Sexualität und Religion

10.1.1 Sexualität und Religion


Mehrere Jahrtausende lang wurden Fragen der Moral ausschließlich nach religiösen Grundsätzen entschieden. Menschen konnten Gut und Böse, Recht und Unrecht unterscheiden, weil sie den Unterschied durch eine übermenschliche Macht vermittelt bekamen. Die Geister, Götter oder Gott zeigten ihnen den rechten Weg und bestraften ihren Ungehorsam. Moral und Religion waren also im Grunde identisch. Atheistische Moralvorstellungen tauchten in der Geschichte der Menschen erst spät auf, sie sind ein Produkt der fortschreitenden Zivilisation.


Dennoch versuchten die meisten Moralordnungen der Vergangenheit - ob sie sich nun auf religiöse Grundlagen bezogen oder nicht -, als allgemeingültig zu erscheinen und den Anspruch zu erheben, frei von menschlicher Einflussnahme zu sein. Nicht nur die Kirche, sondern auch autoritäre weltliche Regierungen hatten von jeher eine merkwürdige Abneigung dagegen, unmittelbare moralische Verantwortung zu übernehmen. Während sie bemüht waren, ganz bestimmte moralische Normen durchzusetzen, waren sie gewöhnlich nicht bereit, diese als ihre eigenen anzuerkennen. Religiöse Moralisten verwiesen dann auf den „Willen Gottes" oder die „Vorsehung der Natur"; atheistische Moralisten beschworen die „Logik der Geschichte", die „Gesetze des dialektischen Materialismus" oder andere unbesiegbare mystische Mächte. Daher wurde auch Abweichung entweder in religiöse Begriffe gefasst und als „Sünde", „Blasphemie", „Götzendienst" und „Ketzerei" bezeichnet, oder man bezeichnete sie mit weltlichen Begriffen als „Verrat", „reaktionäres Verhalten", „Subjektivismus" und „bürgerliche Dekadenz". Menschen mit abweichendem Verhalten mussten hier zur Beichte gehen oder dort öffentlich Selbstkritik üben. In jedem Fall wurden sie „umerzogen" und gezwungen, ihre persönlichen Interessen offiziellen Dogmen zu opfern.


Was hier über die Moral im allgemeinen gesagt wurde, gilt selbstverständlich auch für die sexuelle Moral. Auch hier haben religiöse und atheistische Dogmatiker die Handlungen der Menschen nicht nach ihren „subjektiven" Ergebnissen wie Freude, Befriedigung und Glück beurteilt, sondern nach ihren angeblich „objektiven" Eigenschaften. Sexualverhalten hatte sich einem „höheren", transzendenten Recht anzupassen. Dieses Recht war in manchen Fällen wohlwollend, freizügig, flexibel und gegenüber Sexualität positiv eingestellt. In anderen Fällen war es repressiv, engstirnig, streng und gegenüber Sexualität negativ eingestellt. Im ersten Fall fand die Mehrheit der Menschen sexuelle Befriedigung, im zweiten war dies nur einer kleinen Minderheit möglich. Alle anderen blieben sexuell in unterschiedlichem Ausmaß frustriert. Sie führten ein freudloses, unmenschliches Leben unter Zwang, waren mit sich selbst unglücklich und intolerant gegenüber anderen.


Wir wissen nicht genau, weshalb einige Gesellschaften von ihren Mitgliedern sexuelle Askese verlangen und andere nicht. Große Autoren wie Friedrich Engels, Sigmund Freud und Wilhelm Reich haben ganz unterschiedliche Theorien über „den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats", „das Unbehagen an der Kultur" und „den Einbruch der sexuellen Zwangsmoral" formuliert, und sie versuchten so, die Ursachen sexueller Unterdrückung in einer fernen Vergangenheit zu finden, als die Menschheit einen „falschen Weg" einschlug. So eindrucksvoll diese Theorien auch sind, das Problem bleibt weitgehend ungeklärt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir uns nur einer Sache gewiss sein: der Mensch selbst schafft sich seine sexuelle Moral; er hat daher auch das Recht, sie zu ändern, wenn sie sein Wohlergehen zu bedrohen beginnt. Dieses Recht kann unter bestimmten Bedingungen sogar zu einer moralischen Pflicht werden.


In den folgenden Abschnitten werden die Lehren vergangener und gegenwärtiger Religionen zusammengefasst. Vorab sei noch einmal daran erinnert, dass moderne, nicht-religiöse Moralsysteme in ihrer Einstellung zur Sexualität ebenso vielfältig sind.

Der historische Hintergrund


Die Wurzeln unserer westlichen Zivilisation reichen bis weit in die Antike zurück. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, geben viele unserer heutigen moralischen Überzeugungen Ereignisse, Umstände oder kollektive Erfahrungen aus längst vergangenen Zeiten wieder. Vom Heidentum der Antike bis zum Judentum und Christentum wurde unsere sexuelle Moral zum Beispiel von einer Vielzahl religiöser Glaubensvorstellungen beeinflusst. Häufig wurde dieser Einfluss nicht nur direkt und offen wirksam, sondern auch indirekt, unterschwellig und verdeckt. In vielen Fällen blieb dieser Einfluss bestehen, auch wenn die Glaubensvorstellungen selbst überholt oder abgewandelt waren. Es scheint daher sinnvoll, zumindest einen flüchtigen Blick auf die wesentlichen westlichen Religionen zu werfen und besonders ihre Aussagen zum menschlichen Sexualverhalten zu betrachten.


Das klassische Griechenland und Rom


Allgemein gesprochen waren die alten europäischen Kulturen der Sexualität gegenüber sehr positiv eingestellt. In unserem Zusammenhang können wir die nordeuropäischen Kulturen jedoch überspringen und uns auf die Kulturen des Mittelmeer-Raumes konzentrieren, da nur sie einen dauerhaften Einfluss auf die moralischen Grundwerte der westlichen Zivilisation hatten.


Im klassischen Griechenland wurde Sexualität als eine elementare Lebenskraft angesehen, alle sexuellen Gefühle wurden daher als grundsätzlich gut aufgefasst. Viele Götter und Göttinnen der Fruchtbarkeit, der Schönheit und der sexuellen Freuden wurden in besonderen Tempeln oder zu besonderen Anlässen in oft orgiastischen Feiern verehrt. Die Griechen glaubten auch, dass fast alle ihrer Götter ein lebhaftes und vielseitiges Liebesleben hätten. Daher erachteten sie es nur als angemessen für die Sterblichen, diesem göttlichen Beispiel zu folgen.


Den Griechen lag sexuelle Abstinenz so fern, dass ihre Sprache nicht einmal ein besonderes Wort für Keuschheit enthielt. Sie gaben sich statt dessen dem hin, was sie hedoné (sinnliche Freude in all ihren Erscheinungsformen) nannten. Dieser „Hedonismus" im klassischen Griechenland war jedoch keinesfalls die Rechtfertigung sexueller Zügellosigkeit. Er war statt dessen Ausdruck heiterer Lebensfreude, dankbarer Würdigung des menschlichen Körpers und besonders seiner Geschlechtsfunktion. Lust wurde niemals von der Vernunft getrennt, sondern stand immer mit ihr im Einklang. Nie wurde der Körper um der Seele willen gestraft oder vernachlässigt. Da die Griechen nicht an ein glückliches Leben nach dem Tode glaubten, fühlten sie sich verpflichtet, jeden Augenblick auf dieser Welt voll zu genießen.


Da man Jugend und körperliche Schönheit aufs höchste bewunderte, wurden junge Körper nicht immer durch Kleider bedeckt, sondern häufig mit Stolz gezeigt. Nacktheit in der Öffentlichkeit war bei religiösen Festen, Feierlichkeiten in den Städten und bei Schönheitswettbewerben üblich. Junge Männer trainierten im „Gymnasion" („dem Ort, wo man nackt ist"), sportliche Wettkämpfe (einschließlich der Olympischen Spiele) wurden nackt ausgetragen, wobei allerdings hier weibliche Zuschauer nicht zugelassen waren. In Sparta fanden demgegenüber „nackte" Ringkämpfe zwischen Jungen und Mädchen statt. Nackte männliche und weibliche Tänzer erfreuten die Gäste bei Festen und anderen feierlichen Zusammenkünften. Tempel, Theater, öffentliche Plätze und Privathäuser waren mit Statuen und Gemälden nackter Männer und Frauen verziert. Die sexuellen Bezüge dieser Nacktheit wurden offen zugegeben. Viele Kunstwerke gaben sogar sexuelle Reaktionen und Handlungen wieder. Die Griechen fühlten ein beständiges Bedürfnis nach Schönheit, und in ihren Augen war nichts schöner als ein junger, gesunder, nackter menschlicher Körper.
 


 
Die Umarmung des Eros


(nach einem alten griechischen Vasenbild)

Die Griechen schrieben jedes sexuelle Verlangen dem Wirken des jungen, verspielten mächtigen Gottes Eros zu. Seiner Umarmung sich zu widersetzen wäre nicht nur sinnlos sondern auch ein Frevel gewesen.


 

Natürlich war das klassische Griechenland eine von Männern beherrschte Gesellschaft; während des „Goldenen Zeitalters" war ihr Schönheitsideal männlichen Geschlechts. Wenngleich die Männer sich gewöhnlich zur Heirat und zur Gründung einer Familie verpflichtet fühlten, verhielten sie sich Frauen gegenüber eher nüchtern. Ihre höheren Empfindungen und Leidenschaften blieben oft ihren homosexuellen Beziehungen vor und außerhalb der Ehe vorbehalten. Auch hier wurden sie wiederum von der Religion bestätigt. Von Göttern wie Zeus und Apollo und von Halbgöttern wie Herakles glaubte man, dass sie sich in schöne junge Männer verliebt hätten. Es besteht kein Zweifel, dass diese erhabenen Vorbilder für viele Griechen eine dauernde Quelle der Inspiration waren.


Im klassischen Griechenland versinnbildlichte der junge, kraftvolle und unberechenbare Gott Eros Liebe und sexuelles Verlangen. Er nahm je nach Laune von den Menschen Besitz; jeder Widerstand wäre nicht nur frevelhaft, sondern auch sinnlos gewesen. Alle Formen der Liebe waren göttlichen Ursprungs und hatten respektiert zu werden. Dieser grundsätzliche Glaube erklärt, weshalb die Griechen so außerordentlich tolerant in sexuellen Dingen waren und weshalb es bei ihnen keine Verfolgung abweichenden Verhaltens gab. Auf alle Fälle waren die meisten unserer modernen, zum Teil merkwürdigen Erscheinungsformen menschlicher Sexualität nahezu unbekannt. Schmerz und Lust wurden niemals in Zusammenhang gebracht. Sexuelle Grausamkeiten, sadomasochistische Beziehungen und andere derartige Praktiken entwickelten sich daher so gut wie nie.


In diesem Punkt unterschied sich das klassische Griechenland ganz deutlich von Rom, wo - vor allem in der Kaiserzeit - sexuelle Grausamkeiten und Brutalität recht verbreitet waren. Im Laufe der Zeit wurde Sexualität bei den Römern wesentlich roher und vulgärer, als sie dies bei den Griechen je gewesen war. Abgesehen von bestimmten Exzessen der Reichen, war jedoch im antiken Rom die allgemeine Einstellung zur Sexualität ebenfalls ausgesprochen vernünftig und realistisch.


In Rom wie in Griechenland reflektierte der religiöse Glaube ursprünglich die Wertvorstellungen einer Agrargesellschaft. Die Bauern beteten zumeist für eine große Familie, das Wachstum der Viehherden und reiche Ernten. Die ältesten religiösen Zeremonien waren daher Fruchtbarkeitsriten. Im Laufe der Zeit wurden viele dieser Riten natürlich verändert und verfeinert, aber selbst das urbane Rom der Kaiserzeit kannte verschiedene orgiastische religiöse Feiern und sexuell ausschweifende Festlichkeiten. Felder und Gärten wurden von Statuen des Gottes der Fruchtbarkeit, des Priapus, beschützt, der einen gewaltigen erigierten Penis zur Schau trug. In Prozessionen führte man kunstvolle Darstellungen männlicher Geschlechtsorgane mit, oder man trug sie als glückbringenden Schmuck.


Die Römer betrachteten wie die Griechen Sexualität und Fortpflanzung nie als untrennbar, sondern sie akzeptierten alle Formen der Sexualität als von den Göttern vorbestimmt und daher gut. Mit der Ausdehnung ihres Reiches auf Gebiete, in denen die griechische Kultur vorherrschte, wurden von den Römern viele griechischen Sitten und Vorstellungen übernommen. So wurden die griechischen Gottheiten Eros und Aphrodite in Rom als Amor und Venus verehrt. Demgegenüber scheinen die Ideale der griechischen homosexuellen Liebe für die meisten Römer nicht nachvollziehbar gewesen zu sein. Zwar wurden homosexuelle Beziehungen als normal und natürlich angesehen, kaum aber als höherer ideeller Wert. Insgesamt gesehen war die Einstellung der Römer zur Sexualität eher unmittelbar, nüchtern und praktisch.


Insgesamt kann man sagen, dass die Religion der Griechen und der Römer das gesamte Spektrum der sexuellen Möglichkeiten des Menschen zuließ. Der Kontrast zu unseren heutigen religiösen Vorstellungen ist bemerkenswert. Der größte Unterschied zwischen den alten und modernen Einstellungen ist wohl dieser: In der alten Welt lag die Betonung auf dem sexuellen Verlangen selbst, nicht auf seinem Objekt. Daher wurden Männer und Frauen nicht geliebt, weil sie selbst begehrenswert schienen, sondern die Liebe, die jemand zu ihnen empfand, machte sie begehrenswert. Die Liebe war eine treibende Kraft, die dem Liebenden entsprang, sie wurde auf andere hingelenkt, aber ihre Intensität oder ihr Wert hingen nie von der Reaktion des anderen ab. Diese Ansicht wird in einem griechischen Sprichwort deutlich: „Der Gott der Liebe wohnt im Liebenden, nicht im Geliebten." Das bedeutete, dass man in jeder sexuellen Handlung den Gott der Liebe mehr verehrte als den sexuellen Partner.


Aufgrund dieser religiösen Verherrlichung körperlicher Liebe empfanden die Griechen und Römer zumeist wenig Bewunderung für Menschen, die sexuell abstinent lebten. Erst später, in der hellenistischen Zeit (ungefähr zur Zeit Jesu), fanden bestimmte asketische Philosophen eine breitere Anhängerschaft. Diese Philosophen vertraten die Ansicht, es bestehe ein Widerspruch zwischen dem sterblichen Körper und der unsterblichen Seele, und sie lehnten deshalb jeden materiellen Besitz und jede sinnliche Freude zugunsten von „Reinheit" und „Tugend" ab. Es ist nicht ganz deutlich, weshalb diese asketischen Philosophien plötzlich so beliebt wurden. Sie übten auf alle Fälle auf die Denker des frühen Christentums eine große Anziehungskraft aus.


Das alte Israel


Geschichte, Sitten, Rechte und religiöse Vorstellungen des alten Israel sind in der Bibel sorgfältig und ausführlich dokumentiert. Daher weiß man in den westlichen Ländern, wo die Bibel noch viel gelesen wird, wesentlich mehr über das Volk Israel als über alle anderen Völker des Altertums, Wir können uns deshalb hier auf eine kurze Übersicht beschränken.


Im Gegensatz zu ihren polytheistischen Nachbarn glaubten die Juden nur an einen Gott, Jahwe, den Schöpfer und Herrscher der Welt. Er hatte sie als


 
sein Volk erwählt und ihnen durch Mose Gesetze gegeben. Sie fühlten sich daher verpflichtet, nach seinen Geboten zu leben und alle anderen Gesetze und fremden Einflüsse abzulehnen.


Für das Volk Israel war das Hauptziel der Sexualität die Fortpflanzung. „Seid fruchtbar und mehret euch" war für Männer und Frauen eine Pflicht, und es gab keinen größeren Segen als eine große Familie. Daher sagte Gott zu Abraham, als er ihn belohnen wollte: „. . . darum will ich dich segnen und dein Geschlecht so zahlreich machen wie die Sterne des Himmels und wie den Sand am Gestade des Meeres ..." (1. Mose 22,17). Entsprechend war sexuelle Abstinenz in den Augen Gottes nicht nur ein Vergehen, sie verriet auch eine unsoziale Einstellung. Ein Mensch, der sich entschloss, keine Kinder zu haben, wurde deshalb kaum für besser gehalten als jemand, der Blut vergoss.

 


Adam und Eva verbergen ihre Nacktheit (Deutsches Gemälde aus dem 14. Jahrhundert)

Die Bibel erzählt, dass die ersten Menschen ihre Nacktheit erkannten, als sie Gott ungehorsam geworden waren, und dass sie sich ihrer schämten. Zur Strafe für ihre Sünden wurden sie aus dem Paradies vertrieben. Für die Israeliten galt deshalb Nacktheit als verboten, in der Öffentlichkeit „bloß"gestellt zu werden war die schlimmste Demütigung,

 


Da für das Volk Israel Fruchtbarkeit von entscheidender Bedeutung war, sah man die männlichen Geschlechtsorgane als unverletzlich, fast als heilig an. Als zum Beispiel Abraham seinen Knecht aussandte, um eine passende Frau für seinen Sohn Isaak zu finden, forderte er ihn auf, einen heiligen Schwur abzulegen. Also legte der Diener seine Hände um Abrahams „Hüften" (eine Umschreibung für die Geschlechtsorgane) und schwor zu Gott, er werde dafür sorgen, dass sein Sohn keine Nicht-Jüdin heiraten müsse (1. Mose 24, 2-4). - Dieses Ritual ist einem Brauch der alten Römer ähnlich, wo man die Hoden berührte, während man einen Schwur tat. Das lateinische Wort „testis" („Zeuge der Wahrheit") ist noch heute in unserem medizinischen Begriff für Hoden (Testis) enthalten. - Die Geschlechtsorgane verdienten auch einen besonderen Schutz. Wenn eine Frau ihrem Mann im Kampf mit einem anderen Mann helfen wollte und diesen dabei an Penis oder Hoden berührte, wurde ihr die Hand abgeschlagen (5. Mose 25, 11-12). Sexuell verstümmelte Männer wurden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.


Viele Passagen der Bibel (darunter auch das sexuell eindeutige „Hohe Lied Salomos") machen ganz deutlich, dass die Israeliten eine sehr hohe Meinung von sexueller Lust hatten. Sexualität wurde als normaler Bestandteil eines gesunden Lebens betrachtet, und es galt als Tugend, sich daran zu erfreuen. Nach dieser Ansicht hatten junge Paare ein Anrecht auf ausgedehnte Flitterwochen: „Wenn jemand vor kurzem erst ein Weib genommen hat, so muss er nicht mit in den Krieg ziehen, und man soll ihm nichts auflegen: er soll ein Jahr lang für sein Haus frei sein, dass er mit seinem Weibe fröhlich sei, das er genommen hat" (5. Mose 24, 5).


Andererseits sollten sich Männer und Frauen möglichst nicht nackt zeigen. Nacktheit galt als beschämend und peinlich. Eine ehebrecherische Frau wurde zum Beispiel von ihrem Mann öffentlich ausgezogen, um sie zu demütigen. Man versuchte mit zahlreichen Bräuchen und Vorschriften sogar, ein unbeabsichtigtes Zeigen der Geschlechtsorgane zu verhindern, (Wenn in späteren Zeiten ein Jude in einem griechischen Gymnasion Sport trieb, betrachtete man ihn als seinem Glauben abtrünnig.)


Dennoch wäre es falsch anzunehmen, die Israeliten seien prüde oder puritanisch gewesen. Ihre Einstellung zur Sexualität war weitgehend positiv. Aber dadurch, dass sie die Fortpflanzung für die zentrale Funktion hielten, war der Koitus die einzig annehmbare Form sexueller Handlungen. Jede Sexualität, die nicht dem Ziel der Fortpflanzung diente (einschließlich sexueller Selbstbefriedigung), wurde - da sie im Widerspruch zum Willen Gottes stand - als „widernatürlich" betrachtet. Homosexueller Geschlechtsverkehr und sexueller Kontakt mit Tieren wurden mit dem Tode bestraft (3. Mose 20,13 u. 15).


Es ist wichtig, sich der religiösen Grundlage dieser sexuellen Intoleranz bewusst zu sein, Zu einer Zeit, als das Volk Israel um sein nationales und religiöses Überleben kämpfte, war es von Völkern umgeben, die zahlreiche Götter und Götzen verehrten und bei denen es üblich war, jede Form sexueller Handlungen zum Bestandteil dieser Verehrung zu machen. Aus dem Buch der Könige und den Büchern der Propheten wissen wir, dass auch die Israeliten im Tempel in Jerusalem und an verschiedenen heiligen Stätten über männliche und weibliche Prostituierte verfügten. Da es jedoch notwendig war, die reine monotheistische Religion zu bewahren, wurde diese „geheiligte Prostitution" zusammen mit anderen polytheistischen Bräuchen schließlich geächtet. So begannen die Menschen, Sexualität ohne das Ziel der Fortpflanzung dem Götzendienst gleichzusetzen und wie eine schwere religiöse Verfehlung zu behandeln.


Dennoch waren sexuelle Freuden innerhalb des relativ engen Rahmens des ehelichen Beischlafs durchaus anerkannt, sie wurden sogar unterstützt. Erst spät in der Geschichte Israels (etwa zur Zeit Jesu) entwickelten bestimmte extreme Religionsgemeinschaften wie die Essener strenge asketische Ideale. Für die jüdische Kultur als solche war sexuelle Askese jedoch niemals kennzeichnend.

 


Madonna und Kind


(Gemälde von Fouquet, 15. Jahrhundert)

Das paradoxe Bild von der jungfräulichen Mutter Maria, das die Ideale der Keuschheit und der Fruchtbarkeit in sich vereinigt, gibt die Auffassung der mittelalterlichen katholischen Kirche zur Sexualität wohl am besten wieder.



Die Katholische Kirche


Zu Zeiten Jesu Christi entstanden im Römischen Reich zahlreiche asketische religiöse Bewegungen. Es gab nicht nur besonders strenge jüdische Sekten (wie die Essener), die allen sexuellen Freuden entsagten, sondern auch viele heidnische Kulte, die den menschlichen Körper als „unrein" bezeichneten und die verlangten, ihn zu missachten, zu misshandeln oder, um der „reinen" Seele willen, darben zu lassen. Jesus selbst scheint sich keiner dieser Ideen verschrieben zu haben, sondern er folgte eher den traditionellen jüdischen Lehren, die gegenüber Sexualität eine positivere Einstellung hatten. Im Grunde genommen ist über seine Ansichten zu einzelnen sexuellen Fragen wenig bekannt, Er selbst blieb unverheiratet, rühmte oder verdammte sexuelles Verlangen jedoch niemals. Seine Einstellung gegenüber sexuellen Außenseitern war mitfühlend und verzeihend (Lukas 7, 36-50; Johannes 8, 1-11).


Bei Paulus wird die menschliche Sexualität ausführlicher erörtert, Paulus, einer der ersten und erfolgreichsten christlichen Missionare, der nicht zu den Jüngern Jesu zählte, war offensichtlich mehr von der negativen Einstellung seiner Zeit gegenüber der Sexualität beeinflusst. Seine strenge Verurteilung der Homosexualität kann natürlich noch als traditionell jüdisch erklärt werden (Römer l, 26-27; 1. Korinther, 7, 38). Er geht jedoch weit über diese Traditionen hinaus, indem er das sexuelle Verlangen selbst als eine eher bedauerliche Schwäche ansieht. Er erklärt sogar - und das steht im deutlichen Widerspruch zur jüdischen Lehre -, das Zölibat sei über die Eheschließung erhaben (1. Korinther 7, 8-9 u, 38).


Diese asketische Einstellung gegenüber der Sexualität wurde bald von dogmatischen Gelehrten wie Tertullian, Jeremias und Augustinus übernommen.

Diese „Kirchenväter" hatten von sinnlicher Lust eine besonders schlechte Meinung. Vor allem Augu.stinus, ein hervorragender Denker und Schriftsteller, erlangte erheblichen Einfluss. Augustmus wurde in Nordafrika geboren, wo er auch verstarb, verbrachte aber seine mittleren Lebensjahre in Italien und schulte sein Denken in bestimmten damals verbreiteten asketischen Glaubensauffassungen und Philosophien. Er hatte während seiner Jugend und im frühen Erwachsenenalter ein recht aktives Geschlechtsleben geführt. Nach seiner Bekehrung zum Christentum begann er jedoch, Sexualität als beschämend und entwürdigend anzusehen. Nach seiner Auffassung waren die willentlich nicht zu beeinflussenden Körperreaktionen beim Geschlechtsverkehr ein erschreckendes Zeichen für die Versklavung des Fleisches. Sie bewiesen, dass der Mensch nicht Herr seines Körpers war, wie Gott es bestimmt hatte. Statt dessen hatte der Sündenfall von Adam und Eva sie und alle ihre Nachkommen einer hinreichenden Selbstkontrolle beraubt und sie so der „Fleischeslust" ausgeliefert - dem lüsternen Begehren, das um jeden Preis Befriedigung sucht. Ein „neues" christliches Leben verlangte daher die strikte Unterdrückung solcher Bedürfnisse. Die Ehe selbst war nicht gottlos, weil sie den Partnern erlaubte, das drängende Verlangen in den erhabenen Dienst der Zeugung zu stellen. Dennoch war jeder sexuelle Akt, auch unter Eheleuten, verderbt; jedes Kind, das als Ergebnis solcher Handlungen geboren wurde, musste daher in der Taufe gereinigt werden. Aber selbst dann blieb das unglückselige, von Adam und Eva ererbte Streben nach körperlicher Lust bestehen.


Die von Augustinus hergestellte Verbindung von Sexualität, Erbsünde und Schuld hatte dauernde, verhängnisvolle Auswirkungen auf das christliche Denken. Man muss dabei jedoch berücksichtigen, dass auch das gesamte intellektuelle und moralische Klima der frühen Kirche für ein offenes Verhältnis zur Sexualität nachteilig war. Die ersten Christen glaubten, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorstünde, und selbst als es nicht eintrat, blieben ihre allgemeinen Lebensaussichten eher trübe und freudlos. Jungfräulichkeit, vollständige Abstinenz und die systematische Missachtung des Körpers galten als Merkmale der Tugend. Mönche und Einsiedler wurden wegen ihres schonungslosen Fastens und ihres Kampfes gegen sexuelle Versuchung gepriesen. Sogar Selbstkastration wurde als moralischer Akt gewürdigt. Gleichzeitig erreichten Intoleranz und religiöser Fanatismus einen neuen Höhepunkt. Als das Christentum schließlich im Römischen Reich zur offiziellen Religion erklärt wurde, führte die Regierung strikte Gesetze ein, die bestimmte sexuelle Handlungen als heidnische Relikte verboten. Besonders Homosexuelle und andere Menschen, die von der christlichen Sexualmoral abwichen, wurden als Kapitalverbrecher bezeichnet und öffentlich hingerichtet. So begannen die Christen, kurz nach dem Ende ihrer eigenen Verfolgung, andere zu verfolgen. (Vgl. a. Kap. 10.2.1 „Sexualität und Gesetz - der historische Hintergrund".)


Als sich die christliche Kirche über ganz Europa ausbreitete, wich die fanatische Askese einer gemäßigteren Einstellung. Viele Mitglieder des Klerus heirateten und hatten Kinder, ein Brauch, der bis weit ins Mittelalter überlebte, wo er von der kirchlichen Obrigkeit abgeschafft wurde. Im Laufe der Zeit verlagerte sich die Rechtsprechung über sexuelle Vergehen von weltlichen zu kirchlichen Gerichten, die jetzt alle Fälle verhandelten, die mit dem Seelenheil des Angeklagten zu tun hatten. (In bestimmten Fällen wurde der Angeklagte allerdings zur Bestrafung der Regierungsgewalt übergeben.)


Das Vorgehen der mittelalterlichen Kirche im Hinblick auf sexuelles Verhalten ist in sogenannten Bußbüchern dokumentiert, in Büchern, die als Anleitung für Beichtende geschrieben wurden und lange Sündenregister mit den dazugehörigen angemessenen Strafen enthielten. In diesen Bußbüchern wurde im allgemeinen wenig Toleranz für „abweichendes" sexuelles Verhal-


ten oder sogar für ein lebhaftes „normales" eheliches Geschlechtsleben gezeigt. Erst später, als Thomas von Aquin und seine Anhänger einen stärkeren Einfluss innerhalb der Kirche gewannen, wurde die Einstellung gegenüber der Sexualität ausgeglichener und realistischer.


Thomas von Aquin, der bedeutendste mittelalterliche Theologe, bemühte sich, die Sexualität systematisch und logisch zu untersuchen. Sein logischer Ausgangspunkt war folgender: Die „Natur" des menschlichen Geschlechtsverkehrs ist die Zeugung von Kindern. Daher ist jede sexuelle Handlung, die diesem Ziel nicht dient, „widernatürlich", das heißt gegen den Willen Gottes gerichtet und sündig.


Seine gesamte Sexualphilosophie lässt sich aus dieser Grundannahme ableiten. „Natürliche" sexuelle Handlungen finden nur mit dem „richtigen" Ziel und dem „richtigen" Partner in „richtiger" Weise statt, das heißt zum Zwecke der Zeugung, mit dem Ehepartner und durch Koitus. Sexuelle Handlungen sind in dem Maße „widernatürlich" und sündig, in dem sie von dieser dreifachen Moralvorschrift abweichen. Das schwerste Verbrechen wider die Natur besteht darin, mit falschem Vorsatz (nur um der sexuellen Freude willen) und dem falschen Partner (zum Beispiel einen Partner gleichen Geschlechts) in falscher Weise (zum Beispiel mit Oral- oder Analverkehr) Kontakt zu haben. Auch sexuelle Handlungen mit Tieren oder Selbstbefriedigung sind schwere Sünden. Etwas weniger sündig ist Sexualität mit dem falschen Partner des anderen Geschlechts, zum Beispiel bei Vergewaltigung, Ehebruch oder Inzest. Auch einfache „natürliche" Unzucht ist, solange sie nicht zur Schwangerschaft führt, eine geringfügige Übertretung. Bei eingetretener Schwangerschaft wird sie jedoch zum schweren „widernatürlichen" Akt, weil das Kind nicht ehelich sein wird und der Fürsorge und Aufmerksamkeit des Vaters entbehrt.


Anders als Augustinus sah Thomas von Aquin die „richtige" sexuelle Handlung, den ehelichen Koitus, nicht als von Fleischeslust befleckt an. Er bedauerte eigentlich nur, dass mit ihm der Verlust verstandesmäßiger Kontrolle verbunden war. So hatte er im Grunde genommen einen mäßigenden Einfluss auf das theologische Denken über die Sexualität. Aber dennoch blieb selbst für ihn sexuelle Abstinenz moralisch über die Eheschließung erhaben.


Das Beharren auf sexueller Anpassung an die „Natur", wie es bei Thomas von Aquin zum Ausdruck kommt, also sein Glaube an ein sogenanntes „Naturrecht", ist noch bis zum heutigen Tag für die katholische Glaubenslehre von entscheidender Bedeutung. Freilich hat die Katholische Kirche für bestimmte Fälle ihre mittelalterlichen Ansichten zur Sexualität verändert. Besonders in unserem Jahrhundert hat eine gewisse Liberalisierung eingesetzt. Dennoch vertritt die Katholische Kirche nach wie vor im Grunde genommen Auffassungen, nach denen das Sexualverhalten der meisten heutigen Menschen als „abweichend" bezeichnet werden müsste. Sexuelle Selbstbefriedigung, nichtehelicher heterosexueller Geschlechtsverkehr, homosexueller Geschlechtsverkehr und sexueller Kontakt mit Tieren werden von der Kirche nach wie vor als „unnatürlich" und mehr oder weniger sündig abgelehnt. Künstliche Befruchtung, Sterilisation, Schwangerschaftsabbruch und die meisten Arten von Verhütungsmitteln werden ebenfalls abgelehnt. (Nur die sogenannten Rhythmus-Methode ist unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt.) Schließlich sollte noch angemerkt werden, dass die Katholische Kirche Ehescheidungen nicht anerkennt. Insgesamt kann man sagen, dass der katholische Glaube in bezug auf Sexualität unter allen Weltreligionen wohl am restriktivsten ist.
 


Ein göttliches Gebot für alle Eheleute


(Holzschnitt aus Nordamerika, 17. Jahrhundert)

Die ersten Protestanten lehnten das traditionelle Zölibat der Priester, Mönche und Nonnen ab und rieten jedem zur Eheschließung. Die englischen und nordamerikanischen Puritaner griffen sogar auf die Vorschriften des Alten Testaments zurück und definierten Fortpflanzung als oberste Ehepflicht und einziges zulässiges Ziel sexueller Betätigung.


 
Die Protestantischen Kirchen


Die protestantische Reformation im 16. Jahrhundert teilte die einst geschlossene Kirche in Westeuropa und brachte zahlreiche neue Kirchen, Glaubensgemeinschaften und -bewegungen hervor. Die ersten protestantischen Führer, Luther und Calvin, lehnten die Autorität des Papstes und andere katholische Glaubensgrundsätze ab. Hinsichtlich der Sexualität behielten sie jedoch die meisten traditionellen Auffassungen bei. Die Einrichtung des Zölibats und die Glorifizierung sexueller Abstinenz griffen sie demgegenüber an. Luther, ein ehemaliger Mönch, ging mit eigenem Beispiel voran und heiratete eine Nonne; Calvin entschloss sich ebenfalls zur Heirat, um ein geregeltes, produktives Leben führen zu können. Beide betrachteten Frauen als notwendige, aber untergeordnete Gefährtinnen des Mannes. Besonders Calvin sah die Rolle der Ehefrau als die der lebenslangen, engen Verbündeten des Mannes an. Sie musste mehr sein als nur die Mutter seiner Kinder. Aus diesem Grunde war der Zweck der Ehe auch nicht nur das Hervorbringen und Erziehen von Nachkommen, sondern sie hatte einen eigenen Wert als soziale Institution zum Wohl der Partner. Sexuelle Freuden innerhalb der Ehe waren daher moralisch und richtig, vorausgesetzt, sie arteten nicht in exzessive Leidenschaft oder reinen Lustgewinn aus.


Calvins Theologie übte einen großen Einfluss auf die englischen Puritaner aus, denen die Reformation Heinrichs VIII. noch nicht weit genug gegangen war und die im Laufe der Zeit in großer Zahl in die neuen englischen Kolonien der amerikanischen Ostküste auswanderten. Angesichts der harten Bedingungen, die sich ihnen dort boten, maßen die Puritaner der Integrität der Familie einen hohen Stellenwert bei. Obwohl sie sich nicht gegen Sexualität insgesamt wandten, standen sie jeder sexuellen Handlung außerhalb der Ehe ausgesprochen intolerant gegenüber. Vor- und außereheliche Sexualität wurde hart bestraft, ebenso Homosexualität und sexueller Kontakt mit Tieren. Um der Versuchung zu widerstehen, entwickelten die Puritaner strenge Vorschriften für Kleidung und öffentliches Verhalten. Es musste alles abgewendet werden, was die Sinne hätte verfuhren können. Es überrascht unter diesen Umständen kaum, dass ihr Leben bald eintönig, freudlos und bedrückend wurde. Gelegentliche Ausbrüche von Massenhysterie, wie beim Hexenprozess von Salem, hatten zweifelsohne einen sexuellen Hintergrund


und bewiesen, dass die Sexualmoral der Puritaner unrealistisch, fanatisch und zerstörerisch geworden war. Zum Glück mischte sich diese strenge Kultur in den folgenden Jahrhunderten mit einer großen Anzahl neuer Einwanderer, die ein liberaleres Erbe mit sich brachten. Dennoch lebte die puritanische Anschauung in vielen amerikanischen Gesetzen weiter, insbesondere in den Strafgesetzbüchern der einzelnen Bundesstaaten.


In der Zwischenzeit waren die verschiedenen Protestantischen Kirchen in Europa ihrerseits unter den Einfluss asketischer Glaubenslehren geraten. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - zur Zeit der englischen Königin Viktoria - erlebten die meisten westlichen Gesellschaften eine nie dagewesene Flut der Prüderie, die einen erheblichen Einfluss auf die Einstellung der Christen zur Sexualität hatte. Ursprünglich war diese Prüderie außerhalb der Kirche weit verbreitet gewesen, wo sie durch Ärzte, Psychiater und Erzieher gefördert worden war. Nach anfänglichem Sträuben folgten jedoch bald die meisten Geistlichen diesem Vorbild. Als schließlich die Wissenschaft begann, sich von so engen Anschauungen zur Sexualität zu lösen, sahen sich viele Kirchenführer aber außerstande, diesem Beispiel zu folgen. Für sie waren die pseudowissenschaftlichen Theorien des 19. Jahrhunderts zum festen Bestandteil ihrer religiösen Anschauungen geworden.


Die verschiedenen Protestantischen Kirchen von heute unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Sexuallehren zum Teil erheblich. Einerseits gibt es fundamentalistische Kirchen, die die Strengstmöglichen Vorschriften beibehalten haben und jede sexuelle Handlung, mit Ausnahme des ehelichen Koitus, als sündig verdammen. Einige dieser Kirchen missbilligen sogar modische Kleidung, Schminken, Tanzen, Küssen oder Umarmungen oder andere enge Körperkontakte zwischen unverheirateten Partnern. Einige moderne Kirchen treten demgegenüber offen für vollkommene sexuelle Erfüllung für jeden ein, ohne Berücksichtigung von Familienstand oder sexueller Orientierung. Manche Kirchen ermutigen nicht nur Frauen, Geistliche zu werden, sie vollziehen auch Eheschließungen zwischen Partnern gleichen Geschlechts. In neuerer Zeit haben einige protestantische Religionsgemeinschaften, wie die „Vereinigte Kirche Christi" und die Episkopalkirche, ihre ersten offen homosexuellen Geistlichen geweiht.


Gegenwärtig nehmen die meisten größeren Protestantischen Kirchen zwischen diesen Extremen eine mittlere Position ein. Viele von ihnen anerkennen das sexuelle Verlangen des Menschen als eine Gabe Gottes, die nicht nur dem Zweck der Zeugung dient, sondern auch einen Gewinn für jeden Menschen bedeutet, weil sie eine starke körperliche und geistige Bindung zwischen den Ehepartnern darstellt. Die nichtkoitalen Formen des Geschlechtsverkehrs, Verhütung und Sterilisation können daher moralisch gerechtfertigt, unter bestimmten Umständen sogar erforderlich sein. Unglückliche Ehen können durch Scheidung aufgehoben werden. Voreheliche Sexualität ist nur unter Würdigung der Umstände zu beurteilen; sie ist nicht unbedingt eine Sünde. Allgemein werden Menschen, die von den traditionellen Normen abweichen, mit Nachsicht und Verständnis behandelt. Es wird in jedem Fall für unmoralisch gehalten, sie zu verfolgen, solange sie anderen keinen Schaden zufügen. So hat der leitende Ausschuss des amerikanischen Kirchenrates jetzt offiziell verlangt, solche Verfolgungen einzustellen. Gleichzeitig unterstützt der Ausschuss die Gewährleistung gleicher Rechte für alle Bürger, ungeachtet ihrer emotionalen oder sexuellen Neigungen.


Andere Kulturen im Vergleich


Wie in unserer westlichen Zivilisation beeinflussten auch in anderen Kulturen religiöse Anschauungen die Einstellung der Menschen in sexuellen Fragen. Diese Einstellungen konnten von völliger sexueller Freiheit bis zu strikter Askese reichen. Einige asiatische Religionen teilen so bestimmte negative westliche Einstellungen zur Sexualität. Ganz allgemein kann man jedoch sagen, dass die nicht-westliche religiöse Tradition immer eine größere Vielfalt sexuellen Ausdrucks zugelassen hat. So ist in Afrika und Asien die Verurteilung von sexuell Abweichenden selten auch nur annähernd so fanatisch gewesen wie in Europa und Amerika. Da die eigentlichen Ziele des vorliegenden Buches eine umfassende und eingehende Betrachtung nicht zulassen, sollen hier lediglich einige ausgewählte Beispiele nicht-abendländischer Religionen dargestellt werden.

 


Die Sinnesfreuden des Paradieses
(Türkische Miniatur des 14. Jahrhunderts)

Der Islam hat von seinen Gläubigen niemals die Unterdrückung sexueller Bedürfnisse gefordert. So sind eine Reihe von Dokumenten der islamischen Literatur ausgesprochen erotisch. Das hier gezeigte Bild stellt das glückliche Leben nach dem Tode dar, das die Gerechten erwartet, die dann in schattigen Gärten sitzen und von himmlischen schönen Mädchen (Huris) bedient werden.




Der Islam


Der Islam, dessen Ursprung ins frühe 7. Jahrhundert nach Christus zurückreicht, ist die jüngste der großen Weltreligionen. Ihr Begründer Mohammed wurde stark von jüdischen und in geringem Ausmaß von christlichen Glaubensauffassungen beeinflusst. Daraus folgt, dass der Koran - die Heilige Schrift des Islam - viele moralische Ansichten wiedergibt, die denen der jüdisch-christlichen Tradition ähnlich sind. Neben dem Koran anerkennen die Moslems die moralische Autorität der Sharia, einem Gesetzestext, der nach dem Tode Mohammeds entstand. (Die Funktion der Sharia entspricht etwa der des Talmud im Judentum.)


Der Islam ist keine asketische Religion; zeitlich begrenzte Ehen (mut'ah-Ehen), einige Formen der Polygamie und rasche Scheidungen sind zugelassen. Es gibt keine Lehre über die Erbsünde oder über die „Fleischeslust", wenngleich bestimmte Handlungen als sündig gelten. Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbruch waren deshalb in den meisten moslemischen Ländern, die ein Bevölkerungswachstum wünschten, verboten. Darüber hinaus wurden aufgrund historischer und kultureller Traditionen (besonders in Arabien und Nordafrika) Ehebruch und vorehelicher Geschlechtsverkehr moslemischer Frauen oft schwer bestraft. Andererseits ist aber die moslemische Einstellung sexuellen Abweichungen gegenüber verhältnismäßig nachsichtig. Die biblische Geschichte von Sodom und Gomorrha wird im Koran wiederholt, und sie scheint besonders homosexuelles Verhalten zu verbieten (Koran XXVII165-166, XXVII 54-58, XXIX 28-29, LIV 37-38). Moslems haben deshalb zu bestimmten Zeiten (und in bestimmten Gegenden) sogar gefordert, homosexuelle Vergehen mit dem Tode zu bestrafen. Solche Verurteilungen waren jedoch insgesamt sehr selten. Eigentlich haben die meisten islamischen Gesellschaften homosexuelle und ambisexuelle Handlungen praktisch toleriert. Wo Gesetze gegen die Homosexualität in Kraft waren, hatten sie nur selten Konsequenzen, da nach dem Willen Mohammeds zumindest zwei Zeugen für einen Schuldspruch notwendig waren. Es scheint daher, dass einvernehmliche Sexualität, solange sie verborgen blieb, wenig Einschränkungen unterworfen war. Insgesamt weist die Religion des Islam in bezug auf die Sexualität eine realistische und relativ liberale Einstellung auf, die einen erheblichen Spielraum für menschlichen sexuellen Ausdruck zulässt.


Der Hinduismus


Der Hinduismus, eine der ältesten noch existierenden Religionen der Welt, hat keinen historischen Religionsgründer. Von den frühen Lehren, die ungefähr 1000 Jahre vor Christus in vier heiligen Büchern, den Veden, festgelegt wurden, wird angenommen, dass sie weisen Männern offenbart wurden, die an den Ufern des Ganges und Indus lebten. Das Wort „Hindu" wird von der persischen Bezeichnung für den Fluss Indus abgeleitet. Eine Reihe heiliger Bücher wurde im Laufe der Jahrhunderte hinzugefügt: die Upanishaden, die Manu-Gesetze, die Bhagavadgita und Heldengedichte wie die Mahabharata und die Ramayana.


Diese Bücher unterscheiden sich erheblich in Inhalt, Stil und Zielsetzung, wenngleich sie alle in der einen oder anderen Form die zentrale Annahme des Hinduismus wiedergeben - den Glauben an ein höheres Wesen, an einen höchsten Geist oder eine Weltseele, mit der sich schließlich alle Seelen vereinen müssen. Da dieses Ziel innerhalb eines Lebens nicht erreicht werden kann, sind Reinkarnation und Seelenwanderung notwendig. Und die Taten eines Menschen in dem einen Leben entscheiden über seinen Status im nächsten Leben. Aber selbst das niedrigste Wesen hat eine Seele und verdient es daher, verehrt zu werden.

 


Lingam und Yoni
(Indisches Gemälde des 18. Jahrhunderts)

Für die Inder hatte Geschlechtsverkehr oft eine religiöse Bedeutung. Man kann daher in vielen Hindutempeln ausgesprochen erotische Darstellungen finden. Auch eher nüchtern ausgestattete Tempel zeigten meist das hier dargestellte Symbol. Es handelt sich dabei um das Lingam (das männliche Geschlechtsorgan) in der Yoni (dem weiblichen Geschlechtsorgan), als Symbol einer zweigeschlechtlichen Gottheit. Auf diesem Bild sind außerdem verschiedene Opfergaben und ein zerbrochener Ehrenschirm abgebildet.

 


Tantra-Darstellung
(Gemälde des 18. Jahrhunderts aus Radschasthan)

Die Einstellung der Menschen in Asien zur Sexualität war lange Zeit eher positiv und tolerant. In vielen Gegenden Asiens hatte die Darstellung offen erotischer Bilder auch eine religiöse Bedeutung, Eine Vermischung sexueller und geistig-religiöser Elemente fand in der Bewegung des Tantraismus statt, den man sowohl im Buddhismus als auch im Hinduismus finden kann.
 

 


Praktisch bedeutet dies, dass einerseits im Hinduismus die Askese der heiligen Männer und anderer frommer Menschen, die alle körperlichen Freuden und Bequemlichkeiten als Hindernis für die mögliche Vereinigung mit einem höheren vollkommenen Wesen betrachten, eine große Rolle spielt. Andererseits gab es aber auch Religionsbewegungen im Hinduismus, die sexuelle Lust in all ihren Formen zelebrierten und darin einen Schritt zum Göttlichen sahen. Viele berühmte Kunstwerke mit eindeutig sexuellem Inhalt sind Beweis dieser Anschauung. Selbst eines der bekanntesten frühen Büchern über Sexualität, das „Kamasutra" (das zwischen dem 1. und 6. Jahrhundert nach Christus geschrieben wurde), betrachtet den Geschlechtsverkehr als geistige Erbauung und damit als legitimen Ausdruck der hinduistischen Kultur. Zeitweilig waren auch Polygamie und „geheiligte Prostitution" in den Tempeln Bestandteil dieser Kultur. Der Kult des „Lingam", einer künstlerischen Darstellung des Penis, wurde bis heute beibehalten. Wir wissen, dass in Indien die Ablehnung und tatsächliche Verurteilung sexuell abweichender Menschen nie beständig oder schwerwiegend waren. Ausnahmen waren Ehebruch und Vergewaltigung. Homosexuelle Handlungen wurden ebenfalls allgemein abgelehnt, obwohl es vielerorts erlaubt war, dass Gruppen von homosexuellen Prostituierten öffentlich ihrem Gewerbe nachgingen.


Unter diesen Umständen ist es schwierig, den Einfluss des Hinduismus auf sexuelle Einstellungen abzuschätzen. Im Laufe seiner langen Geschichte haben viele unterschiedliche und oft einander widersprechende Philosophien verschiedene Epochen der hinduistischen Kultur beeinflusst. Alles in allem scheinen sich die Hindus jedoch eine positive Einstellung zur Sexualität erhalten zu haben, positiver als die Menschen in den meisten anderen Weltreligionen.


Der Buddhismus


Die Grundlagen des Buddhismus wurden im 6. Jahrhundert vor Christus in Nepal von Siddharta Gautama gelegt, den man später Buddha („der Erleuchtete") nannte, Gautama war überzeugt, Leid werde vom Begehren des Menschen verursacht, der Mensch müsse sich also selbst von diesem Begehren (einschließlich des sexuellen Begehrens) befreien. Das sollte durch rechtschaffenes, liebevolles und intensives geistiges Leben geschehen. Ein „erhabener achtfacher Pfad" des rechten Glaubens, rechten Strebens, rechter Sprache, rechter Handlung, rechten Lebensunterhaltes, rechter Leistung, rechter Gedanken und rechter Meditation würde ins „Nirwana'', das heißt zum höchsten Geisteszustand der vollkommenen Einsicht und zum Frieden ohne Leidenschaft führen.


Während sich die Auffassungen Gautamas über ganz Ostasien ausbreiteten, teilten sich seine Anhänger in zwei Hauptgruppen, von denen die eine, die Hinayana („kleines Gefährt"), einfache und anspruchsvolle Regeln der Disziplin einhielt; die andere Gruppe, die Mahayana („größeres Gefährt"), erweiterte seine Lehren beträchtlich, indem sie verschiedene örtliche Religionen mit einbezog und ausführlichere Lehren über Himmel, Hölle und Seelenheil entwickelte. Innerhalb der zwei Hauptgruppen gibt es zahlreiche Untergruppen und Sekten. Die ursprünglichen Lehren Gautamas waren im eigentlichen Sinne nicht religiös, da sie nichts über ein höheres Wesen oder Gott aussagten. Er zeigte nur einen Weg zur Erleuchtung durch angemessene Lebensführung. Selbsterkenntnis, Disziplin und Güte führten nach und nach zur Befreiung von Begierde und endlich zur vollkommenen Ruhe des Nirwana. Erst nach dem Tod Gautamas wandten sich verschiedene Religionen und Mythologien seiner Lehre zu. Dieser Prozess wiederum brachte verschiedene Religionsbewegungen und Gruppen hervor, die mit der Kirche des Abendlandes verglichen werden können. Es gab jedoch nie eine besondere Lehre über die Sexualität. Die Einstellung der Buddhisten zur Sexualität änderte sich je nach Kultur und Bräuchen. Im allgemeinen war sie positiv praktisch und human. Sexuelle Handlungen unter mündigen Partnern wurden als Privatsache betrachtet. Die Verurteilung sexuell abweichender Menschen war in den Ländern Asiens niemals verbreitet. Masturbation, nichtkoitaler heterosexueller Geschlechtsverkehr und homosexuelles Verhalten mögen zeitweise belacht oder missbilligt worden sein, haben aber die Öffentlichkeit nie beunruhigt. Prostitution wurde vielfach öffentlich ausgeübt. In manchen Fällen sah man sie als sinnvolle Einrichtung an oder sogar als angesehenen Beruf. Bevor sie in den Einfluss der abendländischen Sexualmoral gerieten, waren die buddhistischen Gesellschaften Ostasiens in sexuellen Dingen sehr tolerant. Einiges von dieser Toleranz ist in diesen Ländern bis heute erhalten geblieben.


Indianische Religionen in Amerika


Die Ureinwohner Amerikas hatten außerordentlich unterschiedliche religiöse Glaubensauffassungen. Sie unterschieden sich auch in ihrer Einstellung zur Sexualität. Die alten Hochkulturen Süd- und Zentralamerikas hatten selbstverständlich mit den einfacheren Kulturen Nordamerikas nur wenig gemeinsam, wenngleich die europäischen Eroberer sie alle fälschlicherweise als „Indianer" bezeichneten. Dennoch ist es möglich, eine zumindest allgemeine Übersicht der eingeborenen Religionen Amerikas und deren Ansicht über die Sexualität des Menschen wiederzugeben.


Die meisten amerikanischen Indianer glaubten an verschiedene höhere und niedere Göttinnen und Götter, in manchen Fällen an ambisexuelle oder hermaphroditische Gottheiten. Einige Indianer beteten ein männliches Höheres Wesen an, andere eine große Mutter Erde oder andere weibliche Gestalten. Bei denen, die sich von der Landwirtschaft ernährten, waren Fruchtbarkeitsriten gebräuchlich, die jedoch kaum sexuellen Charakter trugen. Sexualität spielte jedoch bei einigen anderen Zeremonien eine Rolle. Die peruanischen Indianer begruben ihre Toten oft zusammen mit eindeutig sexuellen Tonfiguren und Keramiken, die fast alle möglichen Formen des Geschlechtsverkehrs darstellten. Auch scheint es eine Art institutionalisierter, „geheiligter" Homosexualität gegeben zu haben. (Andererseits scheint homosexuelles Verhalten jedoch in einigen zentralamerikanischen Kulturen, zumindest bei den unteren sozialen Schichten, scharf verurteilt worden zu sein.) Während die meisten amerikanischen Indianer bestimmte strenge Tabus gegenüber Inzest und Geschlechtsverkehr mit menstruierenden Frauen einhielten, gab es keine religiöse Forderung nach Enthaltsamkeit. Vorübergehende sexuelle Abstinenz wurde jedoch zu bestimmten Gelegenheiten gefordert. Sexuelle Spiele von Kindern wurden mit Toleranz betrachtet. Da Ehen schon in jungen Jahren geschlossen wurden, litten auch die Jugendlichen wenig unter sexueller Frustration. Unverheirateten Männern wurden oft sexuelle Privilegien gegenüber Frauen ihrer Brüder oder männlicher Verwandter zugestanden. Einem verheirateten männlichen Gast der Familie wurden vom Gastgeber manchmal ähnliche Privilegien eingeräumt. Sexuell abweichendes Verhalten wurde als die Offenbarung der besonderen „Natur" oder „Berufung" eines Menschen respektiert. Ein Junge, der feminines Verhalten zeigte, wurde zum Beispiel nicht „korrigiert", sondern man gestattete ihm, wie eine Frau zu leben und sogar „Ehefrau" eines anderen Mannes zu werden. Daher hatten Transsexuelle und Hermaphroditen nur selten soziale Probleme. Im wesentlichen waren alle Indianerkulturen Amerikas also in sexuellen Angelegenheiten ausgesprochen großzügig. Sexuelle Freuden waren ein notwendiger Bestandteil des Lebens, jeder hatte darauf ein Recht.

 


Die Wiederbekräftigung des Lebens
(Skulptur der Mochica)

In verschiedenen Kulturen amerikanischer Indianer blühte die erotische Kunst. Die hier abgebildeten Tonfiguren stammen aus Peru. Solche erotisch eindeutigen Keramiken wurden oftmals als Grabbeigaben verwandt, sie dienten als Abschiedsgeschenk, aber auch als Symbol der Wiederbekräftigung des Lebens.

 




Alte polynesische Religionen


Bis zur Berührung mit der abendländischen Zivilisation gehörten die Inselbewohner Polynesiens zu den sexuell freiesten Menschen der Welt. Während verschiedene polynesische Kulturen unterschiedliche religiöse Lebensanschauungen und soziale Bräuche entwickelten, betrachtete keine jemals die Sexualität als schlecht, beschämend oder schmutzig. Im Gegenteil, ihre Götter, Göttinnen und Priester selbst waren Muster sexueller Kraft. Sinnliche Lust und körperliche Schönheit wurden sehr hoch bewertet, Tanzen, Singen sportliche Wettkämpfe, Schönheitswettbewerbe und sexuelle Darbietungen waren regelmäßiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens der Polynesier. Auf Tahiti gab es sogar einen besonderen religiösen Orden, die Arioi-Gesellschaft, deren Mitglieder von Insel zu Insel reisten und die Öffentlichkeit mit rituellen sexuellen Aufführungen unterhielten.

 


Zweigeschlechtliche Ahnenfigur
(Bemalte Skulptur aus Melanesien)

Viele der sexuell ungehemmten pazifischen Inselbewohner drückten ihre Verehrung für die allumfassende Lebenskraft durch die Schaffung von Ahnenfiguren aus, die männliche und weibliche Geschlechtsmerkmale aufweisen.

 

 

Polynesische Kinder wurden von klein auf zu sexuellen Handlungen angehalten. Es war ihnen normalerweise auch freigestellt, sexuelle Handlungen Erwachsener zu Hause oder bei öffentlichen Festen zu beobachten. (Sexueller Kontakt zwischen kleinen Kindern und Erwachsenen wurde allerdings abgelehnt, schien jedoch nur selten vorzukommen.) Besondere Riten für die Pubertierenden gab es nicht, aber es war den Jugendlichen erlaubt, mehrere sorglose und sexuell aktive Jahre in einer Gruppe mit anderen Jugendlichen zu verbringen, die die Gemeinschaft mit musikalischer, sportlicher und sexueller Unterhaltung versorgten. Voreheliche Schwangerschaften wurden als Zeichen der Fruchtbarkeit begrüßt und erhöhten die Chance eines Mädchens, einen Ehemann zu finden. Da die polynesische Großfamilie ein zusätzliches Kind leicht aufnehmen konnte, entstand die Frage der „Unehelichkeit" erst gar nicht. Ehen waren meist monogam. (Nur einige Stammesoberhäupter hatten mehrere Frauen.) Bei gegenseitigem Einverständnis konnte eine Ehe jedoch leicht aufgehoben werden, eine Wiederverheiratung war genauso einfach. Man muss allerdings verstehen, dass die polynesische Ehe nicht wirklich monogam war, da die Ehefrauen oft den männlichen Verwandten, Freunden und Hausgästen des Ehemanns sexuelle Privilegien zugestanden.


Angesichts der allgemein toleranten Einstellung der Polynesier in sexuellen Fragen überrascht es nicht, dass auch homosexuelle und ambisexuelle Handlungen bei ihnen ganz offen ausgeübt werden konnten und als natürlich angesehen wurden. Transsexuelle konnten ihren Neigungen entsprechend leben, daher nahmen einige Männer Frauenrollen an. Unter diesen Umständen ist es wohl fraglich, ob die Bezeichnung „sexuell abweichendes Verhalten" im Hinblick auf die Polynesier überhaupt einen Sinn ergibt. Es gab natürlich gewisse sexuelle Tabus. (Das Wort „Tabu" selbst ist polynesischen Ursprungs.) Sie hatten indes eher mit gesellschaftlichen Schranken und Fragen des Ranges zu tun als mit der sexuellen Handlung selbst. Bei der Wahl der Ehepartner gab es feste Regeln, aber sie verhinderten kaum eine sexuelle Erfüllung. Verschiedene Tabus gegen den Inzest sind in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwähnen, obwohlauch hier Ausnahmen existieren: Auf Hawai und Rarotonga heirateten die Brüder und Schwestern der königlichen Familien untereinander. (Offensichtlich hatte dieser Brauch keine negativen Folgen.) Man kann daher zusammenfassend sagen, dass die alten polynesischen Kulturen wohl der beste Beweis dafür sind, dass eine realistische, positive und humane Einstellung zur Sexualität möglich ist und sozial produktiv sein kann.


 

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