Die Sexualforschung

13.1 Die Sexualforschung


Die Untersuchung der Sexualfunktionen und des Sexualverhaltens hat eine lange Geschichte, die bis ins Altertum reicht. Griechische Philosophen wie Platon und Aristoteles zum Beispiel diskutierten bereits die Ursachen und Vorteile von Homosexualität, Ärzte wie Hippokrates entdeckten wichtige Fakten über die menschliche Fortpflanzung. Weitere Entdeckungen gehen auf den römischen Arzt Soranus zurück, der die erste Abhandlung über Schwangerschaftsverhütung schrieb, und durch Galen, der eine erste zusammenhängende Theorie über das Sexualverhalten entwickelte. Mit dem Niedergang des Römischen Reichs und dem Sieg der nordeuropäischen „Barbaren" gingen viele alte Kenntnisse verloren. Einige wurden jedoch durch die islamischen Ärzte im Mittleren Osten und in Afrika bewahrt, die ihr Wissen später in das mittelalterliche Spanien und durch den Stauferkaiser Friedrich II. nach Italien brachten. Gegen Ende des Mittelalters entstand in verschiedenen Ländern Europas die moderne experimentelle Wissenschaft. Gelehrte und Künstler der Renaissance zeigten ein neues Interesse am menschlichen Körper und begannen, ihn genauer zu untersuchen. Ein berühmtes Beispiel stellen die Skizzenbücher von Leonardo da Vinci dar, die sehr genaue Darstellungen der sexuellen Reaktion, des Koitus, der Entwicklung des Fötus usw. enthalten. Diese Skizzen, die eigentlich nur durch direkte Beobachtung entstanden sein können, beweisen, dass Leonardo sich nicht mehr mit dem Studium der Schriften von Wissenschaftlern des Altertums zufriedengab, sondern eigene anatomische Studien unternahm. Sein Werk wurde dann von nicht weniger berühmten Anatomen, wie Fallopio, Berthelsen (Bartholinus) und de Graaf, fortgesetzt, die menschliche Leichen sezierten und so einen Beitrag zum besseren Verständnis der inneren Geschlechtsorgane leisteten.


Die zunehmende Kenntnis der Anatomie im 16. und 17. Jahrhundert war natürlich von großem medizinischem Wert, da Ärzte nun ihre Patienten wirksamer behandeln und ihnen selbst bei bestimmten Fortpflanzungsproblemen helfen konnten. Leider ging die Medizin im 18. Jahrhundert einen erheblichen Schritt zurück und erzeugte viel sexuelles Elend, indem sie die angeblichen gesundheitlichen Schäden der Masturbation „entdeckte". Ärzte des Altertums wie Galen waren davon überzeugt gewesen, dass Masturbation manchmal notwendig und gesund sei, weil sie annahmen, der Samen könne giftig werden, wenn er nicht ejakuliert würde. Diese alte Therapie wurde jetzt von der „aufgeklärten" Medizin in eine moderne Krankheit verwandelt, indem erklärt wurde, der ständige Verlust von Samen führe zur Schwächung des Körpers oder sogar zum Tode.

 


Frühe Sexualforschung


Im Mittelalter blieben die antiken medizinischen und sexologischen Kenntnisse vor allem durch islamische Ärzte erhalten, die daneben auch eine Reihe neuer Theorien entwickelten. Später, im Zeitalter der europäischen Renaissance, begannen Künstler und Gelehrte dann mit systematischen Studien der menschlichen Anatomie.


Abbildung aus der Handschrift eines islamischen Chirurgen, die eine Operation der männlichen Geschlechtsorgane zeigt (15. Jahrhundert).


Zwei Seiten aus dem Skizzenbuch des Leonardo da Vinci: Studie des Koitus (links) und der Entwicklung des Fötus (rechts).

 


Paradoxerweise begann der medizinische Kreuzzug gegen die Masturbation im selben Augenblick, als freidenkende Philosophen die asketischen christlichen Lehren in Zweifel zu ziehen anfingen und als verschiedene Forscher mit neuen Informationen über das ungehemmte Sexualverhalten bei Naturvölkern aus den entferntesten Winkeln der Erde zurückkehrten. Der französische Kapitän Bougainville und Kapitän Cook aus England fanden auf Tahiti und anderen Pazifikinseln glückliche, sinnenfrohe Menschen, und diese Entdeckungen ließen erhebliche Zweifel an der europäischen Sexualmoral aufkommen. Schriftsteller wie Voltaire und Diderot kritisierten diese Normen offen als inhuman, und in der Französischen Revolution wurde erneut der Ruf nach Gesetzesreform und größerer sexueller Freiheit laut. In England wurde die traditionelle Überbewertung der Fortpflanzung durch den frommen, aber pragmatischen Thomas A. Malthus in seinem „Essay on the Principle of Population" (1798) in Frage gestellt. Er prophezeite, dass die Bevölkerung schneller wachsen würde als der Nahrungsvorrat. Um dieses Unglück abzuwenden, empfahl er „Selbstbeherrschung" und späte Heirat. Derlei Vorschläge wurden jedoch bald von aufgeklärteren Autoren zurückgewiesen, die statt dessen Verhütungsmittel propagierten. Den wichtigsten Versuch in dieser Hinsicht unternahm der nordamerikanische Arzt Knowlton in seinem Buch „The Fruits of Philosophy, Or the Private Companion of Young Married People" (1832). Dieses Werk bot, obgleich es ausgesprochen nüchtern und reichlich moralistisch geschrieben war, eine sehr umfassende Beschreibung von Verhütungsmethoden seit der Zeit des Soranus. Trotz der wissenschaftlichen Qualitäten des Buches missfiel es den Behörden: Knowlton wurde bestraft und ins Gefängnis gesperrt.


Das war ein deutliches Zeichen dafür, dass die bestehende Ordnung bereit war, sich zu verteidigen. Die westlichen Kirchen und Regierungen hatten kein Interesse am Fortschritt der Sexualforschung und wollten auf keinen Fall, dass deren Ergebnisse der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich würden. Die folgenden Jahrzehnte bewiesen, dass das Signal richtig verstanden worden war. Viele Wissenschaftler wurden selbst äußerst intolerant und begnügten sich damit, den Status quo zu verteidigen. Das war auch die Phase, in der die Psychiatrie als neue medizinische Wissenschaft entstand. Psychiater nahmen den Kampf gegen die „Selbstbefleckung" auf und entwickelten immer phantastischere Theorien über ihre Ursachen und Konsequenzen. Die französischen Psychiater Morel, Magnan und Charcot bestärkten die überkommene Moral, indem sie ungewöhnliches Sexualverhalten einer „Entartung" oder „Degeneration" zuschrieben, die die Ursache aller „Perversionen" sei. Russische, deutsche und österreichische Ärzte entwickelten das Konzept der „sexuellen Psychopathie", die für alle sexuellen Abweichungen verantwortlich zu machen sei. 1886 führte der Wiener Psychiater Richard von Krafft-Ebing viele dieser Abweichungen auf und ordnete sie verschiedenen Kategorien zu. Dies geschah in seinem einflussreichen Handbuch „Psychopathia Sexualis". Ebenso wie der Titel waren auch lange Textpassagen in lateinischer Sprache verfasst, um dem gewöhnlichen Leser einen Zugang zum Text zu verwehren.


Erst zu Beginn unseres Jahrhunderts konnte sich eine kritischere Einstellung durchsetzen. Iwan Bloch verwarf das Konzept der „Entartung". Sigmund Freud folgte ihm und erklärte „abnormes" Sexualverhalten aus traumatischen Kindheitserlebnissen. Gleichzeitig erarbeitete er eine scharfsinnige und wenig schmeichelhafte Analyse der modernen Zivilisation. Eher praxisorientierte Studien wurden von Havelock Ellis, Albert Moll und Magnus Hirschfeld durchgeführt, die mit ihrem Werk den Grundstein zu einer neuen Forschungsrichtung legten: der Sexualwissenschaft oder „Sexologie". Diese Studien wurden später von nordamerikanischen Wissenschaftlern wie Kinsey, Masters und Johnson fortgesetzt.


Wichtige Forschungsbemühungen galten auch den Geschlechtskrankheiten. 1906 entwickelte Wassermann seine berühmte Nachweisreaktion für Syphilis, 1910 entdeckten Ehrlich und Hata die erste erfolgreiche Behandlungsmethode. Fleming entdeckte 1928 das Penicillin und ebnete damit den Weg zu den heutigen wirkungsvollen Heilmethoden.


Der Erste Weltkrieg (1914-1918) erschütterte die herrschende moralische Ordnung und führte zu zunehmender sexueller Freiheit. Frauen emanzipierten sich zusehends und wiesen ihre tradierten Geschlechtsrollen zurück. Zusammen mit anderen unterdrückten Gruppen fanden sie neue Argumente in den Veröffentlichungen von Anthropologen, die Sexualität im Kulturvergleich untersuchten. Hier boten die Pazifischen Inseln einmal mehr das Material für eine moralische Lektion. In den zwanziger und dreißiger Jahren untersuchten Bronislaw Malinowski und Margaret Mead das Sexualverhalten der Einwohner der Trobriand-Inseln und Samoas. Auch das Studium anderer Naturvölker bewies, dass weder unsere westlichen Sexualnormen noch unsere Konzepte von Maskulinität und Femininität allgemeingültig sind. Sie beweisen auch, dass umfassende sexuelle Toleranz nicht zum moralischen Verfall führen muss. 1951 fassten Clellan S. Ford und Frank A. Beach in ihrem Buch „Patterns of Sexual Behavior" noch einmal eine große Zahl anthropologischer Forschungsergebnisse zusammen und kamen zum gleichen Ergebnis.


Heute wird die Sexualforschung auf vielen Gebieten fortgeführt und ist als Wissenschaft zunehmend anerkannt. Gelegentlich nimmt man sie sogar zu ernst und erwartet zu viel von ihr. Laien sind zum Beispiel oft der Meinung, die moderne Sexualforschung habe zu völlig neuen Einsichten geführt. Dies trifft jedoch nur teilweise zu. Denn die „revolutionären" Entdeckungen Freuds (kindliche Sexualität), Kinseys (Ausmaß homosexuellen Verhaltens in der Bevölkerung und Sexualität Jugendlicher) und Masters' und Johnsons (das überlegene Orgasmuspotential von Frauen) waren teilweise schon im Altertum und Mittelalter allgemeines Wissen. Dieses Wissen war lediglich in den letzten Jahrhunderten in der westlichen Welt unterdrückt worden. So haben moderne Sexualforscher in vielen Fällen nur sehr alte Erkenntnisse reaktiviert.


Das soll jedoch die Bedeutung dieser Erkenntnisse nicht abwerten, sondern zeigen, dass es sinnvoll ist, sie auch unter historischen Gesichtspunkten zu betrachten. Auf den folgenden Seiten werden die Arbeiten einiger herausragender Sexualforscher dargestellt.Ein abschließender Teil befasst sich mit den heutigen Problemen der Sexualforschung und möglichen Entwicklungen in der Zukunft.


 

[Titelseite] [Inhalt] [Vorwort z. dt. Ausgabe] [Vorwort z. 2. Auflage] [Der menschl. Körper] [Das Sexualverhalten] [Sexualität & Gesellsch.] [Die sozialen Rollen] [Anpassung] [Ehe und Familie] [Sexuell Unterdrückte] ["Sexuelle Revolution"] [Anhang (Akt. Themen)] [Bildnachweis]