzeuge, Raketen und Raumschiffe erfanden.


Insgesamt bedeutet dies also, dass der Mensch alleine entscheidet, was für ihn „natürlich" ist; er allein stellt seine moralischen Wertsysteme auf. Er überträgt dann diese moralischen Wertsysteme auf die natürliche Welt, die ihn umgibt und die keine eigenständigen Moralwerte besitzt. Natur als solche ist wertfrei, sie kennt keine Bevorzugung, keine Richtung, kein Endziel. Sowohl Wachstum als auch Verfall, sowohl Gesundheit als auch Krankheit, sowohl Leben als auch Tod sind natürlich. Die Natur sorgt für Sonne und Regen, Hitze und Kälte, genießbare und giftige Pflanzen, Fruchtbarkeits- und Verhütungsmittel. Der Mensch ist es, der unter ihnen auswählt und der verschiedene Moralsysteme und ethische Ordnungen schafft, mit denen er lebt. Früher erklärte man diese Ordnungen als unmittelbar aus der Natur abgeleitet, und man glaubte deshalb fälschlicherweise, diese Wertsysteme und Ordnungen seien objektive Tatsachen. Heute ist diese Auffassung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Es ist an der Zeit, die ernüchternde Wahrheit zu akzeptieren, dass wir alle für unsere Überzeugungen und für das, was wir in ihrem Namen unseren Nächsten antun, selbst verantwortlich sind.


 

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