Naturrecht und Naturgesetz

10.1.2 Naturrecht und Naturgesetz

In der Geschichte des menschlichen Denkens haben wohl wenig Wörter so viel Verwirrung gestiftet wie die Wörter „Natur" und „Gesetz". Sie können sehr unterschiedliche Bedeutungen haben, aber diese Bedeutungen werden nicht immer hinreichend erklärt. Wenn Menschen diese Begriffe in einer Diskussion verwenden, wechseln sie oft von einer Bedeutung zur anderen, ohne sich dessen bewusst zu sein, und so verwickeln sie sich in logische Widersprüche.
Es erscheint daher angebracht, kurz darzustellen, wie die Begriffe „Natur" und „Gesetz" entstanden sind, wie sie sich im Laufe der Jahre entwickelt haben und wie wir sie heute am besten verstehen können.

Die Naturrechtslehre
In der westlichen Zivilisation besteht seit langem die Vorstellung, dass es über dem fehlbaren Recht menschlicher Gesetzgeber ein höheres, unfehlbares, ungeschriebenes „Naturrecht" gibt, das göttlichen Ursprungs ist. Menschliches Recht ist nur dann gültig, wenn es dem Naturrecht entspricht, und jeder kann für sich selbst ergründen, was dieses Naturrecht fordert, wenn er nur seinen Verstand gebraucht.

Diese Auffassung wurde vor 2000 Jahren von dem römischen Schriftsteller und Politiker Cicero in seinem Buch „Über die Gesetze" so ausgedrückt::   

Das wahre Gesetz aber ist die richtige Vernunft, die mit der Natur in Einklang steht und für alle Menschen gilt. Es ist unveränderlich und ewig,. . . Da gibt es In Rom kein anderes Gesetz als  in Athen, nicht eines jetzt und ein anderes später, Nein: Zu allen Zeiten wird ein einziges, ewiges und unverändertes Gesetz alle Völker beherrschen, und nur der Eine wird Meister und Herrscher aller sein - Gott, der Schöpfer dieses Gesetzes… Wer ihm nicht gehorcht, flieht vor sich selber und verleugnet das Wesen des Menschen. Aber eben dadurch erleidet er die schwerste Strafe, auch wenn er allen anderen Strafen entgeht.."

In diesem kurzen Abschnitt fasst Cicero alle charakteristischen Merkmale des Naturrechts zusammen:                                                                                                      

Erstens ist es der Ausdruck göttlichen Willens und daher allumfassend, ewig und unanfechtbar.
Zweitens können und müssen seine Regeln mit Hilfe des Verstandes gefunden werden.
Drittens ist es eine heilige Pflicht des Menschen, diese Regeln zu befolgen. Wann immer er sie übertritt, schändet er seine eigene „wahre Natur" und straft sich damit selbst.

Die Vorstellung von einem Naturrecht bedeutet also, dass der Natur bestimmte moralische Grundprinzipien innewohnen und dass sie uns zeigen, wie wir uns verhalten sollen. Solange wir sie befolgen, erfüllen wir unsere wesentliche Bestimmung. All unsere Handlungen werden dann nicht nur natürlich, sondern auch moralisch richtig sein. Wenn jeder sich seiner Natur entsprechend verhielte, könnte die Welt für immer in Harmonie, Gerechtigkeit und Frieden leben.

Cicero war natürlich nicht der erste, der diese verführerische Idee vertrat. Lange vor ihm wurde das gleiche schon von einer griechischen Philosophenschule, den Stoikern, und vor ihnen von Aristoteles und Platon nehauptet, aber auch sie griffen lediglich eine noch ältere Philosophie wieder auf. In der Tat, wie wir sehen werden, hat die Lehre vom „Naturrecht" ihre Wurzeln in allerfrühesten religiösen Vorstellungen der Menschen.

Die älteste und ursprünglichste Form von Religion wird als „Animismus" bezeichnet. Auf den frühesten Stufen der Kulturentwicklung glauben die Menschen, dass natürliche Dinge - Bäume, Flüsse, Berge und die Sterne am Himmel - beseelt sind, d.h. dass sie Gefühle und Intelligenz besitzen. Man glaubt, dass Geister oder Seelen in den Dingen wohnen, die mit dem gleichen Respekt behandelt werden müssen wie die Mitmenschen. Ja, man muss ihnen sogar noch mehr Respekt erweisen, weil sie übermenschliche Kräfte besitzen, mit denen sie belohnen oder bestrafen können. Alle Naturereignisse können so einfach erklärt werden: Das Getreide wächst, weil der „Getreidegeist" den Menschen für seine Rechtschaffenheit belohnt. Das Getreide wächst nicht, weil dieser Geist den Menschen für eine Übertretung bestraft. Der Fluss trägt das Boot, weil der „Flussgeist" mit dem Menschen zufrieden ist. Das Boot wird in die Tiefe gerissen und sinkt, weil der Geist erzürnt worden ist.

Diese animistische Interpretation der Natur kann man natürlich auch als soziale Interpretation deuten. Anders ausgedrückt, sind die ersten Erfahrungen des Menschen mit der Natur nur eine Erweiterung seiner sozialen Erfahrungen. Die Geister, die ihn überall umgeben, verhalten sich ähnlich wie mächtige Herren, Häuptlinge oder Weise, und sie müssen daher in ähnlicher Weise bedient werden. Im Gegenzug bieten sie Schutz und Hilfe. Somit entspricht die Beziehung zwischen Mensch und Natur im Kern einer sozialen Beziehung, beherrscht vom Prinzip gegenseitiger Verpflichtung. Solange der Mensch seinen Verpflichtungen nachkommt, wird er von der Natur geduldet und sogar unterstützt. Vernachlässigt er jedoch seine Pflichten, dann wird die Natur zornig und bestraft ihn.

Mit dem Fortschreiten der Zivilisation verfeinern sich auch die religiösen Anschauungen der Menschen. Der ursprüngliche Animismus verwandelt sich in Polytheismus (den Glauben an viele Götter). Die große Anzahl mächtiger Geister wird nach und nach auf eine kleinere Zahl noch mächtigerer Götter reduziert, von denen jeder ein umfangreiches Gebiet der Natur beherrscht. Der Gott oder die Göttin der Fruchtbarkeit ist nicht mehr nur für eine einzelne Pflanze zuständig, sondern für die gesamte Ernte. Die Schiffahrt hängt nicht mehr vom Geist eines einzelnen Flusses oder Ozeans ab, sondern von einem großen Gott aller Gewässer. Natürlich vereinfacht diese entwickelte Religion das Leben erheblich. Die Grundeinstellung des Menschen zur Natur verändert sich jedoch nicht. Diese Beziehung kann selbst auf der nächsten Stufe der Entwicklung noch unverändert bestehen, in der sich der Polytheismus zum Monotheismus (den Glauben an einen Gott) weiterentwicklet.

Für unsere Ausführungen hier ist es gleichgültig, ob das Getreide auf Befehl eines Getreidegeistes, eines Ahnengeistes, eines Fruchtbarkeitsgottes oder des einen, allmächtigen Gottes wächst. Wichtig ist nur, dass dieses Wachstum durch eine übermenschliche Macht als Reaktion auf das Verhalten des Menschen interpretiert wird. Sonne und Regen, gute und schlechte Ernten, sind Lohn oder Strafe für das Verhalten des Menschen. Alles, was in der Natur geschieht, hat eine persönliche Bedeutung für den Menschen und ist in irgendeiner Form mit seinem Schicksal verbunden. Alle Naturereignisse haben die gleiche Ursache und das gleiche Ziel. Die Naturgesetze sind göttlicher Wille. Eine Unterscheidung zwischen kausalem und normativem Recht wird nicht gemacht, Erklärung und Rechtfertigung sind identisch.

Darüber hinaus offenbar sich in diesen frühen Phasen religiöser Entwicklung der Wille Gottes nicht nur in den Naturgesetzen, sondern auch in den Gesetzen der Gesellschaft. Der Mensch macht noch keinen deutlichen Unterschied zwischen Natur und Gesellschaft. Beide gehorchen den gleichen Regeln und werden vom Menschen in gleicher Weise erfahren. Alle Dinge dieser Welt (deren untrennbarer Bestandteil der Mensch ist) werden von mächtigen, übermenschlichen Mächten regiert, die persönlichen, strikten Gehorsam verlangen. Diese übermenschlichen Mächte - die Geister, die Götter oder Gott - sind daher der Ursprung aller Gesetze - der erklärten und der unausgesprochenen, allgemeinen und besonderen, bekannten und unbekannten, geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze. Der Gegensatz zwischen dem unvollkommenen „künstlichen" Recht des Menschen und dem vollkommenen „natürlichen" Recht besteht noch nicht. Selbst die einfachsten sozialen Gebräuche, Regeln und Vorschriften haben einen göttlichen Ursprung.

Aus diesem Grunde glauben viele Naturvölker, dass ihre politischen und rechtlichen Einrichtungen irgendwelchen Gottheiten oder göttlich inspirierten Führern zu verdanken sind. Bei manchen Völkern erheben die Herrscher Anspruch darauf, selbst Götter oder zumindest göttlicher Abstammung zu sein. Erst auf einer höheren Kulturstufe, wenn sich die alten Gewohnheitsrechte und Gesetze ändern, wenn Menschen ein historisches Bewusstsein entwickeln und lernen, fremden Ideen mit Toleranz zu begegnen, erkennen sie, dass ihre Gesellschaftsordnung das Produkt fehlbarer Menschen ist. Zu diesem Zeitpunkt wird erstmals der Unterschied zwischen geschriebenem, unvollkommenem menschlichem Recht und ungeschriebenem, vollkommenem Naturrecht erkennbar. Von da an ist vollkommene Gerechtigkeit nur noch in der natürlichen Ordnung möglich.

Freilich verbleiben bei den großen monotheistischen Religionen einige geschriebene Gesetze, die als direkt von Gott gegeben gelten. Es sind dies Gesetze, die für alle Zeiten in den heiligen Büchern aufgezeichnet sind - im Alten und Neuen Testament und im Koran. Diese Gesetze haben indes eher allgemeinen Charakter, sie befassen sich nur mit einigen bestimmten Bereichen des Lebens und müssen daher durch viele weltliche Gesetze ergänzt werden. Diese von Menschen gemachten Gesetze können sich unter Umständen sehr wohl als unklug und ungerecht erweisen. Daher ist es immer notwendig, sie mit dem göttlichen Recht zu vergleichen, das die Heilige Schrift offenbart, und auch mit dem Naturrecht, das in der Natur selbst begründet ist.

 
Der heilige Thomas von Aquin

Thomas von Aquin (1224-1274) war der bedeutendste Theologe des Mittelalters und einer der hervorragendsten Verfechter der Naturrechtslehre.


In unserer westlichen Kultur wurde diese Auffassung selbstverständlich am Ende mit den Lehren des christlichen Glaubens verbunden. (Die jüdischen und islamischen Rechtstraditionen entwickelten sich etwas anders.) So wurde die Katholische Kirche vom Altertum bis weit ins Mittelalter als Hüterin und Auslegerin aller „höheren" Gesetze betrachtet. In seiner „Summa Theologica" hat der bedeutendste Theologe des Mittelalters, Thomas von Aquin, vier verschiedene Arten von Gesetzen unterschieden:

1. das ewige Recht (die Gerechtigkeit Gottes, die mit seinem Urteil fast identisch ist)

2. das Naturrecht (das ewige Recht, von Gott in die Natur und den menschlichen Geist eingesetzt)

3. das göttliche Recht (Gottes Offenbarung seines Willens)

4. das menschliche Recht (abgeleitet vom Naturrecht).


Die ersten drei Arten von Recht und Gesetz drücken den Willen eines himmlischen Gesetzgebers aus; sie fallen daher deutlich in den Aufgabenbereich der Theologie. Nur die vierte Art, das menschliche Recht, hat offenbar einen weltlichen Ursprung. Da es jedoch vom Naturrecht abgeleitet wird (und unter bestimmten Umständen dem göttlichen Recht untersteht), wird seine letztendliche Gültigkeit dennoch nach theologischen Grundsätzen entschieden.

Diese von Thomas von Aquin stammende Auffassung beherrschte das europäische Denken viele Jahrhunderte lang. Sie wird selbst heute noch von katholischen Theologen vertreten. Wie der hl. Thomas selbst, gehen diese Theologen davon aus, dass es nur eine einzige richtige Interpretation der Natur und der Heiligen Schrift geben kann - die Interpretation der Katholischen Kirche. Diese Auffassung wird jedoch heute nicht mehr von allen Christen geteilt.

Die Wirkung der Reformation
Die Protestantische Reformation des 16. Jahrhunderts führte zur Teilung der bis dahin einheitlichen Westlichen Kirche und bereitete den Weg für neue und oft widerstreitende religiöse und moralische Anschauungen. Infolgedessen wurde es für Christen immer schwieriger, den „wahren" Willen Gottes und die tatsächlichen „Absichten der Natur" zu erkennen.

(Links) Eine protestantische Karikatur aus dem 16. Jahrhundert stellt den Papst Alexander VI. als Teufel dar.
(Rechts) Eine katholische Karikatur des 16. Jahrhunderts stellt Martin Luther als Dudelsack dar, der von Teufel gespielt wird.

Die protestantische Reformation des frühen 16. Jahrhunderts ließ eine große Anzahl neuer, unabhängiger christlicher Kirchen entstehen, die eine Vielzahl unterschiedlicher, sich zum Teil widersprechender Interpretationen der Heiligen Schrift anboten. Viele dieser Kirchen weigerten sich überdies, irgendwelche offiziellen Dogmen ausführlicher zu formulieren. Sie bestärkten ihre Mitglieder darin, die Bibel nach ihrem eigenen Verständnis zu deuten. Der genaue Inhalt einzelner göttlicher Offenbarungen wurde daher eine Frage der persönlichen Anschauung.

So überrascht es auch nicht, dass moderne Christen auch das Naturrecht unterschiedlich interpretieren. Anstelle einer einigen Kirche, die mit einer Stimme spricht, hören wir jetzt viele Kirchen und eine große Zahl von Einzelpersonen, die ihre eigenen Anschauungen über Gottes Schöpfung haben. In den letzten Jahrzehnten hat diese Vielfalt sich fast bis zur Verworrenheit gesteigert. So ist die „wahre Natur" des Menschen, die in der Vergangenheit so klar schien, zu einem immer schwerer fassbaren Phantom geworden.

Angesichts dieser Entwicklung hat die Naturrechtslehre viel von ihrem früheren Einfluss verloren. Demokratische Gesetzgeber beachten sie heute kaum noch, sondern rechtfertigen ihre Gesetze mit dem Willen des Volkes, ohne sich auf eine „höhere" Macht zu berufen. 


Die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 bezieht sich noch in vielen ihrer Prinzipien und Sätzen auf die Naturrechtslehre. Das Dokument zeigt aber auch eine gewisse Ambivalenz gegenüber dieser Lehre. - Abgebildet ist die Einleitung. Die Passagen, die sich auf die Naturrechtslehre beziehen, sind hier unterstrichen.

Die zunehmende Vernachlässigung der „Natur" als Quelle des Rechts erkennt man besonders in England und in den USA, deren Rechtserbe sich von dem anderer westlicher Länder stark unterscheidet. Die englischen Könige gaben einen Teil ihrer „natürlichen" Rechte bereits im Jahre 1215 auf, als sie die Magna Carta unterschrieben. In den folgenden Jahrhunderten wurde ihre Macht durch das Parlament noch weiter eingeschränkt. Überdies verpflichtete ein Gewohnheitsrecht, das sich auf praktische Erfahrungen und Präzedenzfälle gründete, sowohl die Minister des Königs als auch seine Untertanen. So nahm, anders als auf dem europäischen Festland, das englische Recht bald einen eher pragmatischen Charakter an. Juristische Auseinandersetzungen wurden schlicht als die Streitereien zwischen Menschen angesehen. Der Schlüssel zur Gerechtigkeit wurde nicht mehr so sehr in der Bibel gesucht, sondern im Gesetzbuch.

Damit soll freilich nicht gesagt werden, dass England und Nordamerika die Naturrechtsphilosophie ganz aufgaben. Als sich im späten 18. Jahrhundert die amerikanischen Kolonien gegen die englische Krone erhoben, benutzten sie eben diese Philosophie, um ihren Aufstand zu rechtfertigen. So kommt es, dass die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 ausdrücklich auf „selbstevidente Wahrheiten" und „die Gesetze der Natur und des Gottes der Natur" hinweist. Bei genauer Betrachtung erkennt man jedoch, dass die Autoren dem Prinzip des Naturrechts ambivalent gegenüberstanden, und dass sie an seiner traditionellen Grundlage sogar einige Zweifel hatten. Im Gegensatz zu älteren Traditionen erklären sie zum Beispiel auch, dass die Regierungsmacht nicht von Gott im Himmel abzuleiten ist, sondern von „der Zustimmung der Regierten". Daher haben die Menschen, wenn es notwendig sein sollte, das Recht, neue Regierungen einzusetzen und „ihre Macht in der Weise zu organisieren, dass sie ihnen die aussichtsreichste Möglichkeit für Sicherheit und Glück bietet". Das bedeutet, das Regierung und Gesetz hauptsächlich als Werk des irdischen Menschen angesehen werden. Der Mensch allein trägt also die politische und rechtliche Verantwortung.

Im heutigen Amerika spielt die Lehre vom Naturrecht eigentlich keine wichtige Rolle mehr. Was noch davon übriggeblieben ist, sind einige seltsame Spuren, die am eindrucksvollsten in den nicht revidierten, alten Strafgesetzen zu finden sind. Zum Beispiel gab es bis in die neueste Zeit in einigen Bundesstaaten immer noch „Verbrechen wider die Natur", das heißt Verbrechen, bei denen es keine Opfer gab, die aber im Widerspruch zu dem standen, was Juden und Christen einstmals als den Willen Gottes ansahen. (Vgl. a. Kap. 10.2 „Legal -Illegal".) Die Gerechtigkeit solcher Gesetze wird heute nicht nur von Juristen, sondern auch vielen Geistlichen in Frage gestellt. Man kann heute sogar sagen, dass die Idee einer normativen Naturordnung durch den Fortschritt der Naturwissenschaften unhaltbar geworden ist.


Naturwissenschaft und Naturgesetz
Wie bereits erwähnt, sieht der primitive Mensch einen engen Zusammenhang von Natur und Gesellschaft und deutet alle Naturereignisse als gesellschaftliche Phänomene, d. h. zuallererst nach dem Vergeltungsprinzip: Sonne und Regen, gute und schlechte Ernten, Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod werden von mächtigen Geistern, Göttern oder Gott als Reaktion auf menschliches Verhalten bewirkt. Rechtschaffenheit wird umgehend belohnt, Sünde auf alle Fälle bestraft. Es gibt keinen Unterschied zwischen normativem und kausalem Gesetz. Alles was sich in der Natur ereignet, ist direkter Ausdruck eines übermenschlichen, persönlichen Willens. Erklärung und Rechtfertigung sind also ein und dasselbe.

Dieses vorwissenschaftliche Naturverständnis lässt sich leicht anhand vieler antiker Mythen und religiösen Glaubensbekenntnisse aus aller Welt demonstrieren. Im gegenwärtigen Zusammenhang können wir uns jedoch auf die jüdisch-christliche Kultur beschränken und nur einige Beispiele aus dem älteren Teil der Bibel, den fünf Büchern Mose im Alten Testament anführen.

Im 3. Buch Mose sagt Jahwe zum Beispiel dem Volks Israel, dass ihm bestimmte sexuelle Beziehungen missfallen, und dass sie daher nicht ungestraft bleiben werden. So erklärt er unter anderem: „Wenn einer das Weib seines Bruders nimmt, so ist das eine Schändlichkeit; er schändet damit seinen Bruder, die sollen kinderlos bleiben" (3. Mose 20, 21). Mit anderen Worten, religiöse Übertretungen und leibliche Gebrechen werden einfach als Ursache und Wirkung beschrieben. Eine „unreine" Ehe bleibt unfruchtbar. Selbst wenn sowohl der Mann als auch die Frau vorher fruchtbar waren, unterbindet die Sünde sofort und unvermeidlich ihre normalen Körperfunktionen und macht Fortpflanzung unmöglich. (Gewissenhafte Bibelleser werden bemerken, dass Jahwe hier eine ganz andere Meinung vertritt als vorher im 1. Buch Mose [38, 8-10], Dort gebietet er Onan, die Frau seines Bruders zu schwängern und bestraft ihn, als er sich weigert. Dieser Widersspruch kann hier nicht aufgelöst werden. Er ist ein Thema für Theologen.)

Jahwe straft aber auch, wenn Geschlechtsverkehr unter den „richtigen" Partnern zum „falschen" Zeitpunkt stattfindet: „Wenn ein Mann bei einem Weibe liegt zur Zeit ihres Monatsflusses und mit ihr Umgang pflegt und so ihren Blutfluss aufdeckt und sie ihren Blutfluss entblößt, so sollen beide aus ihrem Volke ausgerottet werden" (3. Mose 20,18). Der letzte Satz wird oft als die Androhung von Exil oder Verbannung interpretiert. Theologen sind jedoch heute der Ansicht, dass dies falsch ist und dass der Ausdruck „aus ihrem Volk ausgerottet werden" sich auf Krankheit und frühen Tod bezieht, den der allmächtige Gott schickt. Damit sorgt das Verbrechen unabwendbar für seine eigene Bestrafung.

Im 5. Buch Mose wird Jahwe noch deutlicher: Die Natur wird seinem Volk nichts geben, was es nicht verdient. Wer rechtschaffen ist und seine Gebote befolgt, wird gesegnet sein mit „Wohlstand, Fruchtbarkeit, Regen zu seiner Zeit und guten Ernten“ (5. Mose 28, 8 ff.). Wer jedoch seine Gebote missachtet, wird mit „Krankheiten, Siechtum, Fieber, Hitze, Feuersbrunst, Geschwüren, Beulen, Skorbut, Krätze, Wahnsinn, Blindheit, Geistesverwirrung, Dürre, Heuschreckenplagen und verdorbenen Speisen“  bestraft werden (5. Mose 28, 20 ff.).

Natürlich vertraut Jahwe in vielen Fällen auch darauf, dass der Mensch ihm bei der Bestrafung hilft. So gebietet er dem Volk Israel: „Wenn einer mit einem Tiere Umgang hat, so soll er getötet werden und auch das Tier sollt ihr umbringen" (3. Mose 20, 15). Dennoch sind in diesen wie in allen anderen Fällen die irdischen Vollstrecker lediglich Instrumente göttlichen Willens. Wenn sie versagen, werden sie selbst gestraft. Tun sie jedoch, was ihnen befohlen wurde, werden sie umgehend belohnt. Ein Beispiel ist Pinehas, der dafür belohnt wurde, dass er ein sündiges Paar tötete (4. Mose 25, 6 ff.). Auf jeden Fall spielen in Fragen der göttlichen Gerechtigkeit Menschen niemals mehr als eine untergeordnete Rolle. Jahwe mag sich ihrer bedienen, ist aber nie von ihnen abhängig. Mit oder ohne ihre Hilfe wird sein Wille geschehen - in der Natur wie in der Gesellschaft.

Bei den Juden des Altertums folgten also Moral- und Naturgesetze einem gemeinsamen Prinzip. Es gab im Grunde genommen nur ein Gesetz, das gleichzeitig präskriptiv und deskriptiv war. Das heißt, es stellte nicht nur fest, was geschehen sollte, sondern auch, was in jedem Fall tatsächlich geschah. Vergeltung konnte aufgeschoben nicht aber verhindert werden. Am Ende wurde alle Unschuld und alle Schuld offenbar, und jeder empfing seinen gerechten Lohn.

Diese Rechtsphilosophie beschränkte sich jedoch keineswegs nur auf Israel. Viele Völker der Antike hatten ähnliche Ansichten. Die ältesten griechischen Philosophen sahen sowohl Natur als auch Gesellschaft von der doppelten Macht des Schicksals einerseits (der Moira) und der Notwendigkeit andererseits (der Ananke) regiert. Die Griechen hatten die Vorstellung von einer unfehlbaren Gerechtigkeit in der Ehrfurcht gebietenden Göttin Dike personifiziert, die als Göttin der Vergeltung, als höchster Richter all derer galt, die gegen die göttliche Ordnung der Dinge handelten. In einem berühmten Fragment des griechischen Philosophen Heraklit heißt es: „Die Sonne wird ihre Bahn nicht verlassen; wenn sie es dennoch tut, wüssten die Erinnyen, die Dienerinnen der Dike, sie wohl zu finden." Mit anderen Worten, selbst die Himmelskörper folgen den Geboten der Gerechtigkeit. Kommen sie von ihrer vorgeschriebenen Bahn ab, dann wird ihr Vergehen entdeckt und bestraft. Die Naturgesetze sind grundlegende Moralvorschriften, die von einem folgsamen Universum erfüllt werden müssen.

Die Unfähigkeit, die Gesetze der Natur und der Moral klar zu unrterscheiden, ist typisch für das vorwissenschaftliche Denken. Dieses Denken änderte sich erst langsam mit dem Fortschreiten der Zivilisation. Es dauerte eine lange Zeit, bis die Menschheit entdeckte, dass die Umlaufbahnen der Sterne, Sonne und Regen, Stürme und Erdbeben, Geburtsfehler, Epidemien und das Verhalten von Heuschrecken und Würmern nicht von der Sünde oder der Rechtschaffenheit des Menschen abhängen. Im alten Griechenland entwickelten einige Philosophen (die Atomisten) relativ früh den Begriff objektiver Kausalität, aber mit dem Aufstieg der christlichen Kirche wurden ihre Ergebnisse allmählich vergessen. Erst zu Beginn des modernen Zeitalters, als Forscher wie Kopernikus, Bacon, Kepler und Galilei die „wissenschaftliche Revolution" auslösten, betrachtete man die Natur wieder „neutral“, d.h. unabhängig von göttlichen und menschlichen Interessen.

Wenn Wissenschaftler ein natürliches Phänomen untersuchen, dann lassen sie bewusst dessen unterstellte soziale oder moralische Dimension außer acht. Statt dessen versuchen sie, das Phänomen ausschließlich aus sich selbst zu erklären. Fragen von gut oder böse, gerecht oder ungerecht, sind für sie zunächst ohne Interesse. Sie fällen keine Werturteile, sondern stellen Tatsachen fest. Sie schreiben nicht vor, was sein sollte, sondern beschreiben, was ist.

Ein Wissenschaftler geht von der Voraussetzung aus, dass die natürliche und die gesellschaftliche Ordnung von unterschiedlichen Prinzipien bestimmt werden, und dass man daher sehr wohl Naturereignisse erklären kann, ohne sie gleichzeitig rechtfertigen zu müssen. Er schreibt der Natur keine „höheren Zwecke" mehr zu, sondern behandelt sie lediglich als ein System von Elementen, die im Zusammenhang von Ursache und Wirkung stehen. Dieser Zusammenhang ist unabhängig von irgendeinem menschlichen oder übermenschlichen Willen.

Wer mit der Wissenschaftsgeschichte vertraut ist, weiß natürlich, dass diese wissenschaftliche „Objektivität" nicht über Nacht erreicht wurde. Viele Jahrhunderte lang blieben das neue, moralisch neutrale Prinzip der Kausalität und das ältere Prinzip der Vergeltung auf vielen Ebenen indirekt miteinander verbunden. So nahmen beispielsweise die ersten modernen Wissenschaftler an, dass - wie bei menschlicher Sünde und göttlicher Bestrafung - Ursache und Wirkung in einer gesetzmäßigen Folge verliefen und immer in direktem Verhältnis zueinander stünden. Man nahm an, stärkere Ursachen bewirkten größere Folgen. Weiter glaubte man, dass eine Ursache nur eine Wirkung haben könne und eine Wirkung nur eine Ursache.

Inzwischen sind solche Reste des Vergeltungsprinzips aus dem wissenschaftlichen Konzept der Kausalität verschwunden. Heute haben Wissenschaftler erkannt, dass Ursache und Wirkung nur Teile eines zusammenhängenden Ganzen sind und dass sie als solche oft nichts weiter darstellen als eine Folge von Ereignissen. Jede Ursache ist die Wirkung einer anderen Ursache und jede Wirkung ist die Ursache einer anderen Wirkung. Es erscheint daher oft willkürlich, eine bestimmte Ursache für eine bestimmte Wirkung nennen zu wollen. Daher wird die Verbindung von Ursache und Wirkung nicht mehr als absolut zwangsläufig erachtet, sondern als eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Manche Wissenschaftler haben die Begriffe „Ursache" und „Wirkung" ganz und gar fallengelassen, sie sprechen heute statt dessen allgemeiner von „Bedingungen", „Faktoren" und „Resultanten" eines Ereignisses.

Diese schwierigen Fragen der modernen Wissenschaftstheorie können hier nicht weiter diskutiert werden. Für unsere Zwecke reicht es aus, folgende grundlegende Annahme im Gedächtnis zu behalten: Die natürliche und die soziale Ordnung sind verschieden. Natur, also die natürliche Realität, die uns umgibt, kann und muss ohne Bezug auf soziale Normen erklärt werden. Die Naturgesetze unterscheiden sich grundlegend von den Religions-, Moral-, Straf- und Zivilgesetzen der Gesellschaft.

Man kann diesen Gedanken auch auf andere Weise zusammenfassen: Mit dem Fortschritt der Naturwissenschaft hat das Wort „Gesetz" zwei sehr verschiedene Bedeutungen gewonnen. Wo es einst nur ein Gesetz gab - den Willen Gottes, der alles, sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft, regierte —, wird jetzt eine scharfe Trennung zwischen normativem und kausalem Gesetz gemacht. In der Formulierung von Kausalgesetzen wird heute von Wissenschaftlern jeder Hinweis auf eine göttliche Absicht bewusst vermieden.

Die folgenden beiden „Gesetze" können diesen Punkt erläutern:

1. Wenn eine Frau Ehebruch begeht, dann wird sie bestraft.

2. Wenn Wasser unter eine bestimmte Temperatur gekühlt wird, dann gefriert es.

Im Sinne der vorwissenschaftlichen Betrachtungsweise beschreiben beide Gesetze nur das Wirken eines göttlichen Willens. Gott straft Ehebruch, Gott lässt Seen und Flüsse gefrieren. Er tut das eine genauso unfehlbar wie das andere. (Wenn er will, kann er jedoch in beiden Fällen eine „Ausnahme" machen. Er kann gnädig sein und den Ehebruch ungestraft lassen, er kann ein Wunder vollbringen und einen bestimmten Fluss weiterhin fließen lassen, während alle anderen Flüsse gefroren sind.)

 Wissenschaftlich betrachtet, haben beide Gesetze dagegen nur eine oberflächliche Ähnlichkeit. In ihrer grammatikalischen Struktur sind sie gleich; ja, in einem ganz allgemeinen und abstrakten Sinn drücken sie auch denselben Grundgedanken aus, das heißt sie verbinden eine bestimmte Bedingung mit einer bestimmten Konsequenz. Es ist jedoch heute offensichtlich, dass diese Verbindung in beiden Fällen sehr unterschiedlich ist. Das erste Gesetz verbindet eine Tatsache (Ehebruch) mit ihrer Konsequenz (Strafe) nach Art einer Vorschrift, indem festgestellt wird, dass der Tatsache die Konsequenz folgen sollte. Das zweite Gesetz verbindet eine Tatsache (eine bestimmte niedrige Temperatur) mit ihrer Konsequenz (Verwandlung von Wasser in Eis) nach Art einer Beschreibung, indem festgestellt wird, dass der Tatsache die Konsequenz folgen wird. Das erste Gesetz kennzeichnet eine zwingende Regel, die von irgendeiner gesetzgebenden Gewalt niedergelegt wurde. Das zweite Gesetz kennzeichnet nichts weiter als eine Beobachtung. Das erste Gesetz muss von einer übermenschlichen oder menschlichen Macht durchgesetzt werden (von einem Geist, von Göttern, von Gott oder von der Polizei). Das zweite Gesetz „setzt sich selbst durch". Es nimmt seinen Lauf, ohne auf irgendeine Meinung oder Handlung Rücksicht zu nehmen. Eine Frau, die Ehebruch begeht, muss nicht immer bestraft werden. Wasser, das unter eine bestimmte Temperatur gekühlt wird, wird immer zu Eis.

Der Unterschied zwischen normativen und kausalen Gesetzen wird vielleicht noch deutlicher, wenn man untersucht, in welcher Weise diese sich im Laufe der Zeit verändern können. Normative Gesetze können auf dem Wege der Gesetzgebung verändert oder widerrufen werden. Abänderung oder Widerruf ersetzen die alte Norm durch eine neue. Kausale Gesetze hingegen ändern sich in anderer Weise, und ihre Veränderung hat eine andere Bedeutung. In gewissem Sinn kann man sogar sagen, dass kausale Gesetze unveränderlich sind und dass sich nur unsere Wahrnehmung von ihnen verändert. Wissenschaftler können zum Beispiel ein bestimmtes kausales Gesetz formulieren und dann, angesichts neuer Beobachtungen, gezwungen sein, es zu revidieren. Eine solche Revision wird in der Regel ein höheres Maß an Genauigkeit in der Beschreibung des beobachteten Phänomens mit sich bringen, daher entkräftet sie die ursprüngliche Zielrichtung des Gesetzes selbst nicht.

Schließlich muss man sich auch vor Augen halten, dass es viele normative Systeme in der Welt gibt, aber nur ein kausales System. Im Laufe der Geschichte haben Menschen eine beachtliche Anzahl von Gesellschaftsordnungen mit erheblichen Unterschieden und sogar widersprüchlichen Normen gegründet. Handlungen, die zu einer Zeit gefordert waren, waren zu einer anderen verboten; Eigenschaften, die in der einen Gesellschaft gelobt wurden, wurden von einer anderen getadelt. Im Gegensatz dazu hat es nie mehr als eine natürliche Ordnung gegeben, und sie ist noch heute überall dieselbe. Der Grund ist einfach: Die natürliche Ordnung war in ihrer Funktion nie dem Einfluss von Menschen unterworfen und wird es auch nie sein. Menschen können sie erforschen und zu ihrem Vorteil nutzen, ändern können sie sie nicht.

„Natur" als Ideologie
Blicken wir heute auf die Geschichte der Zivilisation zurück, dann sehen wir, dass die strikte Unterscheidung zwischen normativen und kausalen Gesetzen eine große Leistung war. Ohne diese Unterscheidung wäre die Entwicklung der Naturwissenschaft mit allen ihren Errungenschaften unmöglich gewesen. Erst als der Mensch sich entschied, die göttlichen und menschlichen Aspekte der Dinge, die er untersuchte, außer acht zu lassen, begann die Wissenschaft. Der Mensch musste also zunächst die Erklärung von Naturereignissen von deren Rechtfertigung trennen. Nur so wurde es ihm möglich, die Natur unvoreingenommen zu betrachten. Er ging nicht mehr davon aus, die Natur habe irgendwelche augenscheinlichen oder versteckten persönlichen Bezüge zu ihm, sondern er versuchte, sie in ihren eigenen Ausdrucksformen zu verstehen, Merkwürdigerweise war es eben diese Loslösung, die neutrale, objektive Einstellung, die ihn fähig machte, immer mehr über die Natur zu erfahren und sie für seine eigenen Ziele zu nutzen.

Diese Objektivität der Wissenschaft beruht auf der Erkenntnis, dass Naturereignisse keinem „höheren Zweck" dienen und keine moralischen Werte ausdrücken oder darstellen. Wissenschaftlern ist bekannt, dass es keine logischen Rückschlüsse von der Realität auf ethische Normen, vom „Ist" auf das „Sollte" gibt. Aus der Tatsache, dass ein Ereignis geschieht, ist nicht zu folgern, ob es hätte geschehen sollen oder nicht. Die Tatsache, dass in der Natur Wasser zu Eis wird, wenn es unter eine bestimmte Temperatur gekühlt wird, besagt nicht, dass niedrige Temperaturen gut oder schlecht seien oder dass Wasser besser oder schlechter sei als Eis. Die Tatsache, dass große Fische kleine fressen, bedeutet weder, dass ihr Verhalten richtig ist, noch dass es falsch ist. Die Tatsache, dass manche Pflanzen wuchern und andere zerstören, sagt nichts über den moralischen Wert des Lebens von Pflanzen aus.

Während die Natur an sich also wertfrei ist, können Menschen nicht ohne Wertsysteme leben und ziehen daher immer bestimmte natürliche Phänomene anderen vor. Männer auf Schiffen haben lieber eisfreie Seen, Flüsse und Ozeane als zugefrorene, bei Männern auf Schlitten ist es aber umgekehrt. Manche Fischer fangen gerne große Fische, andere lieber kleine. Bauern und Gärtner kultivieren ein Leben lang bestimmte Pflanzen und jäten andere aus, obwohl sie sehr wohl wissen, dass das, was sie als Unkraut vernichten, für andere vielleicht eine Nutzpflanze ist. Der Mensch wählt also ständig gewisse Dinge oder Ereignisse der Natur als nützlich aus, während er andere als nutzlos ablehnt. Auf jeden Fall wird seine Auswahl immer von seinem wechselnden Eigeninteresse gesteuert, nicht von Werten oder Normen, die in der Natur selbst liegen.

Nichts desto weniger gibt es auch heute noch Menschen, die behaupten, die Natur baue sich auf moralischen Prinzipien auf oder, was auf dasselbe hinausläuft, alle Naturereignisse dienten einem höheren Zweck oder Ziel. Zudem sei dieses höhere Ziel mit Hilfe des „gesunden Menschenverstandes" aus der Natur selbst ersichtlich. Jeder, der die Natur eingehend untersucht, könne so die Gesetze finden, nach denen er selbst leben soll. Dieses „Naturrecht" garantiere ihm eine Lebensführung, die den Absichten der Natur entspricht und damit moralisch einwandfrei und gerecht ist.

Die Annahme, die Natur könne Absichten haben, besagt, dass sie ein übermenschliches Wesen mit Intelligenz und Willen ist oder dass sie zumindest von einem solchen Wesen regiert wird. Daraus folgte, dass die Naturgesetze nicht nur beobachtete Verläufe beschreiben, sondern feste Vorschriften darstellen, die von einer gesetzgebenden Macht verordnet worden sind. Dieser oberste Gesetzgeber wäre dann entweder die Natur selbst oder Gott, der die Natur nach seinem Willen geschaffen hat. Es liegt dann im richtig verstandenen Eigeninteresse des Menschen, dass er die Gesetze Gottes bzw. den Willen der Natur befolgt. Sir William Blackstone, der berühmte englische Rechtsgelehrte des 18. Jahrhunderts, hat diesen Gedanken in seinen „Kommentaren zu den englischen Gesetzen" so zusammengefasst: „Da der Mensch in allem von seinem Schöpfer abhängig ist, muss er sich in allen Dingen nach dem Willen des Schöpfers verhalten. Dieser Wille seines Schöpfers heißt Naturgesetz."

Wie oben dargelegt, beruht die Lehre vom Naturrecht nicht auf wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie trägt im wesentlichen religiöse Züge und ist Ausdruck einer vorwissenschaftlichen, mythischen Sicht der Welt. Diese Tatsache wird auch von den meisten christlichen Verfechtern der Naturrechtslehre offen zugegeben und sogar von Anhängern nicht-christlicher Religionen kaum bestritten. Dessen ungeachtet hat es auch in der modernen Zeit wiederholte Versuche gegeben, „objektive" Normen aus der Natur abzuleiten, ohne sich dabei auf religiöse Inhalte zu beziehen. Selbst atheistische Philosophen haben versucht, die Grundlage ihres moralischen Wertsystems in der „Natur" zu finden.

Die modernen, nicht-religiösen Anhänger eines „Naturrechts" bestehen zum Beispiel darauf, dass „endliches Leben immer unvollkommen ist" und dass alles Lebendige „immer nach Vervollkommnung und Erfüllung strebt". Menschen haben daher auch ein besonderes Bestreben nach „natürlicher" Lebensführung, die es ihnen ermöglicht, sich zu vervollkommnen oder ihr angeborenes Potential zu verwirklichen. Jede Handlung, die diesem Ziel dient, ist gut, jede Handlung, die davon abhält oder hinderlich ist, ist schlecht. Der Staat oder die Gesellschaft ist daher verpflichtet, jeden zu „natürlichem" Verhalten aufzufordern.

Die Auffassung, alles in der Natur strebe in irgendeiner Weise nach Vervollkommnung und Erfüllung, ist sehr alt. In der „Metaphysik" des Aristoteles wird das so definiert: „Nach dem Dargelegten bedeutet also Natur im ursprünglichen und eigentlichen Sinne das Wesen der Dinge, die das Prinzip einer Bewegung in sich enthalten." Das „Wesen der Dinge" ist eine einzigartige Eigenschaft, die etwas von anderen Dingen unterscheidet und zu dem macht, was es wirklich ist. Das Wesen einer Nuss ist es, ein Nussbaum zu werden; das Wesen einer Kaulquappe, ein Frosch zu werden und das Wesen eines Fötus, ein Mensch zu werden. Die „Bewegung", die „die Dinge in sich enthalten", ist ihre Tendenz zu Wachstum und Entwicklung, um ihre gesamte Fähigkeiten zu verwirklichen. Diese Bewegung ist es, die den Nussbaum aus der Nuss, Frösche aus Kaulquappen und Menschen aus einem Fötus entstehen lässt. Mit anderen Worten, Nuss, Kaulquappe und Fötus werden immer das werden, wozu sie bestimmt sind, es sei denn, sie würden durch eine außenstehende Kraft daran gehindert. In diesem Fall würden ihre „natürlichen" Neigungen unterbrochen, ihre Entwicklung käme zu einem „unnatürlichen" Stillstand. Ihrer „Natur" bliebe Vervollkommnung und Erfüllung versagt.

Diese Ansicht der Natur, so alt und anschaulich sie auch sein mag, ist jedoch mit den Forderungen naturwissenschaftlicher Objektivität nicht zu vereinbaren. Das Wachstum eines Nussbaums, eines Froschs oder eines Menschen stellt für einen Wissenschaftler nur ein Beispiel für Veränderungen dar, eine wahrscheinliche und bis zu einem gewissen Grade vorhersehbare Entwicklung. Diese Veränderung erfüllt keine eigenen Bedürfnisse und zeigt auch kein Bestreben nach „Vervollkommnung". Für jemanden, der die Natur lediglich beschreiben will, ohne sie zu werten, sind immer alle Dinge, so wie sie eben sind, vollkommen.

Wenn dagegen jedes Stadium natürlicher Entwicklung als ein Stadium der Unvollkommenheit betrachtet wird, dann sind alle Dinge unvollkommen. Ein Fötus ist unvollkommen, weil er noch nicht geboren ist, ein Säugling ist unvollkommen, weil er noch nicht erwachsen ist, und ein Erwachsener ist unvollkommen, weil er noch nicht alt ist, ein alter Mensch, weil er noch nicht tot ist. Wird eine dieser möglichen Veränderungen als die Verwirklichung einer „Tendenz" bezeichnet, dann kann man sie alle in derselben Weise beschreiben. Dann gibt es nicht nur eine Tendenz zum Leben, sondern auch eine Tendenz zum Tode, und beide müssen gleichermaßen „natürlich" und gut sein. Solche Schlussfolgerungen machen natürlich niemanden klüger.

Richtiger ist es zu sagen, dass keine unvoreingenommene Beobachtung uns erkennen lässt, ob und wann ein bestimmtes lebendes Wesen „vollkommen" oder „unvollkommen" ist. Im Laufe seiner Existenz ist alles vielen verschiedenen Veränderungen ausgesetzt, und zu behaupten, dass einige dieser Veränderungen zum besseren (seiner Vollendung zuträglich) oder zum schlechteren (seiner Vollendung abträglich) seien, würde eine subjektive Einstellung wiedergeben, nicht eine wissenschaftliche Tatsache. Schon der Begriff der „Vollkommenheit" gibt ein positives Werturteil wieder, genauso wie der Begriff „Unvollkommenheit" negativ wertet. Die Behauptung, etwas sei unvollkommen, kann nur bedeuten, dass es Mängel hat, dass etwas fehlt, das noch hinzugefügt werden muss. Wenn Menschen also erklären, dass die Vollkommenheit natürlicher Dinge gut sei und ein Mangel an Vollkommenheit schlecht, verlieren sie sich schlicht in Tautologien.

Deshalb muss jeder objektive Beobachter zugeben, dass die Natur selbst keine Tendenzen, Neigungen, Absichten, Bedeutungen oder Endziele hat. Man kann sie daher auch nicht als moralische Richtschnur betrachten. So bedauerlich das für manche Menschen sein mag, es gibt einfach keine redliche Methode, mit der man auf die Natur ein „gerechtes" Moral- oder Rechtssystem gründen könnte. Bislang sind alle Versuche, in der Natur umfassende und verbindliche Werte zu finden, erfolglos geblieben. Im schlimmsten Fall haben solche Versuche zu engstirnigen und repressiven Dogmen geführt. Im besten Fall waren ihre Ergebnisse hohle Schlagwörter und bedeutungslose Maximen, die allen möglichen Zwecken dienen und jede nur denkbare Handlung rechtfertigen konnten.

So hat man behauptet, die „Natur" verlange, dass jeder erhält, was ihm zusteht. Moralisten im alten Rom glaubten, sie hätten ein natürliches moralisches Gesetz entdeckt, als sie forderten „suum cuique!", das heißt „Jedem das Seine". Aus diesem Gesetz kann jedoch niemals wirkliche Gerechtigkeit erwachsen, weil es die Kernfrage nicht beantwortet: „Was ist das Seine?" Diese Frage, die einzige, die wirklich zählt, muss bereits durch ein anderes, vorhandenes Gesetz oder politisches System vorentschieden sein. Der Satz „Jedem das Seine" kann in jedem solchen System als Rechtfertigung herangezogen werden, im Sklavenhalterstaat, im Feudalismus, im Kapitalismus oder im Sozialismus. Wie bekannt, stand der Satz auch über dem Eingangstor einiger Nazi-Konzentrationslager.

Ein anderes, ebenso unbrauchbares Konzept ist die goldene Regel „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu". Das mag zunächst wie ein allgemeingültiges, „natürliches" Gesetz klingen. Es würde aber jedem Masochisten, der gerne Schmerzen erleidet, erlauben, anderen Schmerzen zuzufügen, selbst wenn diese eine solche Behandlung ablehnten. So könnte auch jeder Alkoholiker seinen Tischnachbarn zu alkoholischen Getränken nötigen. Und wenn jemand diese Regel verletzt, sollte man sie dann auch ihm gegenüber verletzen? Schließlich lässt sich niemand gerne bestrafen, selbst wenn er schuldig ist. Nimmt man diese Regel wörtlich, bedeutet sie eigentlich die Abschaffung von Gesetz und Moral.

Ein anderes Beispiel ist der sogenannte „kategorische Imperativ" des Philosophen Immanuel Kant: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte!" Mit anderen Worten: Jedermann sollte nur nach den Prinzipien handeln, von denen er sich wünscht, dass sie auch für andere verbindlich sind. Aber was für Prinzipien sind dies? Es können sowohl die Prinzipien liberaler Demokratie sein als auch jene des Faschismus, des Kommunismus oder jeder beliebigen anderen Gesellschaftsordnung.

Tatsächlich wurde im Verlauf der Geschichte das sogenannte Naturrecht oft dazu verwendet, um alle möglichen moralischen und politischen Positionen zu rechtfertigen. So erklärte Aristoteles, dass einige Menschen von der Natur dazu bestimmt seien, Sklaven zu sein. Auch die Bibel fand an der Sklaverei nichts Falsches. Interessanterweise argumentierten jedoch auch die Gegner der Sklaverei mit dem Naturrecht. Unter Zurückweisung der geschriebenen Gesetze ihrer Zeit appellierten sie an ein „höheres", ungeschriebenes Recht, nach dem alle Menschen gleich geschaffen seien und das ihnen ihre unveräußerlichen „natürlichen" Menschenrechte garantiere. Die Sklavenhalter blieben hiervon jedoch unbeeindruckt und drehten den Beweis einfach um. Nach ihrer Auffassung hatte Gott die Natur geschaffen und die Natur das Los der Menschheit geprägt. Die Geschichte bewies, dass der Fortschritt des Menschen nur möglich war, weil höherstehende Menschen die Freiheit zur Entwicklung ihrer Fähigkeit erlangten, indem sie über andere herrschten. Daher fordere die Natur selbst als Preis der Zivilisation die Sklaverei.

Im Laufe der Jahrhunderte wurden ähnliche Argumente für die wahre „natürliche" Form der Herrschaft angeführt. Monarchisten pflegten beispielsweise auf die hierarchische Ordnung des Himmels hinzuweisen, wo sich Monde um Planeten und Planeten um die Sonne drehten. Deshalb schien es nur natürlich, dass gewöhnliche Bürger im Dienste der Adligen standen, die ihrerseits einem König oder Kaiser dienten. Demokraten setzten dem entgegen, dass alle Himmelskörper dem selben Gesetz der Schwerkraft unterworfen seien und die Natur daher für die Menschheit auch Gleichheit vor dem Gesetz vorschreibe. Diese Ansicht wiederum missfiel den Anarchisten, die das Universum als einen Ort unaufhörlichen, unbeschränkten Kampfes zwischen den Naturgewalten ansahen. Jede gesetzliche Beschränkung des Menschen, selbst eine Beschränkung im Namen der Gleichheit, war für sie daher nur ein Eingriff in die richtigen Abläufe der Natur.

Das Problem bei dieser Kontroverse ist nicht, dass die eine oder andere Seite die letzte und „eigentliche" Bestimmung der Natur missverstand. Man kann auch nicht annehmen, dass man sich  mit etwas „mehr Nachdenken" auf eine Position hätte einigen können. Die Wahrheit ist eben, dass es eine solche Bestimmung der Natur nicht gibt, und dass die streitenden Parteien ihr eigenes Wertsystem in die Natur hineinprojizierten, um es auf diesem Wege als logisch auszuweisen. Dies ist genau deshalb möglich, weil die Natur keine eigene moralische Dimension hat. Wenn das Wort „Natur" in Auseinandersetzungen um die Moral verwendet wird, kann es jede beliebige Bedeutung haben. Es ist deshalb das klassische Beispiel einer „Leerformel", eines semantischen Gefäßes, in das jede Gesellschaft oder jede Gruppe ihre eigenen Wertvorstellungen gießt. „Natur" ist hier also im wesentlichen ein ideologischer Begriff.

Das wird nirgendwo deutlicher als im Bereich der Sexualmoral. Für die alten Griechen war die „Natur" der Sexualität Freude und persönliche Erfüllung. Der Sexualtrieb war eine Frage göttlicher Inspiration, die zwei Liebende zusammenführte. Jede Handlung, die diesem Ziel diente, war „natürlich". Im Gegensatz dazu glaubten die alten Israeliten und frühen Christen, die „Natur" der Sexualität sei die Zeugung, und es sei daher nur ein bestimmtes Sexualverhalten, der Koitus, „natürlich". Jede andere sexuelle Handlung war dann „widernatürlich" und eine gerechte Gesellschaft hatte die Pflicht, sie zu unterbinden. Die Ureinwohner Amerikas und die Polynesier früherer Jahrhunderte sahen demgegenüber auch Homosexualität, Transvestismus und Transsexualität als „Natur" bestimmter Individuen an und brachten ihnen daher Respekt entgegen. Jeder gesellschaftliche Eingriff hätte für sie größtes Unrecht oder sogar ein Verbrechen wider die Natur bedeutet.

Dennoch, wie immer man „Verbrechen wider die Natur" definiert - als eine besondere Form nichtkoitalen Geschlechtsverkehrs oder als dessen Verhinderung -, die Definition ist immer willkürlich und subjektiv. Objektiv betrachtet kann man die Natur nicht verletzen, weil selbst dieses Verletzen absolut natürlich sein würde. Ein berühmter Sexualforscher hat es einmal so ausgedrückt: „Die einzige unnatürliche sexuelle Handlung ist diejenige, die nicht vollzogen werden kann."

Die Feststellung, dass einige sexuelle Handlungen „widernatürlich" seien, ist daher nie eine Tatsachenbehauptung, sondern immer ein Werturteil. Eine solche Feststellung bedeutet nicht, dass die Natur solche Handlungen verhindert, denn schließlich ereignen sie sich ständig. Sie meint vielmehr, dass die Natur solche Handlungen missbilligt oder dass sie nicht im eigentlichen Interesse der Natur sind. Tatsächlich hat die „Natur" jedoch keine „Meinung" in solchen Fragen. „Meinung" ist ein Begriff, der sich nur auf Menschen anwenden lässt. Das Missfallen ist kein Ausdruck der Natur, sondern die Meinung einzelner Personen, die ihre eigenen persönlichen Werturteile abgeben.

Die Begriffe „natürlich" und „widernatürlich" sind Worte des Lobes und des Tadels, Sie geben uns keine objektive Beschreibung irgendwelcher Sachverhalte. Menschen, die die Wirklichkeit wertfrei beschreiben wollen, verwenden diese Worte nicht. In der neutralen Betrachtung eines Wissenschaftlers ist zum Beispiel alles natürlich, weil alles Bestandteil der Natur ist. Für ihn ist Schmerz so natürlich wie Freude, Krankheit so natürlich wie Gesundheit und Tod so natürlich wie Leben. Selbstverständlich ist das Wort „natürlich", wenn es so neutral angewendet wird, praktisch bedeutungslos. Wissenschaftler haben es daher aus ihrem Sprachschatz entfernt und dem Bereich der Moral zugewiesen.

Wenn wir untersuchen, in welchen Fällen heute die Begriffe „natürlich" und „widernatürlich" verwendet werden, stellen wir immer fest, dass sie dazu dienen, moralische Werturteile zu untermauern. Diese Werturteile variieren natürlich, je nach den Vorurteilen des Sprechers. Historische und anthropologische Untersuchungen haben ergeben, dass in verschiedenen geschichtlichen Zeitabschnitten und geographischen Regionen Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen moralischen Wertsystemen gelebt haben. Diese Unterschiede bestehen noch heute. Dennoch betrachtet bis zum heutigen Tage jede Gesellschaft ihre eigenen Moralvorstellungen als allgemeingültig, ewig und unveränderlich, das heißt als einzig „natürlich". Der Grund dafür ist einfach: Die Berufung auf die „Natur" verleiht einem subjektiven Wertsystem den Schein der Objektivität. Sie gestattet den Menschen, die persönliche Verantwortung für ihren moralischen Standpunkt abzugeben. Wenn daher jemandem das Sexualverhalten seines Nachbarn missfällt, ist es einfacher, ihn im Namen der „Natur" zu verurteilen als im eigenen Namen. Das heißt, dass wir alle in der Versuchung sind zu behaupten, unser eigener Geschmack und unsere persönliche Moral stimmten mit den Forderungen der „universalen Gerechtigkeit", dem „Allgemeinwohl", dem „göttlichen Willen" oder der „natürlichen Ordnung" überein.

Solche Behauptungen sind jedoch immer fromme Selbsttäuschung, manchmal sogar zynischer Schwindel. Objektiv kann man immer nachweisen, dass angeblich „göttlicher Wille" oder eine angeblich „natürliche Ordnung" nichts als die Interessen bestimmter Individuen, Gruppen oder sozialer Schichten widerspiegeln. Das ist auch der hauptsächliche Grund dafür, dass derselbe Gott und dieselbe Natur zitiert werden können, um die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Systeme zu rechtfertigen. Wie wir gesehen haben, unterscheiden selbst die großen monotheistischen Religionen - Judentum, Christentum und Islam - sich erheblich in ihrer Interpretation dessen, was göttlicher Wille und damit „natürlich" ist. Darüber hinaus gibt es innerhalb des Christentums zahllose Kirchen, Sekten und Bewegungen, die in ihrer Auslegung des Naturrechts erheblich divergieren. So benutzen die verschiedenen Kirchen immer die gleiche Bibel, um entweder Scheidungen zu gestatten oder sie zu verbieten, um Empfängnisverhütung zu verbieten oder zuzulassen, um Homosexualität zu verurteilen oder offen homosexuelle Priester zu weihen und homosexuellen Ehen ihren Segen zu geben.

Auf alle Fälle gibt es heute auch Kirchen, die den traditionellen jüdisch-christlichen Glauben nicht mehr teilen, die „Natur" der Sexualität sei die Fortpflanzung. Viele Christen scheint dieser Glaube heute auf einer überholten, eingeschränkten und willkürlichen Auffassung zu beruhen, und sie versuchen daher, eine neue, offenere Sexualmoral zu entwickeln. Dabei wird ihnen jedoch bewusst, dass es nicht ausreicht, eine willkürliche Behauptung durch eine andere zu ersetzen und die Lösung in irgendeiner modernisierten Naturrechtslehre zu suchen. Sie beginnen statt dessen zu begreifen, dass sie selbst die Verantwortung für ihre moralischen Werte tragen müssen.

Das bedeutet aber nicht, dass die moralischen Forderungen früherer Vertreter der Naturrechtslehre geringgeschätzt oder vergessen werden sollten. Denn selbst ihre erbittertsten Kritiker erkennen an, dass die Naturrechtslehre häufig dazu benutzt wurde, repressive, religiöse und weltliche Herrschaft anzugreifen und dass sie also manchmal auch der Befreiung der Menschen diente. So hat im Laufe der Geschichte der Glaube an ein Naturrecht nicht nur der jeweils herrschenden Ordnung gestützt, sondern auch die Vision von einer kommenden besseren Ordnung artikuliert. Das Wort „Natur" mag eine Leerformel sein, manchmal drückten sich in ihm aber auch die Hoffnungen und Wünsche der Menschheit aus. Menschen haben vielleicht kein gottgegebenes „natürliches" Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück, aber sie haben in einigen modernen Gesellschaften die „Natur" erfolgreich angerufen, um für diese Rechte zu kämpfen und sie zu schützen. Der Begriff eines Naturrechts hat daher auch einen utopischen, humanistischen Aspekt, der es verdient, hervorgehoben und gewürdigt zu werden. In diesem Sinne kann eine kritische Untersuchung der Tradition der Naturrechtslehre uns viel über eine wirklich menschliche Sexualmoral lehren.
 
 

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