Gesund - Krank

10.3 Gesund - Krank


Wo die Verletzung sexueller Normen als medizinisches oder psychiatrisches Problem definiert wird, erscheinen sexuelle Anpassung und sexuelle Abweichung als geistige Gesundheit oder geistige Krankheit. Angepasstes Sexualverhalten wird als „reif", „produktiv" und „gesund" bezeichnet; abweichendes Sexualverhalten gilt als „unreif", „destruktiv" und „krankhaft".


Dies ist historisch gesehen eine relativ neue Betrachtungsweise. Ihre Ursprünge liegen im Zeitalter der Aufklärung, und ihre ersten Verfechter waren hauptsächlich daran interessiert, Menschen mit abweichendem Verhalten eine bessere Behandlung zu gewährleisten. Bis zu diesem Zeitpunkt waren sexuell Abweichende als Ketzer oder Verbrecher betrachtet und daher gehasst, verbannt, gefoltert oder bedenkenlos ermordet worden. Schließlich zweifelte niemand daran, dass ihr Verhalten einem bösen Vorsatz entsprang. Die Behauptung, dass sie in Wirklichkeit Patienten seien, machte aus ihrem abweichenden Verhalten plötzlich eine Krankheit, für die sie keine Verantwortung trugen. Statt einer Bestrafung hielt man nun eine Therapie für erforderlich.

 


Normal - Abnorm?


Dieses alte griechische Vasenbild stammt aus dem 6. Jahrhundert vor Christus, zu Beginn des „Goldenen Zeitalters" in Griechenland. Fünf Personen üben hier Formen des Geschlechtsverkehrs aus, die in späteren Zeiten von christlichen Theologen und von Psychiatern als „abnorm" oder „pervers" bezeichnet wurden. Die beiden Männer links beginnen gerade mit Analverkehr, der Mann in der Mitte führt gerade einen doppelten „olisbos" (einen künstlichen Penis oder „Dildo") in die Vagina der Frau ein, die Frau und der Mann rechts haben Oralverkehr. Was immer spätere Betrachter von dieser Szene denken mögen, aus dem historischen Zusammenhang ist deutlich, dass sie keinen „moralischen Verfall" und keine „Dekadenz" ausdrückt.

 


Es besteht kein Zweifel, dass diese „aufgeklärten" Ärzte überlegter und mitfühlender vorgingen als die Inquisitoren und Kerkermeister - zumindest zu Beginn. Statt sexuell deviante Menschen dem Scheiterhaufen oder dem Rad zu überantworten, verschrieben sie ihnen Diäten, frische Luft, kalte Bäder und mäßige Gymnastik. Statt dunkler schmutziger Kerker sorgten sie für saubere Krankenhäuser. Darüber hinaus entwickelte sich alsbald ein besonderer Bereich in der Medizin, der sich ausschließlich abweichendem Verhalten widmete: „Seelen-Heilkunde" oder „Psychiatrie". Im Vergleich zu früher schien sich damit die Situation der Menschen mit abweichendem Verhalten erheblich verbessert zu haben.


Es wurde indes im Laufe der Jahre deutlich, dass eine derartige medizinische Deutung abweichenden Verhaltens auch ihre Nachteile hatte. So wurden unter dem wachsenden Einfluss der Psychiatrie wesentlich mehr Menschen als sexuelle „Psychopathen" bezeichnet, als es jemals sexuelle Ketzer oder Verbrecher gegeben hatte. Die Psychiater behandelten nicht nur Fälle von „So-domie", „Bestialität", Vergewaltigung und Inzest, sondern auch viele andere Arten abweichenden Verhaltens, die von der Inquisition und den Gerichtshöfen niemals beachtet worden waren. Menschen, die ihre sexuellen Partner häufig wechselten, bezeichnete man nun als von „Promiskuität" befallen; Frauen, die Freude am Geschlechtsverkehr hatten, wurden der , ,Nymphoma-nie" bezichtigt; Kinder und Jugendliche, die sich „selbst befleckten", mussten vor dem „Masturbationswahnsinn" gerettet werden; Menschen, die sich zu Partnern des eigenen Geschlechts hingezogen fühlten, litten - selbst wenn sie sich niemals diesen Gefühlen entsprechend verhalten hatten - an einem krankhaften Zustand, den man „Homosexualität" nannte. Alle Menschen, die den sexuellen Konventionen nicht entsprachen, wurden zu Anwärtern auf psychiatrische Behandlung, und es war ihre moralische Pflicht, sich dieser Behandlung zu unterziehen, um „gesund" zu werden. Sie waren zwar für ihr sexuelles Verhalten nicht mehr selbst verantwortlich, hatten jedoch die


Pflicht, mit ihren Psychiatern bei einer „Korrektur" zusammenzuarbeiten. Wenn sie sich dem widersetzten > zwang man sie, sich „zu ihrem eigenen Besten" behandeln zu lassen.


Mit dem Katalog sexueller Krankheiten wuchs auch das therapeutische Arsenal. Im 18. Jahrhundert wurden zum Beispiel masturbierende Menschen in der Regel mit moralischer Ermahnung, niedriger Raumtemperatur und ständiger Überwachung „behandelt". Später - mit der Vervollkommnung chirurgischer Techniken - wurden sie beschnitten oder infibuliert. Im 19. Jahrhundert wurden ihre Geschlechtsorgane verätzt oder verbrüht, die Nerven des Penis durchtrennt oder die Klitoris herausgeschnitten. Letztere Operation wurde auch bei „übertrieben" orgasmusfreudigen und „nymphomanen" Frauen angewandt. Die Entwicklung noch feinerer Operationstechniken erlaubte es später, Hoden oder Eierstöcke zu entfernen. Die Behandlung der Masturbation wurde schließlich so drastisch, dass sie immer mehr den mittelalterlichen Foltermethoden zu ähneln begann, die sie eigentlich hatte ersetzen sollen. Einst fortschrittliche Mediziner wurden so zu Gehilfen sexueller Unterdrückung.


Heute lassen uns solche Grausamkeiten schaudern und wir tun sie vielleicht vorschnell als Verirrungen oder Horrorgeschichten aus der medizinischen Steinzeit ab. Wir teilen heute ja tatsächlich nicht mehr den Glauben an Masturbationswahnsinn und wissen, dass selbst „exzessives" Masturbieren nicht gesundheitsschädlich ist. Manche Psychiater empfehlen Masturbation sogar zur Behandlung sexueller Funktionsstörungen. Wenn wir aber etwas weiter in die Vergangenheit blicken, stellen wir fest, dass das Problem sehr vielschichtig ist. Wir können dann feststellen, dass schon im antiken Rom Ärzte die Masturbation als Therapie empfahlen und dass selbst die islamischen Ärzte des Mittelalters diese Ansicht teilten. Das heißt, dass der medizinische Kreuzzug gegen die Masturbation eine durchaus moderne Erscheinung war, die sich ausschließlich auf die westliche Welt beschränkte.


Ähnliche Beobachtungen sind in bezug auf homosexuelles Verhalten zu machen. Wir wissen, dass dieses Verhalten im alten Griechenland und im antiken Rom als gesund und moralisch betrachtet wurde und dass die spätere Verurteilung ihre Ursachen vor allem in der jüdisch-christlichen religiösen Tradition hat. Es ist jedoch kaum bekannt, dass es gelegentlich selbst im christlichen Europa im Rahmen medizinischer Behandlungen akzeptiert wurde. Als Wilhelm von Oranien, der spätere König Wilhelm III. von England, im 17. Jahrhundert an Pocken erkrankte, schlugen seine Ärzte ihm vor, mit einem seiner Pagen zu schlafen, um so „animalische Geister" von dem jungen, gesunden Körper aufzunehmen. Da man wusste, dass der Patient gerne mit seinen Pagen schlief, konnte die Anweisung leicht befolgt werden. Natürlich wurde der junge Mann von seinem Herrn angesteckt, aber schließlich wurden beide wieder gesund. Wilhelm vergaß nicht, seine Dankbarkeit zu zeigen, und machte den Pagen später zum Herzog von Portland. Weniger als 200 Jahre später wurde die Homosexualität zur Geisteskrankheit erklärt, und man begann, homosexuelle Menschen von Psychiatern behandeln zu lassen. Selbstverständlich mussten die Patienten, um geheilt zu werden, jeder weiteren homosexuellen Handlung abschwören. Erst in unserem Jahrhundert haben „radikale" Psychiater erneut die „Krankheitstheorie" zurückgewiesen. Sie raten statt dessen Homosexuellen, sich durch eine Beteiligung an der „Schwulenbefreiung" und durch glückliche gleichgeschlechtliche Beziehungen von ihren eigenen psychischen Problemen zu befreien. So ist homosexueller Geschlechtsverkehr - weit davon entfernt, als krankhaft zu gelten - wieder zur therapeutischen Maßnahme geworden. Der Berufsverband der Psychiater der USA hat diesen Schritt inzwischen nachvollzogen, indem Homosexualität als solche aus dem Verzeichnis psychiatrischer Krankheiten gestrichen wurde.

Diese Beispiele zeigen, dass die Auffassung von sexueller Gesundheit und Krankheit im Laufe der Jahrhunderte erhebliche Veränderungen erfahren hat. Ein Verhalten, das zu einer Zeit als gesund betrachtet wurde, galt zu einer anderen als krankhaft; diejenigen, die solches Verhalten zeigten, mussten sich von der offiziellen Medizin einmal loben und einmal tadeln lassen. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die „Pathologie" sexueller Handlungen zu keiner Zeit mehr als eine Frage der Mode war und dass die Ärzte im Verlauf der Geschichte Sexualverhalten ausschließlich auf der Basis allgemeiner Vorurteile gebilligt oder verurteilt haben.


Ein so sarkastischer Standpunkt wäre freilich falsch. Natürlich kann die Medizin nicht außerhalb des allgemeinen Rahmens moralischer Normen arbeiten, sie kann aber in vielen Einzelfällen eigene Normen setzen und diese Normen der breiten Öffentlichkeit vermitteln. Das bedeutet, dass Ärzte zu bestimmten Zeiten der breiten Öffentlichkeit den Weg weisen können. Die Geschichte der Medizin weist viele solcher Fälle auf, und die Verwandlung sexueller Ketzer und Straftäter in Patienten ist vielleicht das treffendste Beispiel.


Dennoch kann auch der fortschrittlichste Arzt oder Psychiater, der sich mit sexuell abweichendem Verhalten befasst, es nicht vermeiden, über die Rolle der Sexualität im Leben des Menschen Werturteile zu fällen. Dabei können diese erheblich von denen der öffentlichen Moral abweichen, sie werden jedoch seine Handlungen entscheidend beeinflussen. Das trifft auch dann zu, wenn er sich entschließt, überhaupt nicht zu handeln. Darüber hinaus beinhaltet jede ärztliche oder psychiatrische „Behandlung" bestimmte grundlegende, manchmal sogar unbewusste Voraussetzungen und Annahmen. Solche Annahmen beziehen sich vor allem auf die Kriterien für Gesundheit und Krankheit, auf die Wahl von Modellen der Krankheitsentstehung, die Wahl der Therapieform, die Möglichkeit und Dringlichkeit einer Heilung.


Dieses ganze Spektrum von Annahmen ist es, das untersucht werden muss, wenn man den medizinischen oder psychiatrischen Ansatz gegenüber abweichendem Sexualverhalten beurteilen will. Eine solche kritische Beurteilung ist für Arzt und Patienten gleichermaßen wichtig. Wenn beide bemüht sind, Vorurteile beiseite zu lassen, können sie in vielen Fällen entdecken, dass ein bestimmtes Problem keine medizinischen Ursachen hat und daher auch keiner ärztlichen Behandlung bedarf. Sie können aber auch zu der Erkenntnis kommen, dass in bestimmten schwierigen Lebenssituationen Medizin und Psychiatrie oft neue Perspektiven bieten.


In den folgenden Abschnitten wird beschrieben, wie bestimmte medizinische und psychiatrische Auffassungen über abweichendes Sexualverhalten entstanden sind, wie sie sich in Europa und Nordamerika entwickelt haben und inwieweit diese Auffassungen heute in anderen Ländern akzeptiert werden.


 

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