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10.1.2 Naturrecht und Naturgesetz
In
der Geschichte des menschlichen Denkens haben wohl wenig Wörter so viel
Verwirrung gestiftet wie die Wörter „Natur" und „Gesetz". Sie können
sehr unterschiedliche Bedeutungen haben, aber diese Bedeutungen werden nicht
immer hinreichend erklärt. Wenn Menschen diese Begriffe in einer Diskussion
verwenden, wechseln sie oft von einer Bedeutung zur anderen, ohne sich dessen
bewusst zu sein, und so verwickeln sie sich in logische Widersprüche.
Es erscheint daher angebracht, kurz darzustellen, wie die Begriffe „Natur"
und „Gesetz" entstanden sind, wie sie sich im Laufe der Jahre entwickelt
haben und wie wir sie heute am besten verstehen können.
Die
Naturrechtslehre
In der westlichen Zivilisation besteht seit langem die Vorstellung, dass es
über dem fehlbaren Recht menschlicher Gesetzgeber ein höheres, unfehlbares,
ungeschriebenes „Naturrecht" gibt, das göttlichen Ursprungs ist.
Menschliches Recht ist nur dann gültig, wenn es dem Naturrecht entspricht, und
jeder kann für sich selbst ergründen, was dieses Naturrecht fordert, wenn er nur
seinen Verstand gebraucht.
Diese Auffassung wurde vor 2000 Jahren von dem römischen Schriftsteller und
Politiker Cicero
in seinem Buch „Über die Gesetze"
so ausgedrückt::
„Das wahre Gesetz aber ist die richtige
Vernunft, die mit der Natur in Einklang steht und für alle Menschen gilt. Es
ist unveränderlich und ewig,. . . Da gibt es In Rom kein anderes Gesetz
als in Athen, nicht eines jetzt und ein
anderes später, Nein: Zu allen Zeiten wird ein einziges, ewiges und
unverändertes Gesetz alle Völker beherrschen, und nur der Eine wird Meister und
Herrscher aller sein - Gott, der Schöpfer dieses Gesetzes… Wer ihm nicht
gehorcht, flieht vor sich selber und verleugnet das Wesen des Menschen. Aber
eben dadurch erleidet er die schwerste Strafe, auch wenn er allen anderen
Strafen entgeht.."
In diesem kurzen Abschnitt fasst Cicero alle charakteristischen Merkmale des
Naturrechts zusammen:
Erstens ist es der Ausdruck göttlichen Willens
und daher allumfassend, ewig und unanfechtbar. Zweitens
können und müssen seine Regeln mit Hilfe des Verstandes gefunden werden. Drittens
ist es eine heilige Pflicht des Menschen, diese Regeln zu befolgen. Wann immer
er sie übertritt, schändet er seine eigene „wahre Natur" und straft sich
damit selbst.
Die Vorstellung von einem Naturrecht bedeutet also, dass der Natur bestimmte
moralische Grundprinzipien innewohnen und dass sie uns zeigen, wie wir uns
verhalten sollen. Solange wir sie befolgen, erfüllen wir unsere wesentliche
Bestimmung. All unsere Handlungen werden dann nicht nur natürlich, sondern auch
moralisch richtig sein. Wenn jeder sich seiner Natur entsprechend verhielte,
könnte die Welt für immer in Harmonie, Gerechtigkeit und Frieden leben.
Cicero war natürlich nicht der erste, der diese verführerische Idee vertrat. Lange
vor ihm wurde das gleiche schon von einer griechischen Philosophenschule, den Stoikern,
und vor ihnen von Aristoteles und Platon nehauptet, aber auch sie
griffen lediglich eine noch ältere Philosophie wieder auf. In der Tat, wie wir
sehen werden, hat die Lehre vom „Naturrecht" ihre Wurzeln in
allerfrühesten religiösen Vorstellungen der Menschen.
Die älteste und ursprünglichste Form von Religion wird als „Animismus"
bezeichnet. Auf den frühesten Stufen der Kulturentwicklung glauben die
Menschen, dass natürliche Dinge - Bäume, Flüsse, Berge und die Sterne am Himmel
- beseelt sind, d.h. dass sie Gefühle und Intelligenz besitzen. Man glaubt,
dass Geister oder Seelen in den Dingen wohnen, die mit dem gleichen Respekt
behandelt werden müssen wie die Mitmenschen. Ja, man muss ihnen sogar noch mehr
Respekt erweisen, weil sie übermenschliche Kräfte besitzen, mit denen sie
belohnen oder bestrafen können. Alle Naturereignisse können so einfach erklärt
werden: Das Getreide wächst, weil der „Getreidegeist" den Menschen für
seine Rechtschaffenheit belohnt. Das Getreide wächst nicht, weil dieser Geist
den Menschen für eine Übertretung bestraft. Der Fluss trägt das Boot, weil der
„Flussgeist" mit dem Menschen zufrieden ist. Das Boot wird in die Tiefe
gerissen und sinkt, weil der Geist erzürnt worden ist.
Diese animistische Interpretation der Natur kann man natürlich auch als soziale
Interpretation deuten. Anders ausgedrückt, sind die ersten Erfahrungen des
Menschen mit der Natur nur eine Erweiterung seiner sozialen Erfahrungen. Die
Geister, die ihn überall umgeben, verhalten sich ähnlich wie mächtige Herren,
Häuptlinge oder Weise, und sie müssen daher in ähnlicher Weise bedient werden.
Im Gegenzug bieten sie Schutz und Hilfe. Somit entspricht die Beziehung
zwischen Mensch und Natur im Kern einer sozialen Beziehung, beherrscht vom
Prinzip gegenseitiger Verpflichtung. Solange der Mensch seinen Verpflichtungen
nachkommt, wird er von der Natur geduldet und sogar unterstützt. Vernachlässigt
er jedoch seine Pflichten, dann wird die Natur zornig und bestraft ihn.
Mit dem Fortschreiten der Zivilisation verfeinern sich auch die religiösen
Anschauungen der Menschen. Der ursprüngliche Animismus verwandelt sich in Polytheismus (den Glauben an viele Götter).
Die große Anzahl mächtiger Geister wird nach und nach auf eine kleinere Zahl
noch mächtigerer Götter reduziert, von denen jeder ein umfangreiches Gebiet der
Natur beherrscht. Der Gott oder die Göttin der Fruchtbarkeit ist nicht mehr nur
für eine einzelne Pflanze zuständig, sondern für die gesamte Ernte. Die
Schiffahrt hängt nicht mehr vom Geist eines einzelnen Flusses oder Ozeans ab,
sondern von einem großen Gott aller Gewässer. Natürlich vereinfacht diese entwickelte
Religion das Leben erheblich. Die Grundeinstellung des Menschen zur Natur
verändert sich jedoch nicht. Diese Beziehung kann selbst auf der nächsten Stufe
der Entwicklung noch unverändert bestehen, in der sich der Polytheismus zum Monotheismus
(den Glauben an einen Gott) weiterentwicklet.
Für unsere Ausführungen hier ist es gleichgültig, ob das Getreide auf Befehl
eines Getreidegeistes, eines Ahnengeistes, eines Fruchtbarkeitsgottes oder des einen,
allmächtigen Gottes wächst. Wichtig ist nur, dass dieses Wachstum durch eine
übermenschliche Macht als Reaktion auf das Verhalten des Menschen interpretiert
wird. Sonne und Regen, gute und schlechte Ernten, sind Lohn oder Strafe für das
Verhalten des Menschen. Alles, was in der Natur geschieht, hat eine persönliche
Bedeutung für den Menschen und ist in irgendeiner Form mit seinem Schicksal
verbunden. Alle Naturereignisse haben die gleiche Ursache und das gleiche Ziel.
Die Naturgesetze sind göttlicher Wille. Eine Unterscheidung zwischen kausalem
und normativem Recht wird nicht gemacht, Erklärung und Rechtfertigung sind
identisch.
Darüber hinaus offenbar sich in diesen frühen Phasen religiöser Entwicklung der
Wille Gottes nicht nur in den Naturgesetzen, sondern auch in den Gesetzen der
Gesellschaft. Der Mensch macht noch keinen deutlichen Unterschied zwischen
Natur und Gesellschaft. Beide gehorchen den gleichen Regeln und werden vom
Menschen in gleicher Weise erfahren. Alle Dinge dieser Welt (deren untrennbarer
Bestandteil der Mensch ist) werden von mächtigen, übermenschlichen Mächten
regiert, die persönlichen, strikten Gehorsam verlangen. Diese übermenschlichen
Mächte - die Geister, die Götter oder Gott - sind daher der Ursprung aller
Gesetze - der erklärten und der unausgesprochenen, allgemeinen und besonderen, bekannten
und unbekannten, geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze. Der Gegensatz
zwischen dem unvollkommenen „künstlichen" Recht des Menschen und dem
vollkommenen „natürlichen" Recht besteht noch nicht. Selbst die
einfachsten sozialen Gebräuche, Regeln und Vorschriften haben einen göttlichen
Ursprung.
Aus diesem Grunde glauben viele Naturvölker, dass ihre politischen und
rechtlichen Einrichtungen irgendwelchen Gottheiten oder göttlich inspirierten
Führern zu verdanken sind. Bei manchen Völkern erheben die Herrscher Anspruch
darauf, selbst Götter oder zumindest göttlicher Abstammung zu sein. Erst auf
einer höheren Kulturstufe, wenn sich die alten Gewohnheitsrechte und Gesetze
ändern, wenn Menschen ein historisches Bewusstsein entwickeln und lernen, fremden
Ideen mit Toleranz zu begegnen, erkennen sie, dass ihre Gesellschaftsordnung das
Produkt fehlbarer Menschen ist. Zu diesem Zeitpunkt wird erstmals der
Unterschied zwischen geschriebenem, unvollkommenem menschlichem Recht und
ungeschriebenem, vollkommenem Naturrecht erkennbar. Von da an ist vollkommene
Gerechtigkeit nur noch in der natürlichen Ordnung möglich.
Freilich verbleiben bei den großen monotheistischen Religionen einige
geschriebene Gesetze, die als direkt von Gott gegeben gelten. Es sind dies Gesetze,
die für alle Zeiten in den heiligen Büchern aufgezeichnet sind - im Alten und
Neuen Testament und im Koran. Diese Gesetze haben indes eher allgemeinen
Charakter, sie befassen sich nur mit einigen bestimmten Bereichen des Lebens
und müssen daher durch viele weltliche Gesetze ergänzt werden. Diese von
Menschen gemachten Gesetze können sich unter Umständen sehr wohl als unklug und
ungerecht erweisen. Daher ist es immer notwendig, sie mit dem göttlichen Recht
zu vergleichen, das die Heilige Schrift offenbart, und auch mit dem Naturrecht,
das in der Natur selbst begründet ist.
Der
heilige Thomas von Aquin
Thomas
von Aquin (1224-1274) war der bedeutendste Theologe des Mittelalters und einer
der hervorragendsten Verfechter der Naturrechtslehre.
In
unserer westlichen Kultur wurde diese Auffassung selbstverständlich am Ende mit
den Lehren des christlichen Glaubens verbunden. (Die jüdischen und islamischen
Rechtstraditionen entwickelten sich etwas anders.) So wurde die Katholische
Kirche vom Altertum bis weit ins Mittelalter als Hüterin und Auslegerin aller
„höheren" Gesetze betrachtet. In seiner „Summa Theologica" hat der bedeutendste Theologe des
Mittelalters, Thomas
von Aquin, vier verschiedene Arten von Gesetzen unterschieden:
1. das ewige Recht (die Gerechtigkeit Gottes, die
mit seinem Urteil fast identisch ist)
2. das Naturrecht (das ewige Recht,
von Gott in die Natur und den menschlichen Geist eingesetzt)
3. das göttliche Recht (Gottes
Offenbarung seines Willens)
4. das menschliche Recht (abgeleitet
vom Naturrecht).
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Die ersten drei Arten von Recht und Gesetz drücken den
Willen eines himmlischen Gesetzgebers aus; sie fallen daher deutlich in den
Aufgabenbereich der Theologie. Nur die vierte Art, das menschliche Recht, hat
offenbar einen weltlichen Ursprung. Da es jedoch vom Naturrecht abgeleitet wird
(und unter bestimmten Umständen dem göttlichen Recht untersteht), wird seine
letztendliche Gültigkeit dennoch nach theologischen Grundsätzen entschieden.
Diese von Thomas von Aquin stammende Auffassung beherrschte das
europäische Denken viele Jahrhunderte lang. Sie wird selbst heute noch von
katholischen Theologen vertreten. Wie der hl. Thomas selbst, gehen diese
Theologen davon aus, dass es nur eine einzige richtige Interpretation der Natur
und der Heiligen Schrift geben kann - die Interpretation der Katholischen
Kirche. Diese Auffassung wird jedoch heute nicht mehr von allen Christen
geteilt.
Die Wirkung der Reformation
Die Protestantische Reformation des 16. Jahrhunderts führte zur Teilung der bis
dahin einheitlichen Westlichen Kirche und bereitete den Weg für neue und oft
widerstreitende religiöse und moralische Anschauungen. Infolgedessen wurde es
für Christen immer schwieriger, den „wahren" Willen Gottes und die
tatsächlichen „Absichten der Natur" zu erkennen.
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(Links)
Eine protestantische Karikatur aus dem 16. Jahrhundert stellt den Papst
Alexander VI. als Teufel dar. (Rechts) Eine katholische Karikatur des 16. Jahrhunderts stellt Martin Luther
als Dudelsack dar, der von Teufel gespielt wird.
Die
protestantische Reformation des frühen 16. Jahrhunderts ließ eine große Anzahl
neuer, unabhängiger christlicher Kirchen entstehen, die eine Vielzahl unterschiedlicher,
sich zum Teil widersprechender Interpretationen der Heiligen Schrift anboten.
Viele dieser Kirchen weigerten sich überdies, irgendwelche offiziellen Dogmen
ausführlicher zu formulieren. Sie bestärkten ihre Mitglieder darin, die Bibel
nach ihrem eigenen Verständnis zu deuten. Der genaue Inhalt einzelner
göttlicher Offenbarungen wurde daher eine Frage der persönlichen Anschauung.
So überrascht
es auch nicht, dass moderne Christen auch das Naturrecht unterschiedlich interpretieren.
Anstelle einer einigen Kirche, die mit einer Stimme spricht, hören wir jetzt
viele Kirchen und eine große Zahl von Einzelpersonen, die ihre eigenen
Anschauungen über Gottes Schöpfung haben. In den letzten Jahrzehnten hat diese
Vielfalt sich fast bis zur Verworrenheit gesteigert. So ist die „wahre
Natur" des Menschen, die in der Vergangenheit so klar schien, zu einem
immer schwerer fassbaren Phantom geworden.
Angesichts dieser Entwicklung hat die Naturrechtslehre viel von ihrem
früheren Einfluss verloren. Demokratische Gesetzgeber beachten sie heute kaum
noch, sondern rechtfertigen ihre Gesetze mit dem Willen des Volkes, ohne sich
auf eine „höhere" Macht zu berufen. Die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung
Die amerikanische
Unabhängigkeitserklärung von 1776 bezieht sich noch in vielen ihrer Prinzipien
und Sätzen auf die Naturrechtslehre. Das Dokument zeigt aber auch eine gewisse
Ambivalenz gegenüber dieser Lehre. - Abgebildet ist die Einleitung. Die
Passagen, die sich auf die Naturrechtslehre beziehen, sind hier unterstrichen.
Die
zunehmende Vernachlässigung der „Natur" als Quelle des Rechts erkennt man
besonders in England und in den USA, deren Rechtserbe sich von dem anderer
westlicher Länder stark unterscheidet. Die englischen Könige gaben einen Teil
ihrer „natürlichen" Rechte bereits im Jahre 1215 auf, als sie die Magna Carta
unterschrieben. In den folgenden Jahrhunderten wurde ihre Macht durch das
Parlament noch weiter eingeschränkt. Überdies verpflichtete ein
Gewohnheitsrecht, das sich auf praktische Erfahrungen und Präzedenzfälle
gründete, sowohl die Minister des Königs als auch seine Untertanen. So nahm,
anders als auf dem europäischen Festland, das englische Recht bald einen eher
pragmatischen Charakter an. Juristische Auseinandersetzungen wurden schlicht
als die Streitereien zwischen Menschen angesehen. Der Schlüssel zur
Gerechtigkeit wurde nicht mehr so sehr in der Bibel gesucht, sondern im Gesetzbuch.
Damit soll freilich nicht gesagt werden, dass England und Nordamerika die
Naturrechtsphilosophie ganz aufgaben. Als sich im späten 18. Jahrhundert die
amerikanischen Kolonien gegen die englische Krone erhoben, benutzten sie eben
diese Philosophie, um ihren Aufstand zu rechtfertigen. So kommt es, dass die
amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 ausdrücklich
auf „selbstevidente Wahrheiten" und „die Gesetze der Natur und des Gottes
der Natur" hinweist. Bei genauer Betrachtung erkennt man jedoch, dass die
Autoren dem Prinzip des Naturrechts ambivalent gegenüberstanden, und dass sie
an seiner traditionellen Grundlage sogar einige Zweifel hatten. Im Gegensatz zu
älteren Traditionen erklären sie zum Beispiel auch, dass die Regierungsmacht
nicht von Gott im Himmel abzuleiten ist, sondern von „der Zustimmung der Regierten". Daher haben die Menschen, wenn
es notwendig sein sollte, das Recht, neue Regierungen einzusetzen und „ihre Macht in der Weise zu organisieren,
dass sie ihnen die aussichtsreichste Möglichkeit für Sicherheit und Glück
bietet". Das bedeutet, das Regierung und Gesetz hauptsächlich als Werk
des irdischen Menschen angesehen werden. Der Mensch allein trägt also die
politische und rechtliche Verantwortung.
Im heutigen Amerika spielt die Lehre vom Naturrecht eigentlich keine wichtige
Rolle mehr. Was noch davon übriggeblieben ist, sind einige seltsame Spuren, die
am eindrucksvollsten in den nicht revidierten, alten Strafgesetzen zu finden
sind. Zum Beispiel gab es bis in die neueste Zeit in einigen Bundesstaaten
immer noch „Verbrechen wider die Natur", das heißt Verbrechen, bei denen
es keine Opfer gab, die aber im Widerspruch zu dem standen, was Juden und
Christen einstmals als den Willen Gottes ansahen. (Vgl. a. Kap. 10.2 „Legal
-Illegal".) Die Gerechtigkeit solcher Gesetze wird heute nicht nur von
Juristen, sondern auch vielen Geistlichen in Frage gestellt. Man kann heute
sogar sagen, dass die Idee einer normativen Naturordnung durch den Fortschritt
der Naturwissenschaften unhaltbar geworden ist.
Naturwissenschaft
und Naturgesetz
Wie bereits erwähnt, sieht der primitive Mensch einen engen Zusammenhang von
Natur und Gesellschaft und deutet alle Naturereignisse als gesellschaftliche
Phänomene, d. h. zuallererst nach dem Vergeltungsprinzip: Sonne und Regen, gute und
schlechte Ernten, Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod werden von mächtigen
Geistern, Göttern oder Gott als Reaktion auf menschliches Verhalten bewirkt.
Rechtschaffenheit wird umgehend belohnt, Sünde auf alle Fälle bestraft. Es gibt
keinen Unterschied zwischen normativem und kausalem Gesetz. Alles was sich in
der Natur ereignet, ist direkter Ausdruck eines übermenschlichen, persönlichen
Willens. Erklärung und Rechtfertigung sind also ein und dasselbe.
Dieses vorwissenschaftliche Naturverständnis lässt sich leicht anhand vieler
antiker Mythen und religiösen Glaubensbekenntnisse aus aller Welt demonstrieren.
Im gegenwärtigen Zusammenhang können wir uns jedoch auf die jüdisch-christliche
Kultur beschränken und nur einige Beispiele aus dem älteren Teil der Bibel, den
fünf Büchern Mose im Alten Testament anführen.
Im 3. Buch Mose sagt Jahwe zum Beispiel dem Volks Israel, dass ihm bestimmte
sexuelle Beziehungen missfallen, und dass sie daher nicht ungestraft bleiben
werden. So erklärt er unter anderem: „Wenn
einer das Weib seines Bruders nimmt, so ist das eine Schändlichkeit; er
schändet damit seinen Bruder, die sollen kinderlos bleiben" (3. Mose
20, 21). Mit anderen Worten, religiöse Übertretungen und leibliche Gebrechen
werden einfach als Ursache und Wirkung beschrieben. Eine „unreine" Ehe
bleibt unfruchtbar. Selbst wenn sowohl der Mann als auch die Frau vorher
fruchtbar waren, unterbindet die Sünde sofort und unvermeidlich ihre normalen
Körperfunktionen und macht Fortpflanzung unmöglich. (Gewissenhafte Bibelleser
werden bemerken, dass Jahwe hier eine ganz andere Meinung vertritt als vorher
im 1. Buch Mose [38, 8-10], Dort gebietet er Onan, die Frau seines Bruders zu
schwängern und bestraft ihn, als er sich weigert. Dieser Widersspruch kann hier
nicht aufgelöst werden. Er ist ein Thema für Theologen.)
Jahwe straft aber auch, wenn Geschlechtsverkehr unter den
„richtigen" Partnern zum „falschen" Zeitpunkt stattfindet: „Wenn ein Mann bei einem Weibe liegt zur Zeit
ihres Monatsflusses und mit ihr Umgang pflegt und so ihren Blutfluss aufdeckt
und sie ihren Blutfluss entblößt, so sollen beide aus ihrem Volke ausgerottet
werden" (3. Mose 20,18). Der letzte Satz wird oft als die Androhung
von Exil oder Verbannung interpretiert. Theologen sind jedoch heute der
Ansicht, dass dies falsch ist und dass der Ausdruck „aus ihrem Volk ausgerottet
werden" sich auf Krankheit und frühen Tod bezieht, den der allmächtige
Gott schickt. Damit sorgt das Verbrechen unabwendbar für seine eigene
Bestrafung.
Im 5. Buch Mose wird Jahwe noch deutlicher: Die Natur wird seinem Volk nichts
geben, was es nicht verdient. Wer rechtschaffen ist und seine Gebote befolgt,
wird gesegnet sein mit „Wohlstand,
Fruchtbarkeit, Regen zu seiner Zeit und guten Ernten“ (5. Mose 28, 8 ff.).
Wer jedoch seine Gebote missachtet, wird mit „Krankheiten, Siechtum, Fieber, Hitze, Feuersbrunst, Geschwüren, Beulen,
Skorbut, Krätze, Wahnsinn, Blindheit, Geistesverwirrung, Dürre,
Heuschreckenplagen und verdorbenen Speisen“ bestraft werden (5. Mose 28, 20 ff.).
Natürlich vertraut Jahwe in vielen Fällen auch darauf, dass der Mensch ihm bei
der Bestrafung hilft. So gebietet er dem Volk Israel: „Wenn einer mit einem Tiere Umgang hat, so soll er getötet werden und
auch das Tier sollt ihr umbringen" (3. Mose 20, 15). Dennoch sind in
diesen wie in allen anderen Fällen die irdischen Vollstrecker lediglich
Instrumente göttlichen Willens. Wenn sie versagen, werden sie selbst gestraft.
Tun sie jedoch, was ihnen befohlen wurde, werden sie umgehend belohnt. Ein
Beispiel ist Pinehas, der dafür belohnt wurde, dass er ein sündiges Paar tötete
(4. Mose 25, 6 ff.). Auf jeden Fall spielen in Fragen der göttlichen
Gerechtigkeit Menschen niemals mehr als eine untergeordnete Rolle. Jahwe mag
sich ihrer bedienen, ist aber nie von ihnen abhängig. Mit oder ohne ihre Hilfe
wird sein Wille geschehen - in der Natur wie in der Gesellschaft.
Bei den Juden des Altertums folgten also Moral- und Naturgesetze einem
gemeinsamen Prinzip. Es gab im Grunde genommen nur ein Gesetz, das gleichzeitig
präskriptiv und deskriptiv war. Das heißt, es stellte nicht nur fest, was
geschehen sollte, sondern auch, was in jedem Fall tatsächlich geschah.
Vergeltung konnte aufgeschoben nicht aber verhindert werden. Am Ende wurde alle
Unschuld und alle Schuld offenbar, und jeder empfing seinen gerechten Lohn.
Diese Rechtsphilosophie beschränkte sich jedoch keineswegs nur auf Israel.
Viele Völker der Antike hatten ähnliche Ansichten. Die ältesten griechischen
Philosophen sahen sowohl Natur als auch Gesellschaft von der doppelten Macht
des Schicksals einerseits (der Moira)
und der Notwendigkeit andererseits (der Ananke)
regiert. Die Griechen hatten die Vorstellung von einer unfehlbaren
Gerechtigkeit in der Ehrfurcht gebietenden Göttin Dike personifiziert, die als Göttin der Vergeltung, als höchster
Richter all derer galt, die gegen die göttliche Ordnung der Dinge handelten. In
einem berühmten Fragment des griechischen Philosophen Heraklit heißt es: „Die Sonne wird ihre Bahn nicht verlassen;
wenn sie es dennoch tut, wüssten die Erinnyen, die Dienerinnen der Dike, sie
wohl zu finden." Mit anderen Worten, selbst die Himmelskörper folgen
den Geboten der Gerechtigkeit. Kommen sie von ihrer vorgeschriebenen Bahn ab,
dann wird ihr Vergehen entdeckt und bestraft. Die Naturgesetze sind
grundlegende Moralvorschriften, die von einem folgsamen Universum erfüllt
werden müssen.
Die Unfähigkeit, die Gesetze der Natur und der Moral klar zu unrterscheiden,
ist typisch für das vorwissenschaftliche Denken. Dieses Denken änderte sich
erst langsam mit dem Fortschreiten der Zivilisation. Es dauerte eine lange
Zeit, bis die Menschheit entdeckte, dass die Umlaufbahnen der Sterne, Sonne und
Regen, Stürme und Erdbeben, Geburtsfehler, Epidemien und das Verhalten von
Heuschrecken und Würmern nicht von der Sünde oder der Rechtschaffenheit des
Menschen abhängen. Im alten Griechenland entwickelten einige Philosophen (die
Atomisten) relativ früh den Begriff objektiver Kausalität, aber mit dem
Aufstieg der christlichen Kirche wurden ihre Ergebnisse allmählich vergessen.
Erst zu Beginn des modernen Zeitalters, als Forscher wie Kopernikus, Bacon,
Kepler und Galilei die „wissenschaftliche Revolution" auslösten,
betrachtete man die Natur wieder „neutral“, d.h. unabhängig von göttlichen und
menschlichen Interessen.
Wenn Wissenschaftler ein natürliches Phänomen untersuchen, dann lassen sie
bewusst dessen unterstellte soziale oder moralische Dimension außer acht. Statt
dessen versuchen sie, das Phänomen ausschließlich aus sich selbst zu erklären.
Fragen von gut oder böse, gerecht oder ungerecht, sind für sie zunächst ohne
Interesse. Sie fällen keine Werturteile, sondern stellen Tatsachen fest. Sie schreiben
nicht vor, was sein sollte, sondern beschreiben, was ist.
Ein Wissenschaftler geht von der Voraussetzung aus, dass die natürliche und die
gesellschaftliche Ordnung von unterschiedlichen Prinzipien bestimmt werden, und
dass man daher sehr wohl Naturereignisse erklären kann, ohne sie gleichzeitig
rechtfertigen zu müssen. Er schreibt der Natur keine „höheren Zwecke" mehr
zu, sondern behandelt sie lediglich als ein System von Elementen, die im
Zusammenhang von Ursache und Wirkung stehen. Dieser Zusammenhang ist unabhängig
von irgendeinem menschlichen oder übermenschlichen Willen.
Wer mit der Wissenschaftsgeschichte vertraut ist, weiß natürlich, dass diese
wissenschaftliche „Objektivität" nicht über Nacht erreicht wurde. Viele
Jahrhunderte lang blieben das neue, moralisch neutrale Prinzip der Kausalität
und das ältere Prinzip der Vergeltung auf vielen Ebenen indirekt miteinander
verbunden. So nahmen beispielsweise die ersten modernen Wissenschaftler an,
dass - wie bei menschlicher Sünde und göttlicher Bestrafung - Ursache und
Wirkung in einer gesetzmäßigen Folge verliefen und immer in direktem Verhältnis
zueinander stünden. Man nahm an, stärkere Ursachen bewirkten größere Folgen.
Weiter glaubte man, dass eine Ursache nur eine Wirkung haben könne und eine
Wirkung nur eine Ursache.
Inzwischen sind solche Reste des Vergeltungsprinzips aus dem wissenschaftlichen
Konzept der Kausalität verschwunden. Heute haben Wissenschaftler erkannt, dass
Ursache und Wirkung nur Teile eines zusammenhängenden Ganzen sind und dass sie
als solche oft nichts weiter darstellen als eine Folge von Ereignissen. Jede
Ursache ist die Wirkung einer anderen Ursache und jede Wirkung ist die Ursache
einer anderen Wirkung. Es erscheint daher oft willkürlich, eine bestimmte
Ursache für eine bestimmte Wirkung nennen zu wollen. Daher wird die Verbindung
von Ursache und Wirkung nicht mehr als absolut zwangsläufig erachtet, sondern
als eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Manche Wissenschaftler haben die Begriffe
„Ursache" und „Wirkung" ganz und gar fallengelassen, sie sprechen
heute statt dessen allgemeiner von „Bedingungen", „Faktoren" und
„Resultanten" eines Ereignisses.
Diese schwierigen Fragen der modernen Wissenschaftstheorie können hier nicht
weiter diskutiert werden. Für unsere Zwecke reicht es aus, folgende
grundlegende Annahme im Gedächtnis zu behalten: Die natürliche und die soziale
Ordnung sind verschieden. Natur, also die natürliche Realität, die uns umgibt,
kann und muss ohne Bezug auf soziale Normen erklärt werden. Die Naturgesetze
unterscheiden sich grundlegend von den Religions-, Moral-, Straf- und
Zivilgesetzen der Gesellschaft.
Man kann diesen Gedanken auch auf andere Weise zusammenfassen: Mit dem
Fortschritt der Naturwissenschaft hat das Wort „Gesetz" zwei sehr
verschiedene Bedeutungen gewonnen. Wo es einst nur ein Gesetz gab - den Willen
Gottes, der alles, sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft, regierte
—, wird jetzt eine scharfe Trennung zwischen normativem und kausalem Gesetz
gemacht. In der Formulierung von Kausalgesetzen wird heute von Wissenschaftlern
jeder Hinweis auf eine göttliche Absicht bewusst vermieden.
Die folgenden beiden „Gesetze" können diesen Punkt erläutern:
1. Wenn eine Frau Ehebruch begeht, dann wird sie
bestraft.
2. Wenn Wasser unter eine bestimmte Temperatur gekühlt wird, dann gefriert es.
Im Sinne der vorwissenschaftlichen Betrachtungsweise beschreiben
beide Gesetze nur das Wirken eines göttlichen Willens. Gott straft Ehebruch,
Gott lässt Seen und Flüsse gefrieren. Er tut das eine genauso unfehlbar wie das
andere. (Wenn er will, kann er jedoch in beiden Fällen eine „Ausnahme"
machen. Er kann gnädig sein und den Ehebruch ungestraft lassen, er kann ein
Wunder vollbringen und einen bestimmten Fluss weiterhin fließen lassen, während
alle anderen Flüsse gefroren sind.)
Wissenschaftlich betrachtet, haben
beide Gesetze dagegen nur eine oberflächliche Ähnlichkeit. In ihrer
grammatikalischen Struktur sind sie gleich; ja, in einem ganz allgemeinen und
abstrakten Sinn drücken sie auch denselben Grundgedanken aus, das heißt sie verbinden
eine bestimmte Bedingung mit einer bestimmten Konsequenz. Es ist
jedoch heute offensichtlich, dass diese Verbindung in beiden Fällen sehr
unterschiedlich ist. Das erste Gesetz verbindet eine Tatsache (Ehebruch) mit
ihrer Konsequenz (Strafe) nach Art einer Vorschrift, indem festgestellt wird, dass der
Tatsache die Konsequenz folgen sollte. Das zweite Gesetz verbindet
eine Tatsache (eine bestimmte niedrige Temperatur) mit ihrer Konsequenz
(Verwandlung von Wasser in Eis) nach Art einer Beschreibung, indem festgestellt
wird, dass der Tatsache die Konsequenz folgen wird. Das erste Gesetz kennzeichnet
eine zwingende Regel, die von irgendeiner gesetzgebenden Gewalt niedergelegt
wurde. Das zweite Gesetz kennzeichnet nichts weiter als eine Beobachtung. Das
erste Gesetz muss von einer übermenschlichen oder menschlichen Macht
durchgesetzt werden (von einem Geist, von Göttern, von Gott oder von der
Polizei). Das zweite Gesetz „setzt sich selbst durch". Es nimmt seinen
Lauf, ohne auf irgendeine Meinung oder Handlung Rücksicht zu nehmen. Eine Frau,
die Ehebruch begeht, muss nicht immer bestraft werden. Wasser, das unter eine
bestimmte Temperatur gekühlt wird, wird immer zu Eis.
Der Unterschied zwischen normativen und kausalen Gesetzen wird vielleicht noch
deutlicher, wenn man untersucht, in welcher Weise diese sich im Laufe der Zeit
verändern können. Normative Gesetze können auf dem Wege der Gesetzgebung
verändert oder widerrufen werden. Abänderung oder Widerruf ersetzen die alte
Norm durch eine neue. Kausale Gesetze hingegen ändern sich in anderer Weise, und
ihre Veränderung hat eine andere Bedeutung. In gewissem Sinn kann man sogar
sagen, dass kausale Gesetze unveränderlich sind und dass sich nur unsere
Wahrnehmung von ihnen verändert. Wissenschaftler können zum Beispiel ein
bestimmtes kausales Gesetz formulieren und dann, angesichts neuer
Beobachtungen, gezwungen sein, es zu revidieren. Eine solche Revision wird in
der Regel ein höheres Maß an Genauigkeit in der Beschreibung des beobachteten
Phänomens mit sich bringen, daher entkräftet sie die ursprüngliche Zielrichtung
des Gesetzes selbst nicht.
Schließlich muss man sich auch vor Augen halten, dass es viele normative
Systeme in der Welt gibt, aber nur ein kausales System. Im Laufe der Geschichte
haben Menschen eine beachtliche Anzahl von Gesellschaftsordnungen mit
erheblichen Unterschieden und sogar widersprüchlichen Normen gegründet.
Handlungen, die zu einer Zeit gefordert waren, waren zu einer anderen verboten;
Eigenschaften, die in der einen Gesellschaft gelobt wurden, wurden von einer
anderen getadelt. Im Gegensatz dazu hat es nie mehr als eine natürliche Ordnung
gegeben, und sie ist noch heute überall dieselbe. Der Grund ist einfach: Die
natürliche Ordnung war in ihrer Funktion nie dem Einfluss von Menschen
unterworfen und wird es auch nie sein. Menschen können sie erforschen und zu
ihrem Vorteil nutzen, ändern können sie sie nicht.
„Natur"
als Ideologie
Blicken wir heute auf die Geschichte der Zivilisation zurück, dann sehen wir,
dass die strikte Unterscheidung zwischen normativen und kausalen Gesetzen eine
große Leistung war. Ohne diese Unterscheidung wäre die Entwicklung der Naturwissenschaft
mit allen ihren Errungenschaften unmöglich gewesen. Erst als der Mensch sich
entschied, die göttlichen und menschlichen Aspekte der Dinge, die er
untersuchte, außer acht zu lassen, begann die Wissenschaft. Der Mensch musste
also zunächst die Erklärung von Naturereignissen von deren Rechtfertigung
trennen. Nur so wurde es ihm möglich, die Natur unvoreingenommen zu betrachten.
Er ging nicht mehr davon aus, die Natur habe irgendwelche augenscheinlichen
oder versteckten persönlichen Bezüge zu ihm, sondern er versuchte, sie in ihren
eigenen Ausdrucksformen zu verstehen, Merkwürdigerweise war es eben diese
Loslösung, die neutrale, objektive Einstellung, die ihn fähig machte, immer
mehr über die Natur zu erfahren und sie für seine eigenen Ziele zu nutzen.
Diese Objektivität der Wissenschaft beruht auf der Erkenntnis, dass
Naturereignisse keinem „höheren Zweck" dienen und keine moralischen Werte
ausdrücken oder darstellen. Wissenschaftlern ist bekannt, dass es keine
logischen Rückschlüsse von der Realität auf ethische Normen, vom „Ist" auf
das „Sollte" gibt. Aus der Tatsache, dass ein Ereignis geschieht, ist
nicht zu folgern, ob es hätte geschehen sollen oder nicht. Die Tatsache, dass
in der Natur Wasser zu Eis wird, wenn es unter eine bestimmte Temperatur
gekühlt wird, besagt nicht, dass niedrige Temperaturen gut oder schlecht seien
oder dass Wasser besser oder schlechter sei als Eis. Die Tatsache, dass große
Fische kleine fressen, bedeutet weder, dass ihr Verhalten richtig ist, noch
dass es falsch ist. Die Tatsache, dass manche Pflanzen wuchern und andere
zerstören, sagt nichts über den moralischen Wert des Lebens von Pflanzen aus.
Während die Natur an sich also wertfrei ist, können Menschen nicht ohne
Wertsysteme leben und ziehen daher immer bestimmte natürliche Phänomene anderen
vor. Männer auf Schiffen haben lieber eisfreie Seen, Flüsse und Ozeane als
zugefrorene, bei Männern auf Schlitten ist es aber umgekehrt. Manche Fischer fangen
gerne große Fische, andere lieber kleine. Bauern und Gärtner kultivieren ein
Leben lang bestimmte Pflanzen und jäten andere aus, obwohl sie sehr wohl
wissen, dass das, was sie als Unkraut vernichten, für andere vielleicht eine
Nutzpflanze ist. Der Mensch wählt also ständig gewisse Dinge oder Ereignisse
der Natur als nützlich aus, während er andere als nutzlos ablehnt. Auf jeden
Fall wird seine Auswahl immer von seinem wechselnden Eigeninteresse gesteuert,
nicht von Werten oder Normen, die in der Natur selbst liegen.
Nichts desto weniger gibt es auch heute noch Menschen, die behaupten, die Natur
baue sich auf moralischen Prinzipien auf oder, was auf dasselbe hinausläuft,
alle Naturereignisse dienten einem höheren Zweck oder Ziel. Zudem sei dieses
höhere Ziel mit Hilfe des „gesunden Menschenverstandes" aus der Natur
selbst ersichtlich. Jeder, der die Natur eingehend untersucht, könne so die
Gesetze finden, nach denen er selbst leben soll. Dieses „Naturrecht"
garantiere ihm eine Lebensführung, die den Absichten der Natur entspricht und
damit moralisch einwandfrei und gerecht ist.
Die Annahme, die Natur könne Absichten haben, besagt, dass sie ein
übermenschliches Wesen mit Intelligenz und Willen ist oder dass sie zumindest
von einem solchen Wesen regiert wird. Daraus folgte, dass die Naturgesetze
nicht nur beobachtete Verläufe beschreiben, sondern feste Vorschriften
darstellen, die von einer gesetzgebenden Macht verordnet worden sind. Dieser
oberste Gesetzgeber wäre dann entweder die Natur selbst oder Gott, der die
Natur nach seinem Willen geschaffen hat. Es liegt dann im richtig verstandenen
Eigeninteresse des Menschen, dass er die Gesetze Gottes bzw. den Willen der
Natur befolgt. Sir
William Blackstone, der berühmte englische Rechtsgelehrte des 18.
Jahrhunderts, hat diesen Gedanken in seinen „Kommentaren zu den englischen
Gesetzen" so zusammengefasst: „Da
der Mensch in allem von seinem Schöpfer abhängig ist, muss er sich in allen
Dingen nach dem Willen des Schöpfers verhalten. Dieser Wille seines Schöpfers
heißt Naturgesetz."
Wie oben dargelegt, beruht die Lehre vom Naturrecht nicht auf
wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie trägt im wesentlichen religiöse Züge und ist
Ausdruck einer vorwissenschaftlichen, mythischen Sicht der Welt. Diese Tatsache
wird auch von den meisten christlichen Verfechtern der Naturrechtslehre offen
zugegeben und sogar von Anhängern nicht-christlicher Religionen kaum bestritten.
Dessen ungeachtet hat es auch in der modernen Zeit wiederholte Versuche
gegeben, „objektive" Normen aus der Natur abzuleiten, ohne sich dabei auf
religiöse Inhalte zu beziehen. Selbst atheistische Philosophen haben versucht,
die Grundlage ihres moralischen Wertsystems in der „Natur" zu finden.
Die modernen, nicht-religiösen Anhänger eines „Naturrechts" bestehen zum
Beispiel darauf, dass „endliches Leben
immer unvollkommen ist" und dass alles Lebendige „immer nach Vervollkommnung und Erfüllung strebt". Menschen
haben daher auch ein besonderes Bestreben nach „natürlicher"
Lebensführung, die es ihnen ermöglicht, sich zu vervollkommnen oder ihr
angeborenes Potential zu verwirklichen. Jede Handlung, die diesem Ziel dient,
ist gut, jede Handlung, die davon abhält oder hinderlich ist, ist schlecht. Der
Staat oder die Gesellschaft ist daher verpflichtet, jeden zu „natürlichem"
Verhalten aufzufordern.
Die Auffassung, alles in der Natur strebe in irgendeiner Weise nach
Vervollkommnung und Erfüllung, ist sehr alt. In der „Metaphysik" des Aristoteles wird das so definiert: „Nach dem Dargelegten bedeutet also Natur im
ursprünglichen und eigentlichen Sinne das Wesen der Dinge, die das Prinzip
einer Bewegung in sich enthalten." Das „Wesen der Dinge" ist eine
einzigartige Eigenschaft, die etwas von anderen Dingen unterscheidet und zu dem
macht, was es wirklich ist. Das Wesen einer Nuss ist es, ein Nussbaum zu
werden; das Wesen einer Kaulquappe, ein Frosch zu werden und das Wesen eines
Fötus, ein Mensch zu werden. Die „Bewegung", die „die Dinge in sich
enthalten", ist ihre Tendenz zu Wachstum und Entwicklung, um ihre gesamte
Fähigkeiten zu verwirklichen. Diese Bewegung ist es, die den Nussbaum aus der
Nuss, Frösche aus Kaulquappen und Menschen aus einem Fötus entstehen lässt. Mit
anderen Worten, Nuss, Kaulquappe und Fötus werden immer das werden, wozu sie
bestimmt sind, es sei denn, sie würden durch eine außenstehende Kraft daran
gehindert. In diesem Fall würden ihre „natürlichen" Neigungen
unterbrochen, ihre Entwicklung käme zu einem „unnatürlichen" Stillstand.
Ihrer „Natur" bliebe Vervollkommnung und Erfüllung versagt.
Diese Ansicht der Natur, so alt und anschaulich sie auch sein mag, ist jedoch
mit den Forderungen naturwissenschaftlicher Objektivität nicht zu vereinbaren.
Das Wachstum eines Nussbaums, eines Froschs oder eines Menschen stellt für
einen Wissenschaftler nur ein Beispiel für Veränderungen dar, eine
wahrscheinliche und bis zu einem gewissen Grade vorhersehbare Entwicklung.
Diese Veränderung erfüllt keine eigenen Bedürfnisse und zeigt auch kein
Bestreben nach „Vervollkommnung". Für jemanden, der die Natur lediglich
beschreiben will, ohne sie zu werten, sind immer alle Dinge, so wie sie eben
sind, vollkommen.
Wenn dagegen jedes Stadium natürlicher Entwicklung als ein Stadium der
Unvollkommenheit betrachtet wird, dann sind alle Dinge unvollkommen. Ein Fötus
ist unvollkommen, weil er noch nicht geboren ist, ein Säugling ist
unvollkommen, weil er noch nicht erwachsen ist, und ein Erwachsener ist
unvollkommen, weil er noch nicht alt ist, ein alter Mensch, weil er noch nicht
tot ist. Wird eine dieser möglichen Veränderungen als die Verwirklichung einer
„Tendenz" bezeichnet, dann kann man sie alle in derselben Weise
beschreiben. Dann gibt es nicht nur eine Tendenz zum Leben, sondern auch eine
Tendenz zum Tode, und beide müssen gleichermaßen „natürlich" und gut sein.
Solche Schlussfolgerungen machen natürlich niemanden klüger.
Richtiger ist es zu sagen, dass keine unvoreingenommene Beobachtung uns
erkennen lässt, ob und wann ein bestimmtes lebendes Wesen „vollkommen"
oder „unvollkommen" ist. Im Laufe seiner Existenz ist alles vielen
verschiedenen Veränderungen ausgesetzt, und zu behaupten, dass einige dieser
Veränderungen zum besseren (seiner Vollendung zuträglich) oder zum schlechteren
(seiner Vollendung abträglich) seien, würde eine subjektive Einstellung
wiedergeben, nicht eine wissenschaftliche Tatsache. Schon der Begriff der
„Vollkommenheit" gibt ein positives Werturteil wieder, genauso wie der
Begriff „Unvollkommenheit" negativ wertet. Die Behauptung, etwas sei
unvollkommen, kann nur bedeuten, dass es Mängel hat, dass etwas fehlt, das noch
hinzugefügt werden muss. Wenn Menschen also erklären, dass die Vollkommenheit
natürlicher Dinge gut sei und ein Mangel an Vollkommenheit schlecht, verlieren
sie sich schlicht in Tautologien.
Deshalb muss jeder objektive Beobachter zugeben, dass die Natur selbst keine
Tendenzen, Neigungen, Absichten, Bedeutungen oder Endziele hat. Man kann sie
daher auch nicht als moralische Richtschnur betrachten. So bedauerlich das für
manche Menschen sein mag, es gibt einfach keine redliche Methode, mit der man
auf die Natur ein „gerechtes" Moral- oder Rechtssystem gründen könnte.
Bislang sind alle Versuche, in der Natur umfassende und verbindliche Werte zu
finden, erfolglos geblieben. Im schlimmsten Fall haben solche Versuche zu
engstirnigen und repressiven Dogmen geführt. Im besten Fall waren ihre
Ergebnisse hohle Schlagwörter und bedeutungslose Maximen, die allen möglichen
Zwecken dienen und jede nur denkbare Handlung rechtfertigen konnten.
So hat man behauptet, die „Natur" verlange, dass jeder erhält, was ihm
zusteht. Moralisten im alten Rom glaubten, sie hätten ein natürliches
moralisches Gesetz entdeckt, als sie forderten „suum cuique!", das heißt „Jedem das Seine". Aus diesem
Gesetz kann jedoch niemals wirkliche Gerechtigkeit erwachsen, weil es die
Kernfrage nicht beantwortet: „Was ist das Seine?" Diese Frage, die
einzige, die wirklich zählt, muss bereits durch ein anderes, vorhandenes Gesetz
oder politisches System vorentschieden sein. Der Satz „Jedem das Seine"
kann in jedem solchen System als Rechtfertigung herangezogen werden, im
Sklavenhalterstaat, im Feudalismus, im Kapitalismus oder im Sozialismus. Wie
bekannt, stand der Satz auch über dem Eingangstor einiger
Nazi-Konzentrationslager.
Ein anderes, ebenso unbrauchbares Konzept ist die goldene Regel „Was du nicht willst, dass man dir tu, das
füg auch keinem anderen zu". Das mag zunächst wie ein
allgemeingültiges, „natürliches" Gesetz klingen. Es würde aber jedem
Masochisten, der gerne Schmerzen erleidet, erlauben, anderen Schmerzen
zuzufügen, selbst wenn diese eine solche Behandlung ablehnten. So könnte auch
jeder Alkoholiker seinen Tischnachbarn zu alkoholischen Getränken nötigen. Und
wenn jemand diese Regel verletzt, sollte man sie dann auch ihm gegenüber
verletzen? Schließlich lässt sich niemand gerne bestrafen, selbst wenn er
schuldig ist. Nimmt man diese Regel wörtlich, bedeutet sie eigentlich die
Abschaffung von Gesetz und Moral.
Ein anderes Beispiel ist der sogenannte „kategorische Imperativ" des
Philosophen Immanuel
Kant: „Handle so, dass die
Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könnte!" Mit anderen Worten: Jedermann sollte nur
nach den Prinzipien handeln, von denen er sich wünscht, dass sie auch für
andere verbindlich sind. Aber was für Prinzipien sind dies? Es können sowohl
die Prinzipien liberaler Demokratie sein als auch jene des Faschismus, des
Kommunismus oder jeder beliebigen anderen Gesellschaftsordnung.
Tatsächlich wurde im Verlauf der Geschichte das sogenannte Naturrecht oft dazu
verwendet, um alle möglichen moralischen und politischen Positionen zu
rechtfertigen. So erklärte Aristoteles, dass einige Menschen von der Natur dazu
bestimmt seien, Sklaven zu sein. Auch die Bibel fand an der Sklaverei nichts
Falsches. Interessanterweise argumentierten jedoch auch die Gegner der
Sklaverei mit dem Naturrecht. Unter Zurückweisung der geschriebenen Gesetze
ihrer Zeit appellierten sie an ein „höheres", ungeschriebenes Recht, nach
dem alle Menschen gleich geschaffen seien und das ihnen ihre unveräußerlichen
„natürlichen" Menschenrechte garantiere. Die Sklavenhalter blieben hiervon
jedoch unbeeindruckt und drehten den Beweis einfach um. Nach ihrer Auffassung
hatte Gott die Natur geschaffen und die Natur das Los der Menschheit geprägt.
Die Geschichte bewies, dass der Fortschritt des Menschen nur möglich war, weil
höherstehende Menschen die Freiheit zur Entwicklung ihrer Fähigkeit erlangten,
indem sie über andere herrschten. Daher fordere die Natur selbst als Preis der
Zivilisation die Sklaverei.
Im Laufe der Jahrhunderte wurden ähnliche Argumente für die wahre
„natürliche" Form der Herrschaft angeführt. Monarchisten pflegten beispielsweise
auf die hierarchische Ordnung des Himmels hinzuweisen, wo sich Monde um
Planeten und Planeten um die Sonne drehten. Deshalb schien es nur natürlich,
dass gewöhnliche Bürger im Dienste der Adligen standen, die ihrerseits einem
König oder Kaiser dienten. Demokraten setzten dem entgegen, dass alle
Himmelskörper dem selben Gesetz der Schwerkraft unterworfen seien und die Natur
daher für die Menschheit auch Gleichheit vor dem Gesetz vorschreibe. Diese
Ansicht wiederum missfiel den Anarchisten, die das Universum als einen Ort
unaufhörlichen, unbeschränkten Kampfes zwischen den Naturgewalten ansahen. Jede
gesetzliche Beschränkung des Menschen, selbst eine Beschränkung im Namen der
Gleichheit, war für sie daher nur ein Eingriff in die richtigen Abläufe der Natur.
Das Problem bei dieser Kontroverse ist nicht, dass die eine oder andere Seite
die letzte und „eigentliche" Bestimmung der Natur missverstand. Man kann
auch nicht annehmen, dass man sich mit
etwas „mehr Nachdenken" auf eine Position hätte einigen können. Die
Wahrheit ist eben, dass es eine solche Bestimmung der Natur nicht gibt, und
dass die streitenden Parteien ihr eigenes Wertsystem in die Natur
hineinprojizierten, um es auf diesem Wege als logisch auszuweisen. Dies ist
genau deshalb möglich, weil die Natur keine eigene moralische Dimension hat.
Wenn das Wort „Natur" in Auseinandersetzungen um die Moral verwendet wird,
kann es jede beliebige Bedeutung haben. Es ist deshalb das klassische Beispiel
einer „Leerformel", eines semantischen Gefäßes, in das jede Gesellschaft
oder jede Gruppe ihre eigenen Wertvorstellungen gießt. „Natur" ist hier
also im wesentlichen ein ideologischer Begriff.
Das wird nirgendwo deutlicher als im Bereich der Sexualmoral. Für die alten
Griechen war die „Natur" der Sexualität Freude und persönliche Erfüllung.
Der Sexualtrieb war eine Frage göttlicher Inspiration, die zwei Liebende
zusammenführte. Jede Handlung, die diesem Ziel diente, war „natürlich". Im
Gegensatz dazu glaubten die alten Israeliten und frühen Christen, die „Natur"
der Sexualität sei die Zeugung, und es sei daher nur ein bestimmtes
Sexualverhalten, der Koitus, „natürlich". Jede andere sexuelle Handlung
war dann „widernatürlich" und eine gerechte Gesellschaft hatte die
Pflicht, sie zu unterbinden. Die Ureinwohner Amerikas und die Polynesier
früherer Jahrhunderte sahen demgegenüber auch Homosexualität, Transvestismus
und Transsexualität als „Natur" bestimmter Individuen an und brachten
ihnen daher Respekt entgegen. Jeder gesellschaftliche Eingriff hätte für sie
größtes Unrecht oder sogar ein Verbrechen wider die Natur bedeutet.
Dennoch, wie immer man „Verbrechen wider die Natur" definiert - als eine
besondere Form nichtkoitalen Geschlechtsverkehrs oder als dessen Verhinderung
-, die Definition ist immer willkürlich und subjektiv. Objektiv betrachtet kann
man die Natur nicht verletzen, weil selbst dieses Verletzen absolut natürlich
sein würde. Ein berühmter Sexualforscher hat es einmal so ausgedrückt: „Die
einzige unnatürliche sexuelle Handlung ist diejenige, die nicht vollzogen
werden kann."
Die Feststellung, dass einige sexuelle Handlungen „widernatürlich" seien,
ist daher nie eine Tatsachenbehauptung, sondern immer ein Werturteil. Eine
solche Feststellung bedeutet nicht, dass die Natur solche Handlungen
verhindert, denn schließlich ereignen sie sich ständig. Sie meint vielmehr,
dass die Natur solche Handlungen missbilligt oder dass sie nicht im
eigentlichen Interesse der Natur sind. Tatsächlich hat die „Natur" jedoch
keine „Meinung" in solchen Fragen. „Meinung" ist ein Begriff, der
sich nur auf Menschen anwenden lässt. Das Missfallen ist kein Ausdruck der
Natur, sondern die Meinung einzelner Personen, die ihre eigenen persönlichen
Werturteile abgeben.
Die Begriffe „natürlich" und „widernatürlich" sind Worte des Lobes
und des Tadels, Sie geben uns keine objektive Beschreibung irgendwelcher
Sachverhalte. Menschen, die die Wirklichkeit wertfrei beschreiben wollen,
verwenden diese Worte nicht. In der neutralen Betrachtung eines
Wissenschaftlers ist zum Beispiel alles natürlich, weil alles Bestandteil der
Natur ist. Für ihn ist Schmerz so natürlich wie Freude, Krankheit so natürlich
wie Gesundheit und Tod so natürlich wie Leben. Selbstverständlich ist das Wort
„natürlich", wenn es so neutral angewendet wird, praktisch bedeutungslos.
Wissenschaftler haben es daher aus ihrem Sprachschatz entfernt und dem Bereich
der Moral zugewiesen.
Wenn wir untersuchen, in welchen Fällen heute die Begriffe „natürlich" und
„widernatürlich" verwendet werden, stellen wir immer fest, dass sie dazu
dienen, moralische Werturteile zu untermauern. Diese Werturteile variieren
natürlich, je nach den Vorurteilen des Sprechers. Historische und
anthropologische Untersuchungen haben ergeben, dass in verschiedenen
geschichtlichen Zeitabschnitten und geographischen Regionen Gesellschaften mit
sehr unterschiedlichen moralischen Wertsystemen gelebt haben. Diese
Unterschiede bestehen noch heute. Dennoch betrachtet bis zum heutigen Tage jede
Gesellschaft ihre eigenen Moralvorstellungen als allgemeingültig, ewig und
unveränderlich, das heißt als einzig „natürlich". Der Grund dafür ist
einfach: Die Berufung auf die „Natur" verleiht einem subjektiven
Wertsystem den Schein der Objektivität. Sie gestattet den Menschen, die
persönliche Verantwortung für ihren moralischen Standpunkt abzugeben. Wenn
daher jemandem das Sexualverhalten seines Nachbarn missfällt, ist es einfacher,
ihn im Namen der „Natur" zu verurteilen als im eigenen Namen. Das heißt,
dass wir alle in der Versuchung sind zu behaupten, unser eigener Geschmack und
unsere persönliche Moral stimmten mit den Forderungen der „universalen
Gerechtigkeit", dem „Allgemeinwohl", dem „göttlichen Willen"
oder der „natürlichen Ordnung" überein.
Solche Behauptungen sind jedoch immer fromme Selbsttäuschung, manchmal sogar
zynischer Schwindel. Objektiv kann man immer nachweisen, dass angeblich
„göttlicher Wille" oder eine angeblich „natürliche Ordnung" nichts
als die Interessen bestimmter Individuen, Gruppen oder sozialer Schichten
widerspiegeln. Das ist auch der hauptsächliche Grund dafür, dass derselbe Gott
und dieselbe Natur zitiert werden können, um die unterschiedlichsten
gesellschaftlichen Systeme zu rechtfertigen. Wie wir gesehen haben,
unterscheiden selbst die großen monotheistischen Religionen - Judentum,
Christentum und Islam - sich erheblich in ihrer Interpretation dessen, was
göttlicher Wille und damit „natürlich" ist. Darüber hinaus gibt es
innerhalb des Christentums zahllose Kirchen, Sekten und Bewegungen, die in
ihrer Auslegung des Naturrechts erheblich divergieren. So benutzen die
verschiedenen Kirchen immer die gleiche Bibel, um entweder Scheidungen zu
gestatten oder sie zu verbieten, um Empfängnisverhütung zu verbieten oder
zuzulassen, um Homosexualität zu verurteilen oder offen homosexuelle Priester
zu weihen und homosexuellen Ehen ihren Segen zu geben.
Auf alle Fälle gibt es heute auch Kirchen, die den traditionellen
jüdisch-christlichen Glauben nicht mehr teilen, die „Natur" der Sexualität
sei die Fortpflanzung. Viele Christen scheint dieser Glaube heute auf einer
überholten, eingeschränkten und willkürlichen Auffassung zu beruhen, und sie
versuchen daher, eine neue, offenere Sexualmoral zu entwickeln. Dabei wird
ihnen jedoch bewusst, dass es nicht ausreicht, eine willkürliche Behauptung
durch eine andere zu ersetzen und die Lösung in irgendeiner modernisierten
Naturrechtslehre zu suchen. Sie beginnen statt dessen zu begreifen, dass sie
selbst die Verantwortung für ihre moralischen Werte tragen müssen.
Das bedeutet aber nicht, dass die moralischen Forderungen früherer Vertreter
der Naturrechtslehre geringgeschätzt oder vergessen werden sollten. Denn selbst
ihre erbittertsten Kritiker erkennen an, dass die Naturrechtslehre häufig dazu
benutzt wurde, repressive, religiöse und weltliche Herrschaft anzugreifen und
dass sie also manchmal auch der Befreiung der Menschen diente. So hat im Laufe
der Geschichte der Glaube an ein Naturrecht nicht nur der jeweils herrschenden
Ordnung gestützt, sondern auch die Vision von einer kommenden besseren Ordnung
artikuliert. Das Wort „Natur" mag eine Leerformel sein, manchmal drückten
sich in ihm aber auch die Hoffnungen und Wünsche der Menschheit aus. Menschen
haben vielleicht kein gottgegebenes „natürliches" Recht auf Leben,
Freiheit und Streben nach Glück, aber sie haben in einigen modernen
Gesellschaften die „Natur" erfolgreich angerufen, um für diese Rechte zu
kämpfen und sie zu schützen. Der Begriff eines Naturrechts hat daher auch einen
utopischen, humanistischen Aspekt, der es verdient, hervorgehoben und gewürdigt
zu werden. In diesem Sinne kann eine kritische Untersuchung der Tradition der
Naturrechtslehre uns viel über eine wirklich menschliche Sexualmoral lehren.
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