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10.3.2 Das medizinische Modell sexueller Abweichung
Wie
wir bereits festgestellt haben, hört eine Gesellschaft immer dann
auf, sexuell deviante Menschen als harmlose Individualisten zu
behandeln, wenn sie sich ernsthaft Sorgen um sexuelle Konformität
zu machen beginnt. Menschen mit abweichendem sexuellem Verhalten werden
dann als sündig, kriminell oder krank eingestuft. Mit anderen
Worten, wo abweichendes Sexualverhalten zur sozialen Frage wird, wird
es entweder als religiöses, als juristisches oder als
medizinisches Problem diskutiert.
In zwei vorangegangenen
Kapiteln wurde bereits beschrieben, wie religiöse und juristische
Bezugssysteme die Vorstellungen derer beeinflussen, die sich ihrer
bedienen. Wir haben auch gesehen, dass in jüngerer Zeit dieser
traditionelle Zugang zum Problem zunehmend ersetzt oder ergänzt
wurde durch medizinische oder psychiatrische Ansätze. Die
folgenden Seiten sollen diese Entwicklung weiter erläutern und
einige ihrer Konsequenzen verdeutlichen.
Die Funktion von Erklärungsmodellen
Wenn
Menschen mit Unbekanntem oder Unerwartetem konfrontiert werden,
versuchen sie in der Regel, es zumindest teilweise zu begreifen, indem
sie es mit Bekanntem vergleichen. Ein Mann, der an den Funktionen des
Gehirns herumrätselt, wird sie beispielsweise mit denen eines
Computers vergleichen, um sie besser zu verstehen. Indem er diese
Analogie herstellt, behauptet er natürlich nicht, das Gehirn sei
tatsächlich ein Computer, der aus elektronischen Schaltungen,
Speicherplatten, Drucker usw. besteht. Er benutzt den Computer vielmehr
als Modell oder als Mittel des Vergleichs. Er entschließt sich
also, das Gehirn so zu behandeln, als ob es ein Computer sei. Er kann
so besser begreifen, wie es funktioniert.
Ebenso kann
jemand, der merkwürdigem menschlichem Verhalten begegnet,
versuchen, es zu verstehen, indem er sich ein begriffliches Modell oder
ein Bezugssystem schafft, in das er seine verwirrenden Beobachtungen
einordnen kann. Er kann zum Beispiel „wahnsinniges" Verhalten auf
dämonische Besessenheit zurückführen oder es als Strafe
Gottes für ein sündiges Leben betrachten. Er entscheidet sich
also, Wahnsinn so zu beurteilen, als ob er übernatürliche
Ursachen habe. Er stellt dann fest, dass infolge dieser Annahme bis
dahin unbegreifliche Handlungen eines Wahnsinnigen plötzlich einen
Sinn ergeben und erklärbar werden. Zu dieser sonst unerreichbaren
Einsicht kommt er, indem er ein religiöses Erklärungsmodell
des Wahnsinns benutzt.
Ein anderer Beobachter glaubt indes
vielleicht nicht an Götter und Dämonen, und nimmt statt
dessen an, Wahnsinnige seien einfach Opfer unglücklicher
persönlicher Erlebnisse, die sie im Laufe ihres Lebens „um den
Verstand gebracht" hätten. Dieser Beobachter entscheidet sich,
Wahnsinn als erlerntes Verhalten aufzufassen. Er betrachtet ihn unter
Verwendung eines lern theoretischen Erklärungsmodells.
Ein
dritter Beobachter mag beide Modelle ablehnen und eher davon ausgehen,
wahnsinniges Verhalten entstehe durch einen Mangel von Gesundheit,
Deshalb betrachtet er Wahnsinn als Krankheit. Er benutzt also ein
medizinisches Erklärungsmodell.
Natürlich gibt es
eine ganze Reihe weiterer Erklärungsmodelle des Wahnsinns, und auf
einige werden wir später noch zurückkommen. Selbst die hier
aufgeführten drei Modelle können anhand bestimmter
Unterschiede in verschiedene untergeordnete Erklärungsmodelle
eingeteilt werden. Zum Beispiel können Christen, Hindus,
Buddhisten und polytheistische „Naturvölker" unterschiedliche
religiöse Erklärungsmodelle des Wahnsinns haben, selbst wenn
sie alle daran glauben, dass er einen übernatürlichen
Ursprung hat. Daher können verschiedene moderne Wissenschaftler
auch unterschiedliche lerntheoretische Modelle zur Erklärung von
Wahnsinn verwenden, von der psychoanalytischen Theorie bis zur
operanten Konditionierung. Darüber hinaus haben Ärzte im
Verlaufe der Geschichte zumindest zwei medizinische Konzepte für
Wahnsinn entwickelt je nachdem, ob sie nach körperlichen oder
psychischen Ursachen forschten. Entsprechend schrieben sie Wahnsinn
einmal körperlichen und ein anderes Mal geistigen Ursachen zu.
Menschen
wählen ein bestimmtes Erklärungsmodell, das ihrer eigenen
vorgefassten Meinung, ihren Bedürfnissen und Zwecken entspricht,
und sie benutzten es gewöhnlich, solange es ihnen als
einleuchtende Erklärung ausreicht. Es ist allerdings nicht
ungewöhnlich, dass ein Phänomen bei näherer Betrachtung
so viele neue Fragen aufwirft, dass das bis dahin akzeptierte
Erklärungsmodell nicht mehr passt und ersetzt werden muss. Wenn
zum Beispiel Menschen nicht mehr an übernatürliche
Kräfte glauben und sie entdecken, dass Formen „wahnsinnigen"
Verhaltens auf eine Gehirnschädigung zurückzuführen
sind, verwerfen sie das religiöse Erklärungsmodell zugunsten
eines medizinischen.
Hier sollte jedoch angemerkt werden, dass
der Ersatz eines Modells durch ein anderes nicht seinen
ursprünglichen Zweck ändert, sondern vielmehr das
Grundprinzip aller Modellbildungen bestätigt.
Erklärungsmodelle sind unentbehrlich, aber sie sind nie mehr als
vorübergehende Festlegungen. Sie sollen Fremdes vertraut machen,
sollen Sinnlosem einen Sinn geben. Sobald sie diese Funktion nicht mehr
erfüllen, haben sie sich überlebt, und wir müssen uns
nach einem anderen, umfassenderen oder präziseren Modell umsehen,
das zu besseren Erklärungen führt. Man kann dies auch so
zusammenfassen, dass Modelle immer nur „auf Probe" entwickelt werden.
Modelle
werden auch entwickelt, um sie mit anderen Modellen zu vergleichen. Ein
Modell bringt immer bestimmte Konzepte, Ideen, Theorien und Standpunkte
in einen solchen Zusammenhang, dass Vergleiche mit anderen Konzepten,
Ideen, Theorien und Standpunkten möglich werden. So drücken
beispielsweise das religiöse und das medizinische Modell des
Wahnsinns aus, wodurch er verursacht wird, was man dagegen tun kann,
wer das tun kann und in welchem Maße der Wahnsinnige für
seinen Zustand verantwortlich ist:
• Nach dem
religiösen Modell wird Wahnsinn durch böse Geister verursacht
und ist daher durch Exorzismus zu bekämpfen. Der Exorzismus sollte
von einem Priester oder einer anderen religiösen Autorität
durchgeführt werden. Der Wahnsinnige ist wahrscheinlich für
seinen Zustand verantwortlich, weil er Gott missfallen hat. Sobald er
allerdings Reue empfindet und der böse Geist ihn verlassen hat,
ist er gerettet.
• Nach dem medizinischen Modell wird
Wahnsinn durch eine Krankheit verursacht und ist daher durch
medizinische Behandlung zu bekämpfen, Die Behandlung sollte von
einem Arzt durchgeführt werden. Der Wahnsinnige ist fast nie
für seinen Zustand verantwortlich, er hat nur „Pech gehabt".
Sobald er positiv auf Medikamente, Elektroschocks, Psychochirurgie usw.
reagiert, ist er geheilt.
Natürlich kann man diesen
Vergleich nach Belieben weiterführen, da beide Modelle auch in
vielen anderen Punkten übereinstimmen. Wo die Vertreter des
religiösen Erklärungsmodells von Dämonen, der
menschlichen Seele, göttlichen Geboten, Versuchung, Sünde,
Reue, Vergebung, Glauben und Erlösung sprechen, ist bei den
Verfechtern des medizinischen Erklärungsmodells von Bakterien,
Viren, Parasiten, der menschlichen Psyche, Hygienevorschriften,
Infektion, Verletzung, Trauma, Pathologie, Therapie, Gesundheit und
Rehabilitation die Rede.
Die Tatsache, dass sich dieser
Vergleich Punkt für Punkt weiterführen lässt, bedeutet
natürlich nicht, dass alle Modelle gleich sind oder dass es
gerechtfertigt wäre, jedes beliebige Modell zu wählen,
solange es nur konsistent ist. Wir erkennen im Gegenteil gerade beim
Vergleich verschiedener Modelle deren Stellenwert und spezifische
Bedeutung. Wir müssen auch daran denken, daß es in der
Geschichte viele Fälle gegeben hat, in denen eine bestimmte
Erklärung sich als die einzig „richtige" erwies. Damit waren dann
alle anderen Modelle widerlegt. Im Hinblick auf bestimmte Formen des
Wahnsinns zum Beispiel wurden vormals provisorische medizinische
Erklärungsansätze durch wissenschaftliche Entdeckungen
später so eindeutig bestätigt, dass sie ihren Modellcharakter
verloren und zu einer unbestrittenen Tatsache wurden. (Ein bekanntes
Beispiel hierfür ist wohl der Wahnsinn, der in der Folge von
Syphilis auftreten kann.) Es gab allerdings auch Fälle, in denen
ein medizinisches Erklärungsmodell für die Entstehung von
Wahnsinn nicht bestätigt werden konnte, sondern von der
Wissenschaft ausdrücklich verworfen wurde. (Ein bekanntes Beispiel
hierfür ist wohl der ehemals unbezweifelte Masturbationswahnsinn.)
Ein
eingehender Vergleich verschiedener Modelle kann uns auch helfen, jeden
Erklärungsansatz für sich zu verstehen und ihn von
Verfälschungen freizuhalten. Das bedeutet, indem wir die
Unterschiede zwischen verschiedenen Erklärungsansätzen
deutlich machen, können wir uns vor begrifflicher Verwirrung
schützen, wie sie in der Wissenschaft hier und da vorgekommen ist.
Modelle dürfen nicht miteinander vermischt werden. Sie können
keinesfalls sinnvoll angewandt werden, wenn sie nicht in sich logisch
sind. Ein Durcheinander unzusammenhängender Vermutungen oder ein
Mischmasch heterogener Modelle kann unmöglich zu sinnvollen
Einsichten führen.
So einfach und einleuchtend diese
Feststellung auch scheint, in der Praxis wird sie leider oft nur
unzureichend gewürdigt. Wiederum ist das Beispiel des
„Masturbationswahnsinns" wohl das einleuchtendste: Im 18. und 19.
Jahrhundert erklärten viele europäische und amerikanische
Ärzte, dass Masturbation das Gehirn erweiche und zu einem
geistigen Zusammenbruch führe. Manche versicherten, dass die
schädliche Gewohnheit die Folge angeborener körperlicher oder
geistiger Veranlagung sei. Damit wurde Masturbation zugleich als
Ursache und als Folge des Wahnsinns betrachtet. Wer masturbierte, war
auf alle Fälle krank, die Krankheit erforderte strenge
therapeutische Maßnahmen, wie Infibulation, Entfernung der
Klitoris und Kastration.
Die Vertreter dieser Ansicht
glaubten natürlich, sie hätten ein modernes,
„aufgeklärtes" medizinisches Erklärungsmodell geschaffen. Bei
genauer Betrachtung kann man jedoch feststellen, dass dieses Modell
eine ganze Reihe „unaufgeklärter" religiöser Elemente
enthielt. Schon allein die Wortwahl, der sich die Ärzte bei dem
angeblich medizinischen Problem bedienten („Onanismus",
„Selbstbefleckung" oder „einsames Laster"), waren entweder direkt der
Bibel entnommen oder trugen einen offensichtlich wertenden Charakter.
Die nutzlose und grausame „medizinische" Behandlung war darüber
hinaus ganz eindeutig viel eher als Bestrafung denn als Heilmethode
geeignet. Anders als richtige medizinische Patienten wurden
Masturbierende noch immer moralisch verurteilt und für ihren
Zustand selbst verantwortlich gemacht. Daher war das vermeintlich
medizinische Erklärungsmodell des „Masturbationswahnsinns" in
Wahrheit ein religiöses oder moralisches Modell in medizinischer
Verkleidung.
Diese Vermischung von Modellen ist jedoch
keineswegs eine Angelegenheit der Vergangenheit. Sie bleibt zu jeder
Zeit (oft unbewusst) eine mächtige Versuchung. Jedem Beobachter
der gegenwärtigen psychiatrischen Szene wird das offenbar. Heute
gehen an ein und derselben Klinik oft verschiedene Psychiater von sehr
unterschiedlichen Voraussetzungen aus. Sie behandeln daher die gleiche
„Krankheit" mit sehr unterschiedlichen „Behandlungsme-thodea", von der
Chirurgie, medikamentösen Therapie und Elektroschockbehandlung bis
zu Verhaltenstherapie, Gruppendiskussionen, Gruppentherapie und
Psychoanalyse. Außerdem ist es gar nicht ungewöhnlich, dass
Psychiater in der Beurteilung eines bestimmten Patienten zu ganz
unterschiedlichen Ergebnissen kommen, nicht nur bezogen auf die Art der
Erkrankung, sondern auch bezogen auf die Frage, ob der Patient
überhaupt als krank zu bezeichnen ist. Dies führt
natürlich oft zu Verwirrungen, nicht nur in der breiten
Öffentlichkeit, sondern auch unter den Psychiatern selbst. Einige
verzweifelte Psychiater fordern deshalb heute eine radikale Abkehr von
der Tradition und verkünden den „Tod der Psychiatrie".
Obgleich
die Nachricht von ihrem Tod übertrieben sein mag, zeichnet sich
ab, dass die moderne Psychiatrie in ernsten Schwierigkeiten steckt. Um
eine ihr gemäße Metapher zu verwenden, könnte man
sagen, die moderne Psychiatrie leide an einer sich vertiefenden
Identitätskrise. Es ist sogar möglich, dass sie auf lange
Sicht nicht als medizinisches Fachgebiet überleben kann. Der Grund
hierfür liegt wieder darin, dass fortgesetzt wahllos Modelle
vermischt werden. Das Grundproblem ist einfach zu umreißen: Wenn
sich Psychiater mit abweichendem Verhalten befassen, geht man davon
aus, dass sie eine Art Medizin praktizieren. Es wird indes immer
deutlicher, dass ihre berufliche Tätigkeit oft kaum in ein
medizinisches Erklärungs- und Handlungsmodell passt. Sie ist
innerhalb anderer Modelle wesentlich besser zu verstehen. Die oben
genannten therapeutischen Techniken wie Verhaltenstherapie,
Gruppentherapie oder Gesprächstherapie sind zum Beispiel nicht
wirklich medizinische Behandlungsmethoden, und es besteht kein
notwendiger Grund, warum Menschen, die sich einer solchen Behandlung
unterziehen wollen, einen Arzt aufsuchen müssten. Heute gehen
viele Menschen deshalb tatsächlich bereits zu Psychologen,
nicht-ärztlichen Analytikern und Familien-, Ehe-, Sexual-, Drogen-
oder Jugendberatern. Viele dieser „Experten" haben keine medizinische
Vorbildung und sie verfolgen keine medizinischen Ziele. Das bedeutet
aber auch, dass Menschen, die zu ihnen kommen, nicht als krank
bezeichnet werden und daher nicht Patienten, sondern „Klienten"
heißen. Ihre Schwierigkeiten werden nicht als Symptome einer
Krankheit definiert, sondern als „Anpassungsprobleme", „emotionale
Probleme", „unterentwickelte soziale Kompetenz" oder ganz allgemein
„Lebensschwierigkeiten".
Heute ist die bekannteste und
wichtigste nicht-medizinische psychiatrische Technik natürlich die
Psychoanalyse. Es ist richtig, dass ihr Gründer, Sigmund Freud,
Arzt war und dass er seine Theorien im Rahmen der Behandlung von
Patienten entwickelte. Im Verlauf der Jahre stellte er jedoch fest,
dass diese Theorien eine wesentlich umfassendere Bedeutung hatten und
nicht auf den medizinischen Rahmen beschränkt bleiben konnten. Er
stellte zunehmend fest, dass er ein völlig neues System kritischer
Erziehung und Forschung geschaffen hatte. Er schloss deshalb, dass es
für Psychoanalytiker nicht notwendig sei, ein Medizinstudium zu
absolvieren. Er hoffte statt dessen, sie würden ein
interdisziplinäres Studium betreiben, das Elemente der Biologie,
Psychologie, Soziologie, Kulturgeschichte, Mythologie, Literatur und
anderer geisteswissenschaftlicher Fachgebiete in sich vereinigte. Er
erkannte die Bedeutung der Psychoanalyse für den
nicht-medizinischen Bereich und empfahl sie daher auch für
Menschen, die nicht krank waren, wie Künstler, Schriftsteller und
Analytiker in der Ausbildung. Leider wurden aufgrund historischer
Umstände Freuds Absichten von seinen Nachfolgern nicht
verwirklicht. Nach seinem Tode wurde Psychoanalyse zu einem
medizinischen Fachgebiet erklärt und im Umfeld der modernen
Psychiatrie angesiedelt. Dies vergrößerte nur die allgemeine
Verwirrung.
Was hier über „Wahnsinn" oder
„Geisteskrankheit" gesagt wurde, ist natürlich allgemein auch auf
abweichendes Sexualverhalten anwendbar, soweit dieses als
psychiatrisches Problem definiert wird. Moderne Psychiater haben zum
Teil sehr unterschiedliche Erklärungen für abweichendes
Sexualverhalten und unterscheiden sich auch erheblich in ihren
Behandlungsmethoden. Die einen sehen jede Art abweichenden
Sexualverhaltens als krank an und verordnen verschiedene traditionelle
medizinische Therapien. Andere sind der Auffassung, sexuell deviante
Menschen seien vollkommen gesund und weigern sich, eine Behandlung
einzuleiten. Wieder andere sind der Auffassung, man müsse Menschen
mit abweichendem Verhalten auch dann behandeln, wenn sie nicht krank
sind, und man müsse dabei jede erfolgversprechende Methode
anwenden. Der scheinbar medizinische Charakter der Psychiatrie ist also
keine Garantie dafür, dass sich Psychiater wie „normale"
Ärzte verhalten oder dass sie mit sexuell devianten Menschen wie
mit „normalen" Patienten verfahren.
Es ist deshalb
vielleicht sinnvoll, das medizinische Erklärungsmodell und seine
Konsequenzen etwas eingehender zu betrachten.
Die Implikationen des medizinischen Modells
Das
medizinische Erklärungsmodell für sexuelle Devianz geht davon
aus, dass sich Abweichung am besten als Krankheit erklären
lässt. Verschiedene Formen abweichenden Sexualverhaltens sind wie
unterschiedliche Krankheiten, die eigene Ursachen und Symptome haben
und medizinisch behandelt werden können. Das bedeutet auch, dass
Menschen mit abweichendem Verhalten Patienten sind, dass das Einordnen
ihres Verhaltens nach den Prinzipien einer ärztlichen Diagnose
geschieht, dass dieses Verhalten von einem Arzt behandelt werden sollte
und dass dessen Behandlungsversuche eine Therapie sind. Weiterhin geht
man davon aus, dass sexuelle Anpassung mit Gesundheit gleichzusetzen
sei und dass die Rückkehr zu sexueller Anpassung einer Heilung
entspricht.
Menschen, die solche Auffassungen vertreten,
drücken damit nicht notwendig aus, dass sexuell abweichendes
Verhalten „geisteskrank" sei oder dass es so etwas wie
„Geisteskrankheit" gebe. Sie können statt dessen ebensogut
annehmen, dass alle Menschen mit abweichendem Sexualverhalten
körperlich krank sind und dass jede Krankheit eine
körperliche Ursache hat. Das medizinische Erklärungsmodell
abweichenden Verhaltens impliziert also nicht unbedingt die
Notwendigkeit einer „Seelenmedizin" oder Psychiatrie. Man kann dies mit
einigen Beispielen veranschaulichen:
Körperliche Krankheiten werden traditionell je nach ihrer Entstehung in drei Kategorien eingeteilt:
1.
Infektiöse Erkrankungen, das heißt Krankheiten, die durch
Bakterien, Viren oder andere Erreger hervorgerufen werden, wie zum
Beispiel Gonorrhoe, Syphilis, Tuberkulose oder eine gewöhnliche
Erkältung.
2. Systemerkrankungen, das heißt
Krankheiten, die durch Funktionsstörungen in Organen oder
Organsystemen hervorgerufen werden, wie zum Beispiel Verkalkung der
Arterien, Prostataleiden oder Zuckerkrankheit.
3.
Traumatische Erkrankungen, das heißt Krankheiten, die durch
äußerliche Einwirkungen auf den Körper hervorgerufen
werden, wie zum Beispiel ein gebrochenes Bein, eine Schnittverletzung
oder eine Verbrennung.
Jede dieser Kategorien wurde - in
unterschiedlichen Phasen der Geschichte - auch als Erklärung
für abweichendes Verhalten verwendet. Hierfür einige
Beispiele:
• Als man entdeckte, dass eine Syphilisinfektion
schließlich auch das Gehirn betreffen und bei dem Patienten zu
unerklärlichem Verhalten führen kann, vermutete man, jedes
abweichende Verhalten habe möglicherweise eine ähnliche
Ursache. (In dieser Sichtweise war abweichendes Verhalten Symptom einer
Infektionskrankheit.)
• Als man an „Degeneration" oder
„Entartung" glaubte, wurde abweichendes Verhalten einer ererbten
Körperschwäche, einer fortschreitenden Verschlechterung des
genetischen Materials zugeschrieben, die sich in „Nervenschwäche"
und in sexueller Übererregtheit und Fehlorientierung
ausdrückte. (In dieser Sichtweise war abweichendes Verhalten
Symptom einer Systemerkrankung.)
• Als man an den
„Masturbationswahnsinn" glaubte, wurde abweichendes Verhalten auf die
schädliche Gewohnheit der „Selbstbefleckung"
zurückgeführt, die das Gehirn überhitzte und die den
Körper bestimmter wichtiger Flüssigkeiten beraubte. (In
dieser Sichtweise war abweichendes Verhalten Symptom einer
traumatischen Erkrankung.)
Es ist sehr wichtig
festzustellen, dass in allen drei Beispielen das abweichende Verhalten
ausschließlich körperlichen Ursachen zugeschrieben wurde.
Das Verhalten eines Menschen war also „falsch", weil sein Körper
krank war. Wäre sein Körper gesund gewesen, wäre auch
sein Verhalten „richtig" gewesen, und es würde wieder „richtig"
werden, sobald sein Körper geheilt würde, (Das Verhalten
würde allerdings „falsch" bleiben, wenn der Körper sich als
unheilbar erweisen sollte.) Man bezog sich in diesem Zusammenhang nicht
auf einen „Geist" oder eine „Psyche", „Geisteskrankheit" oder
„Psychiatrie". Das ganze Problem wurde ausschließlich in den
Begriffen körperliche Krankheit und körperliche Behandlung
interpretiert. Der Patient benötigte ganz einfach einen Arzt.
Aus
unseren historischen Darstellungen der vorausgegangenen Kapitel wird
jedoch noch erinnerlich sein, dass in moderner Zeit abweichendes
Verhalten zunehmend nicht körperlichen, sondern mehr und mehr
geistigen Krankheiten zugeschrieben wurde. Nach dieser Interpretation
ist der Körper des devianten Menschen völlig gesund, es fehlt
ihm nur an geistiger Gesundheit. Daraus folgt, dass kein
gewöhnlicher Arzt ihn behandeln kann und dass er statt dessen der
Hilfe eines „Seelenarztes" oder Psychiaters bedarf. Da jedoch alle
Psychiater auch eine medizinische Ausbildung haben, teilen sie
bestimmte grundlegende Annahmen mit anderen Ärzten und
unterscheiden möglicherweise ebenso zwischen infektiösen,
systemischen und traumatischen geistigen Erkrankungen.
Leider
hat es sich gezeigt, dass dieser Ansatz in der Praxis nicht sehr
hilfreich ist. Besonders in bezug auf abweichendes Sexualverhalten
haben die traditionellen medizinischen Einteilungskriterien oft zu
verwirrenden und widersprüchlichen Lösungen geführt. So
wurde beispielsweise die Geisteskrankheit „Homosexualität" allen
drei verschiedenen Arten von Ursachen zuzuordnen versucht. Im einzelnen
wurden folgende Theorien vorgeschlagen;
• Menschen sind
homosexuell, weil sie von anderen, vor allem älteren Homosexuellen
verfuhrt wurden. Homosexuelle müssen also von jungen Menschen
ferngehalten werden. (In dieser Sichtweise ist Homosexualität eine
Infektionskrankheit.)
• Menschen sind homosexuell, weil sie
mit einer „schwachen Persönlichkeit" geboren wurden, weil sie
senil geworden sind oder weil „ihr Charakter zerfallen ist". (In dieser
Sichtweise ist Homosexualität eine Systemerkrankung.)
•
Menschen sind homosexuell, weil neurotische Eltern oder frühe
traumatische sexuelle Erlebnisse eine normale sexuelle Entwicklung
verhindert haben. (In dieser Sichtweise ist Homosexualität eine
traumatische Krankheit.)
Natürlich haben die
Psychiater, die diese Theorien aufstellten, ihre Grundannahmen nicht
immer offengelegt; in vielen Fällen waren sie sich ihrer gar nicht
bewusst. Manche Psychiater waren sogar ausgesprochen entsetzt, wenn
kritische Beobachter diese Annahmen aufdeckten. Schließlich wirkt
die direkte Gleichsetzung körperlicher und geistiger Krankheiten
medizinisch ungebildet und plump. Es erscheint einfältig zu
unterstellen, dass der Geist eine greifbare, konkrete Sache sei, ein
Organismus, der sich infizieren und als System zusammenbrechen oder
Verletzungen erleiden kann. Wenn man solche Bezeichnungen in
psychiatrischen Verlautbarungen findet, sind sie eben nicht
wörtlich, sondern eher bildlich gemeint. Die Begriffe der
Infektion, des systemischen Zusammenbruchs und des Traumas können
auf geistige Krankheiten nur im übertragenen Sinne angewandt
werden. Es gibt keine „geistigen Bakterien" oder verletzliche „geistige
Organe". Wenn man daher geistige Krankheit den gleichen Kategorien
zuordnen will wie körperliche Krankheiten, muss man sich mit
bildhaften Ausdrücken behelfen.
Wenn man aber die
Bezeichnung „Geisteskrankheit" genauer betrachtet, wird deutlich, dass
das Wort selbst ein bildlicher Ausdruck ist. Genaugenommen kann ein
Geist ebensowenig erkranken, wie ein Intellekt übergewichtig sein
kann oder ein Instinkt an Krebs erkranken könnte. Man kann zwar
vom „kranken Geist" sprechen, aber nur in der Weise, wie man von einer
„kranken Wirtschaft" oder einer „kranken Firma" spricht. Auch die
Begriffe „Wirtschaft" und „Firma", ähnlich wie der Begriff
„Geist", sind hier in einem abstrakten Sinn verwendet. Der Geist ist
ein Begriff, ein Konzept, eine Idee, die die Wirkung und Tätigkeit
des menschlichen Gehirns zusammenfasst. Er ist offensichtlich nicht das
Gehirn selbst. (Eine „Gehirnerkrankung" ist eindeutig eine
körperliche Erkrankung.) Wenn wir daher sagen, der Geist eines
Menschen sei erkrankt, drücken wir damit aus, dass „die Funktion
seines Gehirns" krank ist. Im Grunde genommen können wir damit -
je nach Lage des Falles - auch ausdrücken, dass die Funktion des
Gehirns krank sei, wenn das Gehirn selbst vollkommen gesund ist.
Man
muss nicht unbedingt Logik studiert haben, um einzusehen, dass eine
solche Feststellung auf den ersten Blick unsinnig erscheint. Es ist,
als würde man sagen, die Funktion eines Autos wäre
zusammengebrochen, der Motor sei allerdings völlig in Ordnung -
ein hoffnungsloser Widerspruch. Allerdings ist gerade diese Art
Widerspruch nicht zu vermeiden, wenn man einen konkreten Zustand mit
einem abstrakten Konzept erklären will oder solange man ernsthaft
behauptet, dass „der Geist auf gleiche Weise erkranken kann wie der
Körper" und dass „geistige Krankheit eine Krankheit wie jede
andere" ist. Solche Behauptungen hätten nur dann einen Sinn, wenn
der Geist wirklich eine Sache wäre und unter den gleichen
logischen Prämissen betrachtet werden könnte wie der
Körper. Wir haben jedoch gesehen, dass kein moderner
Wissenschaftler davon noch ausgeht.
Die Situation war anders
im Altertum, als die Menschen noch glaubten, nicht nur der Körper,
sondern auch der Geist sei konkret. So bedeutete die alte griechische
Bezeichnung für Geist, „Psyche", ursprünglich vor allem
„Atem" und erst später „Seele". Von dieser Seele nahm man an, sie
liege in einem bestimmten Bereich des Körpers (im Herzen, im
Zwerchfell, in der Leber oder im Gehirn). Man glaubte auch, die Seele
sei eine Art ätherisches Wesen oder ein Geist, und sie könne
daher auch von anderen Geistern beeinflusst oder gar besessen werden.
Kein Arzt, nicht einmal ein Psychiater, glaubt aber heute noch an
Geister oder Seelen. Das Wort „Psyche" ist heute ein abstrakter, ein
technischer Begriff geworden, der sich nicht mehr auf ein lebendiges
oder atmendes unsichtbares Wesen bezieht. Wenn heutige Psychiater von
einer „Geisteskrankheit" sprechen, meinen sie nicht die konkrete
Krankheit eines konkreten Organs, sondern die metaphorische Krankheit
einer theoretischen Konstruktion.
Es erscheint wichtig,
diesen einfachen Punkt immer wieder zu betonen, da man aus Erfahrung
weiß, wie leicht er vergessen wird. Darüber hinaus ist die
von der Psychiatrie benutzte Fachsprache oft „neoarchaisch", ungenau
und irreführend. So hören wir ständig nicht nur von
„Psychiatrie" (Heilung des Geistes), „Psychotherapie" (Behandlung des
Geistes) und „Psychopathologie" (Krankheit des Geistes), sondern auch
von „psychotropen Medikamenten" (Medikamenten, die auf den Geist
einwirken) und „Psychochirurgie" (Operationen, die am Geist vorgenommen
werden). Diese Bezeichnungen bedeuten jedoch nicht wirklich, was sie
auszudrücken scheinen, und jeder, der ihren symbolhaften Charakter
vergisst, versteht sie notwendig falsch. Mit anderen Worten: da der
Geist nur im metaphorischen, symbolhaften Sinne krank sein kann, kann
er auch nur metaphorisch geheilt oder behandelt werden. Psychoaktive
Medikamente wirken nicht wirklich auf den Geist, sondern auf das Gehirn
und wahrscheinlich auf andere Teile des Körpers; Psychochirurgie
ist in Wahrheit immer Gehirnchirurgie.
Man kann sich
natürlich fragen, aus welchem Grunde eine derart unklare
Terminologie immer noch von Fachleuten benutzt wird, die es eigentlich
besser wissen sollten. Man könnte sich fragen: „Wenn ein
Psychochirurg tatsächlich ein Gehirn operiert, warum sagt er das
nicht auch? Warum bezeichnet er seine Arbeit nicht einfach als
Gehirnchirurgie?" Die Antwort des Psychochirurgen ist, dass er nicht
direkt mit dem Gehirn befasst ist, sondern dass er es operiert, um auf
etwas anderes indirekt Einfluss zu nehmen. Seine Bemühungen zielen
nicht so sehr darauf ab, das Gehirn zu verändern, sondern das
Verhalten, das vom Gehirn gesteuert wird. Er betrachtet das Gehirn
selbst vielleicht als durchaus gesund und nur das Verhalten als krank.
In diesem Sinn operiert er dann in Wahrheit das Verhalten. Er hält
sich deshalb selbst eher für einen „Verhaltenschirurgen" als
für einen Gehirnchirurgen. Gehirnchirurgen operieren
gewöhnlich nur kranke Gehirne und sehen keine Veranlassung, ein
gesundes Gehirn zu operieren. Die Operation eines gesunden Gehirns kann
daher nur gerechtfertigt werden, indem man sie als „Psychochirurgie",
das heißt Chirurgie des Geistes, bezeichnet. Sie wird dann
sozusagen zu einer „stellvertretenden" Chirurgie. Ist dieser Grundsatz
einmal akzeptiert, ergibt der ganze Vorgang erstmals einen Sinn: Ein
gesundes Gehirn kann operativ verletzt werden, weil diese Verletzung
die Heilung des kranken Geistes bewirken kann.
Es ist ein
merkwürdiger Zufall, dass zu einer Zeit, in der „Psychochirurgie"
in der westlichen Welt bekannter wird, es auch Berichte westlicher
Patienten mit bestimmten körperlichen Erkrankungen gibt, die in
ferne Länder reisen, um sich Operationen zu unterziehen, die man
„psychische Operationen" nennt. Diese Art Operationen, die in Europa
und in den USA verboten sind, werden von „Geisterheilern" in Form
imaginärer Operation im Rahmen magischer Rituale
durchgeführt. Es kommen keine chirurgischen Instrumente zur
Anwendung, es wird kein Einschnitt vorgenommen und der Heiler behauptet
dennoch am Ende, er habe das erkrankte Organ kraft seiner geistigen
Fähigkeiten entfernt, als habe er es mit einem Messer
herausgeschnitten. Als Beweis zeigt er dem Patienten gewöhnlich
ein Stück blutiges Gedärm, das scheinbar übriggeblieben
ist.
Für moderne westliche Ärzte ist
natürlich ein solches magisches Ritual nichts als kriminelle
Quacksalberei und ein empörender Betrug. Trotzdem muss man, wenn
auch nur aus theoretischen Erwägungen, die Ideologie, die sich
hinter diesem „Schwindel" verbirgt, in die Betrachtungen einbeziehen,
wenn man die Konzepte körperlicher und geistiger Krankheiten
erörtert. Denn das Beispiel wirft ein Licht auf den Unterschied
zwischen körperlichen und geistigen Therapieformen. Im Licht
dieser neuen aufschlussreichen Perspektive kann das terminologische
Problem nun in folgender Weise verdeutlicht werden:
Die in
unserem Kulturkreis angewandte Chirurgie zur Verhaltensänderung
ist in Wahrheit immer Gehirnchirurgie, das heißt einfache
Chirurgie, die an einem tatsächlichen Organ durchgeführt
wird. Der Begriff „Psychochirurgie" für solche Operationen ist
irreführend, weil er vorgibt, man könne den Geist operieren,
ein insgesamt imaginäres Organ. Der Begriff „psychische Chirurgie"
bezieht sich demgegenüber auf imaginäre Chirurgie,
vorgenommen an einem tatsächlichen Organ, wie dem Gehirn, dem
Magen, der Leber oder dem Herzen. Schließlich gibt es als vierte
theoretische Möglichkeit imaginäre Chirurgie, die an einem
imaginären Organ wie dem Geist vorgenommen wird. Dies könnte
als „psychische Psychochirurgie" bezeichnet werden.
Man kann
den Problemkomplex vielleicht am ehesten so zusammenfassen: Wenn man
der Vorstellung folgt, dass ein tatsächliches Organ (wie das
Gehirn) und ein imaginäres Organ (wie der Geist) an operierbaren
Krankheiten leiden können, kann man sich ebenso tatsächliche
und imaginäre Formen der Chirurgie vorstellen. Man würde dann
logischerweise zu vier verschiedenen Kombinationen kommen:
1.
Herkömmliche Chirurgie, das heißt tatsächliche
chirurgische Verfahren, die an einem tatsächlichen Organ
vorgenommen werden (zum Beispiel dem Gehirn).
2.
Psychochirurgie, das heißt tatsächliche chirurgische
Verfahren, die an einem imaginären Organ vorgenommen werden (zum
Beispiel dem Geist).
3. Psychische Chirurgie, das
heißt imaginäre chirurgische Verfahren, die an einem
tatsächlichen Organ vorgenommen werden (zum Beispiel dem Gehirn).
4.
„Psychische Psychochirurgie", das heißt imaginäre
chirurgische Verfahren, die an einem imaginären Organ vorgenommen
werden (zum Beispiel dem Geist.)
Die erste und letzte dieser
Klassifikationen sind in sich einheitlich, sie beruhen auf stimmigen
Konzepten von Theorie und Praxis und sind daher logisch konsistent.
„Psychische Psychochirurgie" ist natürlich nichts weiter als ein
Zeremoniell, ein rein magisches Ritual und als solches in
wissenschaftlichen Überlegungen fehl am Platz. In der einen oder
anderen Form mag sie unter alten „Naturvölkern" vorgekommen sein,
sie hat aber heute keine praktische Bedeutung mehr. Gewöhnliche
Chirurgie, die bereits seit Tausenden von Jahren bekannt ist, wird
heute noch anerkannt und hat inzwischen an Wunder grenzende Leistungen
vollbracht. Sie ist jedem bekannt und stellt keine konzeptionellen
Probleme. Wirklich problematisch sind nur die zweite und die dritte der
zuvor aufgeführten Kategorien, weil sie logisch uneinheitlich
sind. Heute wird „psychische Chirurgie" glücklicherweise meist als
Betrug entlarvt, mit „Psychochirurgie" ist das allerdings anders. Wir
kennen beispielsweise den steinzeitlichen Brauch des Trepanierens, bei
dem man Menschen Löcher in die Schädeldecke bohrte, damit die
bösen Geister entweichen konnten. Wir wissen auch, dass bereits
die primitivsten Werkzeuge (scharfkantige Steine) zu chirurgischen
Eingriffen verwendet wurden, um imaginäre Kräfte zu
beeinflussen. Diese alte Hoffnung besteht noch immer und sie wird heute
durch ständige Vervollkommnung chirurgischer Werkzeuge und
Techniken eher noch bestärkt. Der Glaube an Geister ist vielleicht
verschwunden, die modernen Chirurgen sind jedoch nach wie vor
überzeugt, dass das richtige Skalpell oder die passende Elektrode,
an der richtigen Stelle in den Schädel des Patienten
eingeführt, dessen „Psyche" unter Kontrolle bringen kann.
Die
Ergebnisse der „Psychochirurgie" sind in der Tat bemerkenswert: Ehemals
gewalttätige Patienten werden gefügig, sexuell aggressive
Patienten verlieren jedes Interesse an Sexualität usw. Dies gilt
allerdings auch für andere Formen körperlicher
Verstümmelung, wie etwa für Kastration, die bislang noch
niemand dem Bereich der Psychochirurgie zugeordnet hat. Viele kritische
Beobachter lassen sich daher nicht vorschnell beeindrucken und erwarten
eine bessere Dokumentation der Ergebnisse und überzeugendere
theoretische Rechtfertigungen. Die schwersten Einwände gegen die
heute geübte Praxis beziehen sich jedoch auf die Tatsache, dass
Psychochirurgie oft ohne Einwilligung des Patienten oder bei wehrlosen
Patienten, wie Gefangenen oder Insassen von psychiatrischen
Krankenhäusern durchgeführt wurde und dass man bei einigen
Patienten zweifeln kann, ob sie überhaupt als schuldig oder krank
hätten bezeichnet werden dürfen. Besonders in den letzten
Jahren wird die öffentliche Entrüstung gegen
„Psychochirurgie" immer unüberhörbarer, sie ist so stark
geworden, dass Verfechter dieser Techniken vorsichtiger geworden sind
und die Anzahl derartiger Operationen - zumindest in den Vereinigten
Staaten - rapide abgenommen hat.
Ein weiterer wichtiger
Grund für diese Veränderung ist die Entwicklung neuer
„psychotroper" Medikamente, die heute immer häufiger verwendet
werden, um gewalttätige, unruhige, depressive und schizophrene
Patienten zu behandeln. Menschen mit sexuellen Problemen können
heute „chemisch kastriert" werden, indem man ihnen Medikamente
verordnet, die die Testo-steronbildung im Körper herabsetzen und
so das sexuelle Verlangen reduzieren. Anders als die chirurgische
Kastration ist die chemische Kastration nicht dauerhaft, sondern durch
Absetzen des Medikaments rückgängig zu machen. Man ist also
heute in der Lage, menschliches Verhalten durch Medikamente zu
provozieren, zu verhindern, zu ändern oder wiederherzustellen. Wie
im Fall der Psychochirurgie ist es jedoch wissenschaftlich nicht
korrekt zu behaupten, diese Eingriffe würden auf den „Geist"
wirken, wirken sie doch ganz eindeutig auf den Körper. Die
resultierenden körperlichen Veränderungen bewirken dann eine
Veränderung des Verhaltens. So haben tatsächlich die
sogenannten psychotropen Medikamente und die Psychochirurgie dazu
geführt, dass viele Psychiater sich heute wenig um die „Psyche"
Gedanken machen und ihre Aufmerksamkeit wieder dem Körper
schenken. Denn wenn schließlich eine Krankheit durch
körperliche Behandlungen wie Chirurgie und
Medikamentenverordnungen geheilt werden kann, handelt es sich
vermutlich wirklich nur um eine körperliche Erkrankung. Warum
sollte man sich dann noch um so ein zweifelhaftes Konstrukt wie den
„Geist" Gedanken machen. Der alte Glaube an die rein körperliche
Ursache „geistiger" Krankheit ist so wieder aufgetaucht und wird in der
Zukunft vielleicht weiter bestätigt. Jedenfalls fordern einige der
kritischen modernen Psychiater neue Schwerpunkte der Forschung auf
ausschließlich medizinischer und biologischer Grundlage.
Gleichzeitig wurden sie ausgesprochen bescheiden, was ihre
Zuständigkeit für moralische Probleme und soziale
Sachverhalte angeht.
Diese neue Demut drückt sich auch
in neueren Konzepten über das Wesen von Krankheiten aus. Man nimmt
nicht mehr an, dass es so etwas wie einen fest umrissenen,
unveränderlichen Zustand der Gesundheit gibt, der gelegentlich
durch einen ähnlich fest umrissenen Zustand des Krankseins ersetzt
wird. Man geht statt dessen heute davon aus, dass Menschen sich im
Laufe ihres Lebens anpassen und verändern müssen und dass
diese Anpassung und Veränderung kein Anlass zur Beunruhigung ist,
solange sie die normale (das heißt die gewöhnliche) Funktion
nicht beeinträchtigt. Das bedeutet gleichzeitig, dass in dem
Ausmaß, in dem körperliche und psychische Funktionen
behindert werden, das heißt, in dem Ausmaß, in dem die
normalen Veränderungen zu Fehlanpassung führen, medizinisches
Eingreifen erforderlich werden kann. In diesem Sinn sind Gesundheit und
Krankheit keine klar getrennten Alternativen oder unvereinbare
Gegensätze, sondern Abschnitte auf einem Kontinuum, Teile eines
umfassenden Lebensprozesses.
Dies alles bedeutet, dass in
der Medizin, ähnlich wie in anderen wissenschaftlichen
Disziplinen, kein Platz für Dogmatismus ist. Besonders im
psychologischen Bereich hängt die Entscheidung über das, was
als fehlangepasst zu bezeichnen ist oder nicht, in hohem Maße von
individuellen und sozialen Faktoren ab, die in ihrer Gesamtheit zu
betrachten sind. Darüber hinaus dürfen diejenigen, die
anderen Diagnosen und Therapien anbieten, nicht vergessen, ihre eigenen
Wertvorstellungen mit zu berücksichtigen. Schließlich hat
der Missbrauch der Medizin und Psychiatrie in der Vergangenheit auch
dem durchschnittlichen Laien deutlich gemacht, dass er seine eigene
Urteilsfähigkeit nicht aufgeben darf, wenn er sich in eine
Therapie begibt. Auch er weiß, dass entgegen mancher
übertriebenen früheren Behauptungen nicht jedes seiner
Probleme eine medizinische Lösung hat.
Kritik des medizinischen Erklärungsmodells
Wie
wir gesehen haben, führte die Entwicklung des Konzepts von
„geistigen Krankheiten" in der Medizin zu vier verschiedenen
diagnostischen Möglichkeiten: Ein Mensch konnte sich erweisen als
1. körperlich und geistig gesund,
2. körperlich krank und geistig gesund,
3. körperlich krank und geistig krank und
4. körperlich gesund und geistig krank.
Im
ersten Fall bedurfte es keiner medizinischen Behandlung. Im zweiten
Fall war ein „Körperarzt" nötig. Im dritten Fall musste der
„Körperarzt" sich der Hilfe eines „Seelenarztes" bedienen, und im
letzten Fall hatte nur das Tun eines „Seelenarztes" Aussicht auf Erfolg.
Diese
Situation drückte sich auch in einer zunehmenden Spezialisierung
der Medizin aus. Psychiatrie, die „Seelenheilkunde", entwickelte sich
als gesondertes Fach, obwohl Psychiater nach wie vor eine medizinische
Ausbildung erhielten. Sie lernten also nicht nur körperliche,
sondern auch geistige Krankheiten zu behandeln und wurden
„Superärzte" mit größeren Fähigkeiten und
größerer Autorität als ihre traditionellen Kollegen.
Andererseits traten nach und nach auch viele nicht-medizinische
„Psychotherapeuten" auf den Plan, die keine Qualifikation hatten, den
Körper zu behandeln und die ausschließlich den Geist
therapierten. In eine mittlere Position traten die Jünger der
„psychosomatischen Medizin", die Krankheit gleichberechtigt unter
geistigen und körperlichen Aspekten zu betrachten suchten.
Eine
solche Einteilung findet sich auch im Handbuch der Diagnosen der
amerikanischen Vereinigung für Psychiatrie (Diagnostic and
Statistical Manual [DSM II] of the American Psychiatrie Association).
Ausgehend von Kraepelins Systematik geistiger Störungen, wurde es
mehrfach überarbeitet, ohne dass seine grundlegende Ausrichtung im
wesentlichen verändert worden wäre. In der Ausgabe von 1968
waren sechs Hauptkategorien abnormen Verhaltens verzeichnet. Die ersten
beiden („geistige Unterentwicklung" und „hirnorganische Syndrome")
bezogen sich auf physische Störungen. Die folgenden drei
Kategorien („körperlich nicht begründbare Psychosen",
„Neurosen" und „Persönlichkeitsstörungen") beschrieben rein
psychische Störungen. Die letzte Kategorie („psychophysiologische
Störungen") umfasste Krankheitsbilder mit körperlichen und
psychischen Aspekten.
Es muss jedoch darauf hingewiesen
werden, dass selbst Psychiater dieses System häufig kritisierten,
weil sie es für teilweise nicht begründet und überholt
betrachteten. „Psychosen" waren zum Beispiel nicht nur ein Oberbegriff,
sondern erschienen auch als Spezifizierung „organischer
Psychosyndrome", Störungen wie „Neurosen" wurden weitgehend auf
der Basis psy-choanalytischer Theorien definiert, diese Kategorie
gehörte deshalb in einen völlig anders gearteten
theoretischen Zusammenhang. Die Kategorie
„Persönlichkeitsstörungen" umfasste ganz verschiedene
Untergruppen wie „sexuelle Abweichung", „Alkoholismus" oder
„Drogenabhängigkeit". Wenn man einmal die Frage außer acht
lässt, ob Alkoholismus nicht auch eine Art Drogenabhängigkeit
ist, muss man sich dennoch fragen, ob diese Begriffe wirklich einen
wissenschaftlichen Sinn haben. Selbst wenn man davon ausgeht, dass
sexuell deviantes Verhalten und Drogenabhängigkeit Symptome von
Krankheiten sind (und dies ist eine sehr fragwürdige Annahme),
geben hierüber die Klassifikationen keine wesentliche Auskunft. Es
ist so, als würden Mediziner plötzlich Diagnosen verwenden
wie „Schwäche", „Müdigkeit", „Fieber", „Husten" oder
„Kopfschmerz". Solche Beschwerden können viele verschiedene
Ursachen haben, ähnlich wie die sogenannten
Persönlichkeitsstörungen. Darüber hinaus ist kaum
einsehbar, dass sie sich von Neurosen so grundsätzlich
unterscheiden sollen.
In der Folge vielfältiger Kritik
wurde das „Handbuch" im Jahre 1980 nochmals überholt. Die neue
Ausgabe, die unter der Bezeichnung „DSM III" bekannt ist, versucht,
ausschließlich zu beschreiben und enthält daher die
frühere Einteilung in große Kategorien nicht mehr. Sie
führt statt dessen lange Listen sehr heterogener „Störungen",
die von „Substanzenmissbrauch" über „Angstzustände",
„Anpassungsschwierigkeiten" bis zu „Persönlichkeitsstörungen"
reichen. Auch diese Klassifikation ist reichlich willkürlich und
erklärt eigentlich nichts, sie scheint aber vorsichtiger und
zurückhaltender zu sein als die vorhergehende. Die neue Gruppe
„psychosexueller Störungen" bleibt dennoch eine fragwürdige
Mischung medizinisch verkleideter Werturteile. „Homosexualität"
als solche wurde zwar aus der Liste gestrichen, es finden sich jedoch
immer noch Mängel und Fehler, wie etwa die ungerechtfertigte
Gleichsetzung von männlichem Orgasmus mit Ejakulation und die
deutliche ideologische Bezeichnung „Paraphilie". Ernstzunehmende
Sexualwissenschaftler müssen daher auf das „DSM IV" warten, um
festzustellen, ob die Psychiatrie mit Sexualität wirklich
wissenschaftlich umgehen kann. (Eine ausführliche Kritik dieser
Frage findet sich in Kap. 8.1 „Grundprobleme der Sexualtherapie".)
Die
Erfahrung zeigt jedenfalls, dass eine psychiatrische Diagnose mehr ist
als eine ,,neutrale" medizinische Feststellung. Sie hat oft
unmittelbare, weitreichende soziale Konsequenzen. Menschen, die als
„geisteskrank" abgestempelt wurden, werden möglicherweise
zwangseingewiesen, zwangsbehandelt und möglicherweise Opfer
drastischer Eingriffe. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die
wegen ihres abweichenden Sexualverhaltens geisteskrank genannt werden.
Ihre „Krankheit" kann sehr leicht zum Vorwand dafür werden, sie zu
isolieren, zu unterdrücken, zu verunglimpfen und zu strafen. Die
Frage, ob sie wirklich krank sind oder nicht, ist dabei oft
unerheblich. Die einzig wichtige Frage ist, welche moralische oder
soziale Bedeutung wir ihren „Symptomen" beimessen. Ein humpelnder,
asthmatischer, schielender oder kurzsichtiger Mann ist sicherlich
abnorm und krank. Wir lassen ihn dennoch in Ruhe und achten seine
persönlichen Rechte. Selbst wenn seine Gebrechen sich
verschlimmern sollten, würden wir ihn niemals gegen seinen Willen
behandeln. Im Gegensatz dazu ist ein sexuell devianter Mann
womöglich gar nicht krank. Dennoch bestehen wir darauf, dass er
sein Verhalten ändert, und wir behandeln ihn als minderwertigen
Menschen. Es scheint daher, dass sexuelle Devianz, ähnlich wie
andere Fälle „geistiger Krankheit", im Kern eher ein moralisches
als ein medizinisches Problem ist.
Dies ist jedenfalls die
Haltung, die heutige Kritiker des medizinischen Erklärungsmodells
für Devianz einnehmen. In den USA wurde diese Kritik am
deutlichsten von den Soziologen Goffman und Scheff und von dem
Psychiater Szasz artikuliert.
Goffman schrieb 1959 eine
wichtige Abhandlung über „Die moralische Karriere des
psychiatrischen Patienten", in der er sich mit den Erfahrungen eines
Menschen befasst, der wegen „Geisteskrankheit" stationär behandelt
wird. Diese Erfahrungen erwiesen sich als von Erniedrigung und
Vertrauensbruch geprägt. Es stellte sich heraus, dass die
sogenannten therapeutischen Maßnahmen in Wahrheit Teil eines
Rituals zu sein schienen, in dem die Gesellschaft einige ihrer
Mitglieder brandmarkt.
Zur gleichen Ansicht kam Scheff
einige Jahre später in seinem Buch „Das Etikett Geisteskrankheit".
Er beschrieb Geisteskrankheit als eine soziale Rolle, in der der
Patient zum Sündenbock und Opfer wird. Bestimmten Leuten mit
andersartigem Verhalten wurde ein Stempel aufgedrückt, der dazu
führte, dass sie ausgegrenzt und ihnen die Bürgerrechte
entzogen werden konnten. Diese Etikettierung hatte nur das Ziel,
mögliche Verletzer gesellschaftlicher Normen unter Kontrolle zu
halten. Der medizinische Jargon und der Sprachgebrauch der Psychiatrie
dienten dabei als Mittel der Irreführung, um das Gewissen der
Gesellschaft zu beruhigen.
Der schärfste Angriff auf
das medizinische Modell der Devianz kam aus dem psychiatrischen Umfeld
selbst. In seinen Büchern „Geisteskrankheit - ein moderner Mythos"
und „Die Fabrikation des Wahnsinns" nannte Szasz Geisteskrankheit einen
Mythos und verglich die Behandlung von Patienten durch die Psychiatrie
mit der der Hexen durch die Inquisition. Für ihn ist der Glaube an
Geisteskrankheit ebenso falsch und gefährlich wie der Glaube an
Hexerei, beide führen zu denselben Exzessen. Psychiater befassen
sich nicht mit Geisteskrankheit und deren Behandlung, sondern mit
„persönlichen, sozialen und ethischen Lebensproblemen". Indem man
diese Probleme fälschlich mit Krankheiten identifiziert und damit
die Schuld für destruktives Verhalten irgendwelchen
äußeren Kräften zuschiebt, wird das Prinzip der
persönlichen Verantwortlichkeit untergraben und die Vorstellung
gefördert, man könnte soziale Konflikte mit medizinischer
Wissenschaft lösen.
Solche Forderungen, die eine
kritische Neuorientierung zum Ziel haben, haben zwischenzeitlich ein
erstaunliches Echo nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern in
allen therapeutischen Berufen gefunden. Selbst viele konservative
Psychiater, die diese Kritik in der Hauptsache zurückweisen,
mussten zugeben, dass sie sich teilweise getroffen fühlten. Sie
sahen sich gezwungen, ihren Blickwinkel zu erweitern, und erkannten -
vielleicht zum ersten Male - die soziale Dimension ihrer beruflichen
Tätigkeit. Statt sich ausschließlich auf „Patienten" und
„Krankheiten" zu konzentrieren, mussten sie ihre eigene Rolle als
Vertreter sozialer Kontrolle hinterfragen. Sie wurden deshalb
vorsichtiger in ihren Erklärungen und toleranter gegenüber
abweichendem Verhalten.
Besonders abweichendes
Sexualverhalten wird heute in psychiatrischen Kreisen nachsichtiger
behandelt als noch vor wenigen Jahrzehnten. Sowohl die empirischen
Analysen Kinseys als auch unzählige neuere Untersuchungen haben
ergeben, dass solche Verhaltensweisen wesentlich verbreiteter sind, als
ursprünglich angenommen worden war. Viele Formen angeblich
abweichenden Sexualverhaltens haben sich sogar als „normal" und
keineswegs deviant erwiesen. Wenn auch unsere Strafgesetze diese
Einsichten noch nicht immer widerspiegeln, so ist dies doch nicht mehr
die Schuld der Psychiater, die heute oft zu den entschiedensten
Verfechtern von Reformen zählen.
Zusammenfassend kann
man sagen, dass diejenigen, die sich immer noch des medizinischen
Erklärungsmodells für abweichendes Verhalten bedienen, dies
heute mit wesentlich mehr Überlegtheit tun. Andere (unter ihnen
einige ausgewiesene Psychiater) haben sich indes in der Praxis neuen,
nicht-medizinischen Erklärungsmodellen zugewandt.
Neue Erklärungsmodelle
Oben
wurde von dem über die Medizin hinausführenden Ansatz der
Psychoanalyse gesprochen, und wir haben die Hoffnung Freuds
erwähnt, dass sie nicht ausschließlich auf den Bereich der
Medizin beschränkt bleiben möge. Jede neutrale Beschreibung
des psychoanalytischen Prozesses erweist, dass er im Grunde auf einem
lerntheoretischen Modell beruht. Der Analysand (das heißt die
Person, die analysiert werden soll) versucht, sich in freier
Assoziation und durch das Erzählen von Träumen an längst
vergessene Erfahrungen zu erinnern. Die Berichte werden vom Analytiker
dann daraufhin untersucht, ob sie bestimmte Anhaltspunkte,
wiederkehrende Themen oder Muster enthalten, die Hinweise auf
frühere traumatische Erfahrungen enthalten könnten. Sobald
diese Erfahrungen erkannt und bewusst gemacht sind, hat der Analysand
die Möglichkeit zurückgewonnen, in rationaler, angemessener
Art und Weise mit ihnen umzugehen. Die Psychoanalyse ist also im Kern
eine historische, genauer eine autobiographische Methode. Die
betroffene Person lernt aus ihrer eigenen Lebensgeschichte, dass sie
einmal eine „falsche" Lektion gelernt hat. Diese Einsicht
ermöglicht es dann, zukünftige Erfahrungen besser zu
verarbeiten. Psychoanalyse ist in den Vereinigten Staaten und in Europa
seit langem verbreitet und hat eine große Zahl prominenter
Anhänger gefunden. Einige von ihnen haben die psychoanalytische
Technik sogar dazu verwandt, historische Persönlichkeiten wie
Edgar Allan Poe oder Martin Luther zu interpretieren. (Freud selbst hat
einmal eine Studie über Leonardo da Vinci geschrieben.) So ist
heute die nicht-medizinische Anwendung von Psychoanalyse durchaus
anerkannt. Das bedeutet aber auch, dass viele Menschen, die früher
die Hilfe eines Psychoanalytikers in Anspruch genommen hätten,
heute ganz andere nicht-medizinische Behandlungsmethoden wählen,
wie Yoga, Meditation, „Biofeedback" und andere. Trotz ihrer
Unterschiede haben all diese Behandlungen eines gemeinsam: sie gehen
nicht unbedingt von der Annahme einer Krankheit aus und sie sind -
während sie leidenden Menschen durchaus helfen können -
ebenso für diejenigen anwendbar, die lediglich ihr
persönliches Potential erweitern wollen.
Eine weitere
Methode, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut, ist die
„Verhaltenstherapie". Sie beruht ebenfalls auf einem lerntheoretischen
Modell für menschliches Verhalten und bedient sich verschiedener
Belohnungsund Bestrafungstechniken, um erwünschtes Verhalten zu
verstärken und unerwünschtes zu beseitigen. Auch hier geht
man nicht unbedingt von einem bestimmten Krankheitsbegriff aus. Das
Verfahren ist ausgesprochen pragmatisch: „Falsch Gelerntes" wird ohne
Spekulationen über seinen möglichen Hintergrund in einem
kontrollierten Lernprozess korrigiert. Es überrascht indes nicht,
dass dieses unkritische Vorgehen viele freiheitsliebende Menschen
abschreckte, die die dabei „therapeutisch" angewendeten Strafen als
ausgesprochen abschreckend empfanden. In den Anfangsjahren der
Anwendung dieser Methoden bediente man sich ihrer darüber hinaus
häufig auch in Fällen, in denen es besser gewesen wäre,
nicht einzugreifen. So wurden zum Beispiel Homosexuelle
merkwürdigen und empörenden Behandlungsversuchen unterworfen,
die sie in Heterosexuelle verwandeln sollten. (Das Umgekehrte wurde
bislang nicht versucht.) Solcher Missbrauch hat inzwischen zu
berechtigter Ablehnung geführt. Zweifellos ist
„Verhaltenstherapie" unter strikter Einhaltung bestimmter Regeln und in
den Händen gewissenhafter Fachleute eine echte Hilfe und moralisch
vertretbare Methode.
In jüngerer Vergangenheit wurden
noch andere nicht-medizinische Modelle für abweichendes Verhalten
vorgeschlagen. Szasz schlug zum Beispiel für richtiges und
falsches Verhalten des Menschen ein Modell des „Regelnbefolgens" oder
des „Spielens" vor. Seine Überlegung besteht darin, dass Menschen
im Laufe der Zeit die Regeln des Lebens wie Spielregeln lernen und dass
sie lernen, welche Spiele in welchen Situationen den Vorrang haben.
Konflikte entstehen dann, wenn Menschen sich über die Regeln
uneins sind, aber auch wenn sie Regeln während des Spiels
verändern oder sich weigern, für neue Spiele neue Regeln zu
akzeptieren. Ein Teil dieser Konflikte wird offen ausgetragen und
drückt sich in sozialen Auseinandersetzungen, Kämpfen oder
Revolutionen aus. Andere Konflikte bleiben im Inneren des einzelnen
verschlossen und verändern das „normale" Verhalten des
Individuums. Diese Veränderungen werden oft fälschlich
für „Geisteskrankheit" gehalten, wo sie doch in Wahrheit einfach
Lebensprobleme sind, Ausdruck der Unfähigkeit, in einer
schwierigen Situation erfolgreich sich zu behaupten. In anderen
Fällen werden Menschen als geisteskrank bezeichnet, um sie aus dem
sozialen Spiel auszuschließen, in dem sie den anderen lästig
geworden sind.
Natürlich lässt sich das Modell von
Szasz mit dem „Etikettierungsmodell" von Wissenschaftlern wie Goffman
und Scheff gut vereinbaren. Wie bereits beschrieben, kann jede Art
abweichenden Verhaltens am besten als Etikett beschrieben werden, das
dem Abweichenden von der angepassten Mehrheit zugewiesen wird. Jede
Untersuchung oder Behandlung abweichenden Verhaltens muss daher
zugleich die sozialen Zusammenhänge berücksichtigen.
Diejenigen, die abweichendes Verhalten (einschließlich von
„Geisteskrankheit") als individuelles Problem betrachten, erfassen das
Problem nur zum Teil. Auf alle Fälle ist dies nach dem
Etikettierungsmodell nicht ein medizinisches Problem.
Die
bekanntesten heute gebräuchlichen Erklärungsmodelle für
abweichendes Verhalten wurden eingehend von zwei Psychiatern, M.
Siegler und H. Osmond, in einer ausführlichen Studie vorgenommen.
Durch den Vergleich unterschiedlicher Modelle für „Wahnsinn",
Drogenabhängigkeit und Alkoholismus konnten sie die relativen
Vorzüge, Grenzen und Implikationen jedes einzelnen Modells
darstellen und damit der gegenwärtigen Verwirrung in diesem
Bereich zumindest teilweise ein Ende setzen. Die Bedeutung ihrer
Untersuchungen reicht jedoch noch weiter: Obwohl sie selbst in dieser
Richtung keine Versuche unternahmen, kann man ihre Methode gut auf das
Problem abweichenden Sexualverhaltens anwenden. Daher scheint es
sinnvoll, eine vereinfachte Darstellung einer ihrer Übersichten in
den vorliegenden Text aufzunehmen. Sie ist aus sich heraus
verständlich und bedarf keines weiteren Kommentars (vgl. die
Tabelle „Modelle sexueller Abweichung").
Siegler und Osmond
gehen keineswegs grundsätzlich von einem medizinischen
Erklärungsmodell ab. Sie sind im Gegenteil der Meinung, es habe
einzigartige Vorteile und in der Zukunft wichtige Möglichkeiten
der Anwendung. Natürlich fordern sie von ihren Kollegen eine
höhere Kritikfähigkeit und eine gewisse therapeutische
Zurückhaltung. Psychiater müssen lernen, dass nicht jeder,
der ihre Hilfe sucht oder der ihnen zugewiesen wird, geisteskrank ist.
Das Herausfinden solcher vorgeblicher Patienten gehört zu den
beruflichen Pflichten. In vielen solcher Fälle bietet eine
nicht-medizinische Behandlung die besten Aussichten und sollte daher
vorgeschlagen werden. Dennoch verbleibt eine hinreichende Anzahl
individueller und sozialer Probleme, die mit Hilfe einer medizinisch
orientierten Psychiatrie gelöst werden können. Es scheint
tatsächlich, dass viele Psychiater in der Vergangenheit vor allem
deshalb gescheitert sind, weil sie nicht genügend Vertrauen in das
medizinische Erklärungsmodell hatten und sich nicht eng genug
daran gehalten haben. Auch hier bietet die Betrachtung sexuell
abweichenden Verhaltens interessante Hinweise.
Im 19.
Jahrhundert wurden angebliche Geisteskranke, die unter
„Masturbationswahnsinn", „Nymphomanie" oder „Homosexualität"
litten, häufig nicht nur für krank, sondern auch von ihren
eigenen behandelnden Ärzten für unmoralisch gehalten. Im
wohlverstandenen medizinischen Erklärungsmodell ist jedoch kein
Raum für moralischen Tadel. Ganz im Gegenteil: es ist die
besondere Vollmacht eines Arztes, jemanden für krank zu
erklären und ihn so von der Verantwortung für seinen Zustand
freizustellen. Im engeren Sinn ist daher ein „Patient" per Definition
kein „Deviant". Er weicht zwar vielleicht von den akzeptierten Normen
ab, er tut dies jedoch mit offizieller Genehmigung, denn als Kranker
„kann er nichts dafür". Das heißt, dass ein Psychiater als
Arzt die Macht hat, sexuelle Nonkonformisten von ihrer moralisch
negativ bewerteten Rolle des Devianten zu befreien und ihnen die
moralisch neutrale Rolle des Kranken zuzuweisen. Diese Entscheidung
kann sie bereits vor Verfolgung und Verurteilung schützen. Das ist
auch der Grund, weshalb ein Psychiater, der in solchen Fragen keine
klaren Entscheidungen fällt, die Grundlage seines Berufes
untergräbt. Jede Ambivalenz, jedes Verwechseln von medizinischen
mit moralischen Betrachtungsweisen ist nicht nur dem Patienten
abträglich, sondern auch der Psychiatrie selbst. Die Tatsache,
dass „psychiatrische Patienten" jemals als Devianten betrachtet und
behandelt werden konnten, weist auf ein historisches Versagen der
Psychiater hin.
Andererseits kann man durchaus verstehen,
dass es bestimmten Menschen schwerfällt, ihr moralisches Urteil
angesichts „abnormen" Sexualverhaltens außer Kraft zu setzen.
Zunächst sind in unserer Kultur Moral und sexuelle Anpassung fast
synonym geworden. Darüber hinaus - und das ist besonders wichtig -
weiß die Allgemeinheit, dass die psychiatrische Diagnose oft eine
Hilfskonstruktion darstellt, die es dem Arzt ermöglicht,
moralische Fragen außer acht zu lassen. Schließlich muss
man auch daran erinnern, dass viele sexuelle Nonkonformisten zu Recht
die Rolle des Kranken zurückweisen, die ihnen von wohlmeinenden,
aber vorurteilsbeladenen Ärzten zugewiesen wird. Um zu unserem
Beispiel zurückzukehren, haben Masturbierende, „Nymphomaninnen"
und „Homosexuelle" sich erfolgreich nicht nur gegen das negative
Etikett der Sünde und des Verbrechens zur Wehr gesetzt, sondern
auch gegen das gutartigere Etikett der Krankheit.
Solche
Beobachtungen scheinen die Kritiker des medizinischen Modells zu
unterstützen, die darauf bestehen, das Problem moralisch zu
beurteilen, obwohl ihre Moral durchaus unterschiedlich von
traditionellen Maßstäben sein kann. Letztendlich muss man
deshalb auf vorurteilsfreie weitere Untersuchungen zur menschlichen
Sexualität hoffen, auf intensive Diskussionen aller Beteiligten
und auf die Zusammenarbeit aller Seiten. So schwierig es manchmal sein
mag, die Verpflichtung auf die Vernunft bietet offensichtlich die
besten Grundlagen für den Umgang mit nichtkonformem
Sexualverhalten.
Modelle sexueller Abweichung
|
|
religiöses Modell
|
juristisches Modell
|
medizinisches Modell
|
psychoanalytisches Modell
|
Etikettierungs-Modell
|
Ursache der Abweichung
|
Besessenheit durch Dämonen, Versuchung durch den Teufel, Sündhaftigkeit
|
“krimineller Charakter" des Abweichenden
|
nicht immer bekannt, aber oft natürliche Ursache (Krankheit) angenommen
|
persönliche, weitgehend unbewusste Erfahrungen, gestörte psychosexuelle Entwicklung
|
Etikettierung durch Kräfte der Intoleranz
|
Bedeutung der Abweichung
|
Sünde, Ketzerei. Der Abweichende ist besessen oder böse.
|
Straftat, Verbrechen
|
Symptom einer Krankheit
|
symbolisches Ausagieren von unbewussten und ungelösten Kindheitskonflikten
|
wird bestimmt durch diejenigen, die die Etikettierung vornehmen. (In heutiger Sicht meist Verbrechen oder Krankheit.)
|
Formen der Intervention
|
Exorzismus, Reue, Beichte
|
Bestrafung, manchmal auch “Wiedereingliederung"
|
medizinische Behandlung, Medikamente, Elektroschocks, Psychochirurgie usw.
|
Psychoanalyse.
Der Abweichende wird sich seiner bisher verborgenen Konflikte bewusst
mit Hilfe freier Assoziation, Traumdeutung usw.
|
gerichtliche Bestrafung oder psychiatrische Behandlung; oft unfreiwillig.
|
Intervenierende Autorität
|
Priester
oder religiöse Autorität; manchmal nach Wahl
des Betroffenen, manchmal nach Wahl der Gesellschaft
|
Polizei, Richter, Strafvollzugsbeamter; immer nach Wahl der Gesellschaft
|
Arzt, Psychiater; manchmal nach Wahl des Betroffenen, meist nach Wahl der Gesellschaft
|
Psychoanalytiker; immer nach Wahl des Betroffenen
|
heute gewöhnlich Richter oder Psychiater; nach Wahl des Etikettierenden
|
Rechte und Pflichten des Betroffenen
|
Recht auf Exorzismus; Pflicht zur Buße
|
Recht als unschuldig zu gelten bis zum Schuldbeweis; Pflicht, die Strafe anzunehmen und zu sühnen
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Recht
als krank, nicht als böse angesehen zu werden; Pflicht,
Genesung zu suchen und ärztlichen Rat anzunehmen
|
Recht,
sein Verhalten nicht moralisch verurteilt sondern symbolisch
interpretiert zu bekommen; Pflicht zur Zusammenarbeit mit dem
Analytiker
|
Keine Rechte; keine Pflichten
|
Rechte und Pflichten der Gesellschaft
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Recht, Sünder zu verdammen und auszustoßen; Pflicht, Reumütigen zu helfen
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Recht auf Schutz vor Straf tätern; Pflicht zur Strafe
|
Recht zum Schutz vor gefährlichen Kranken; Pflicht, ihnen medizinische Behandlung zu ermöglichen
|
Keine Rechte; Pflicht, abweichendes Sexualverhalten als Ausdruck einer seelischen Störung aufzufassen
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Recht auf Sanktion gegen sozial schädliche Abweichende; Pflicht, alle anderen Abweichenden in Ruhe zu lassen
|
Zielvorstellung des Modells
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Seelenrettung
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Verbrechensbekämpfung
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Heilung von Krankheit, den Abweichenden von persönlicher Schuld freizusprechen
|
Lösung unbewusster seelischer Konflikte des Abweichenden
|
Für
die Intoleranz: das schlechte Bestehende durch Etikettierung und
Korrektur von Abweichenden zu schützen. Für die
Toleranz; Befreiung der Unterdrückten.
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Diese
Übersicht ist die Bearbeitung und Erweiterung einer vergleichbaren
Tabelle von M. Siegler und H. Osmond (Models of Madness, Models of
Medicine, New York, 1974, S. 16-18)
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