Pioniere der Sexualforschung

13.1.1 Pioniere der Sexualforschung


Sexualforschung im heutigen, engeren Sinne gibt es seit dem 19. Jahrhundert. Diese Forschung begann in verschiedenen westlichen Ländern, sie wurde von Menschen verschiedener Herkunft mit unterschiedlicher Methodik betrieben. Die meisten Pioniere der Sexualforschung führten einen langen und harten Kampf um öffentliche Anerkennung, einige wurden selbst von ihren Kollegen totgeschwiegen und verstoßen oder von ihren Regierungen verfolgt. Dennoch erwies sich ihre Tätigkeit am Ende als sinnvoll, und wir verfügen heute über einen allgemein anerkannten Wissensstand auf dem Gebiet der Sexualität, der sich täglich vermehrt.


Beim begrenzten Umfang des vorliegenden Buches können nur einige der hervorragendsten Wissenschaftler genannt werden. So unvollständig die Liste auch sein mag, kann sie vielleicht doch zu einem besseren Verständnis der Geschichte und der Probleme der Sexualforschung beitragen.


Sigmund Freud (1856-1939)


Sigmund Freud, der österreichische Arzt und Begründer der Psychoanalyse, begann seine Laufbahn als Neurologe in Wien, wo er viele sogenannte hysterische Patienten behandelte. Das waren Menschen, die unter „unerklärlichen" körperlichen Funktionsstörungen litten, das heißt, die nach allen herkömmlichen diagnostischen Klassifikationen gesund waren und deren Funktionen hätten eigentlich normal sein müssen. In langen Aussprachen mit diesen Patienten entdeckte Freud, dass ihre merkwürdigen Störungen durch unbewusste sexuelle Konflikte verursacht waren. Erfahrungen bei der Behandlung dieser Patienten führten schließlich zur Entwicklung einer besonderen Form der Therapie, der Psychoanalyse (griech. wörtl: Untersuchung der Seele oder des Geistes), bei der der Patient durch „freie Assoziation" nach und nach die verborgenen Quellen seiner Probleme für den Analytiker und für sich selbst (was noch wichtiger war), wiederentdeckte und bearbeitete. War der Konflikt erst einmal „an die Oberfläche gebracht", das heißt bewusst geworden, konnte er intellektuell bearbeitet werden. Im Verständnis der Psychoanalyse war der Patient damit „geheilt" oder wenigstens wieder funktionsfähig gemacht.


Bei der Zielsetzung des vorliegenden Buches kann die Psychoanalyse als Theorie nicht eingehend erörtert werden. Freud erweiterte sie im Laufe der Jahre und überarbeitete sie wiederholt, sein umfangreiches Schrifttum und seine komplexen Gedanken für eine breite Öffentlichkeit zusammenzufassen, bleibt bis zum heutigen Tage ein schwieriges Unternehmen. Einige Aspekte der Freudschen Theorien sind jedoch an anderer Stelle kurz zusammengefasst (vgl. Einleitung zum Kap. 6 „Die Entwicklung des Sexualverhaltens").


Freud war ein wirklich kultivierter Mensch mit weitreichenden Interessen, ein Meister der Sprache und ein scharfsinniger Denker. Das trug zweifellos zu seinem späteren Erfolg und seinem internationalen Ruf bei. Zunächst fanden Freuds Theorien jedoch nur wenig Zustimmung. Die große Bedeutung, die er der Sexualität, insbesondere der infantilen Sexualität, beimaß, verursachte einen Sturm der Entrüstung und machte ihn selbst unter seinen Kollegen zum Außenseiter. An der Wiener Universität wurde er zwar Dozent und erhielt später Professorentitel, aber kein Ordinariat. Dennoch konnte er sich durch seine therapeutische Praxis, seine Vorlesungen und seine wichtigsten Abhandlungen („Die Traumdeutung" (1900), „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (1905), „Totem und Tabu" (1913) sowie „Jenseits des Lustprinzips" (1919)) eine große Anhängerschaft sichern. Darüber hinaus versammelte er eine Reihe junger, äußerst begabter Schüler um sich. Im Laufe der Jahre konnte Freud so erleben, wie sich die psychoanalytische Bewegung über ganz Europa ausbreitete, wenngleich einige seiner früheren Studenten sich von ihm abwandten und eigene psychoanalytische Schulen begründeten. Gegen Ende seines Lebens schien allerdings der größte Teil seines Schaffens vergeblich gewesen zu sein. Unter dem nationalsozialistischen Regime wurde die Psychoanalyse als „jüdische Wissenschaft" verboten, Freuds Bücher wurden öffentlich verbrannt und seine Anhänger verfolgt. Als Hitler schließlich 1938 in Österreich einmarschierte, war Freud gezwungen, nach England ins Exil zu gehen, wo er im darauffolgenden Jahr an Krebs starb.


Freuds Einfluss ist seit seinem Tode ständig gewachsen. Wenngleich viele seiner Auffassungen umstritten sind und manche seiner Behauptungen widerlegt wurden, nimmt sein Gesamtwerk einen hervorragenden Platz im westlichen Denken ein. Freud näherte sich in einem Zeitalter der Prüderie und Heuchelei Fragen der Sexualität mit einer wissenschaftlich-nüchternen Einstellung. Dadurch, dass er das Sexualverhalten offen und in klaren Begriffen besprach, trug er dazu bei, es zu einem wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand zu machen. Er erweiterte den Begriff der Sexualität und legte so den Grundstein für wichtige spätere Forschungen.


Havelock Ellis (1859-1939)


Der englische Gelehrte und Essayist Henry Havelock Ellis interessierte sich schon in jungen Jahren für die wissenschaftliche Erforschung sexueller Probleme. Er studierte Medizin und promovierte, hatte aber nie eine ärztliche Praxis. Statt dessen wandte er sich dem Schreiben zu und leistete im Laufe der Jahre wichtige Beiträge zum besseren Verständnis der menschlichen Sexualität. Sein wichtigstes Werk ist „Studies in the Psychology of Sex", das er zwischen 1896 und 1928 in sieben Bänden veröffentlichte. Als der erste Band in England erschien, wurde er von Kritikern als obszön bezeichnet; und der öffentliche Skandal rief alsbald die Gesetzeshüter auf den Plan. Ein angeklagter Buchhändler verwies auf den wissenschaftlichen Wert des Werkes, aber der Richter verwarf diese Argumentation mit der Bemerkung, sie sei nichts weiter als „ein Vorwand, um eine schmutzige Publikation zu verkaufen". Die Folge war, dass das Werk in England und den USA nicht legal in den Handel gebracht werden konnte und der Öffentlichkeit bis 1935 vorenthalten blieb. Nur Ärzte durften es lesen.


Dennoch nahm der Ruf und Einfluss des Autors in vielen Ländern zu. Er korrespondierte mit Freud (der einige seiner wissenschaftlichen Begriffe und Ausdrücke übernahm), und er beteiligte sich aktiv an der Bewegung zur Sexualreform. Er war einer der entschiedensten Verfechter allgemeiner Sexualerziehung und der Frauenemanzipation.


Albert Moll (1862-1939)


Albert Moll, ein Berliner Nervenarzt, war einer der bedeutendsten Pioniere der Sexualwissenschaft. Als einer der ersten medizinischen Autoren schrieb er grundlegende Studien zur Homosexualität, zum „Sexualtrieb" und zur kindlichen Sexualität: „Die conträre Sexualempfindung" (1891), „Untersuchungen über die Libido sexualis" (1897) und das „Sexualleben des Kindes" (1909). Diese Werke hatten einen erheblichen, wenn auch nicht immer offen zugegebenen Einfluss auf Sigmund Freud. Moll lehnte allerdings die Psychoanalyse ab und war bald mit Freud persönlich verfeindet. Auch mit Bloch und Hirschfeld stand er nicht auf gutem Fuße. Dennoch erreichte er eine wohlverdiente Prominenz durch die Herausgabe seines Handbuchs der Sozialwissenschaft (2 Bde., 1911 und 1926) und durch die Gründung einer „Internationalen Gesellschaft für Sexualforschung" (1913), die 1926 einen großen Kongress in Berlin abhielt. Ein zweiter Kongress fand 1930 in London statt. Obwohl er schließlich als Jude verfolgt und geächtet wurde, blieb er in Berlin und starb am gleichen Tag wie Freud.


Iwan Bloch (1872-1922)


Iwan Bloch arbeitete als Arzt in Berlin und spezialisierte sich auf Geschlechtskrankheiten. Seine medizinischen, historischen und literarischen Forschungen verschafften ihm bald breite Anerkennung.Er veröffentlichte umfangreiche Schriften über sexuelle Fragen, war Mitbegründer der ersten Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik (1913) und arbeitete aktiv in der Bewegung zur Sexualreform. Seine beiden Hauptwerke „Das Sexualleben unserer Zeit" (1907) und das von ihm herausgegebene „Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen" (1912-1925) erwiesen Bloch als einen Pionier der modernen Sexualforschung. Bloch prägte auch den neuen Begriff der Sexualwissenschaft, als deren eigentlicher Begründer er gilt.


Magnus Hirschfeld (1868-1935)


Magnus Hirschfeld arbeitete zunächst als praktischer Arzt, dann als Spezialist für „Sexualstörungen" in Berlin. In seiner medizinischen Praxis und durch eigene wissenschaftliche Forschungen wurde er sich der psychischen und sozialen Probleme Homosexueller bewusst und kam bald zu der Erkenntnis, dass deren gesetzliche Verurteilung ungerechtfertigt, irrational und inhuman sei.


1897 begründete er das „wissenschaftlich-humanitäre Komitee" mit dem Ziel der Förderung wissenschaftlicher Untersuchungen zur Homosexualität. Dieses Komitee setzte sich unter anderem auch das Ziel, einzelnen Homosexuellen individuelle Hilfe zu bieten. Im Rahmen seiner wissenschaftlichen und humanitären Arbeit gab Hirschfeld gleichzeitig das „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" heraus, in dem versucht wurde, sowohl die Fachwelt als auch die breite Öffentlichkeit über Fragen der Homosexualität und andere sexualwissenschaftliche Themen aufzuklären. In dieser Zeitschrift wurden im Laufe der Jahre Beiträge vieler bedeutender Autoren wie Havelock Ellis, v. Krafft-Ebing und Bloch veröffentlicht. Ein in allen Beiträgen immer wiederkehrendes Thema ist der Kampf für die Abschaffung der Gesetze gegen homosexuelles Verhalten in Deutschland.


Hirschfeld gab die erste Zeitschrift für Sexualwissenschaft heraus (1908) und veröffentlichte eine große Zahl umfangreicher Schriften. Die wichtigsten seiner Bücher sind „Die Transvestiten" (1910; der Begriff stammt von ihm), „Die Homosexualität des Mannes und des Weibes" (1914), „Sexualpathologie" (3 Bände, 1916-1920) und „Geschlechtskunde" (5 Bände, 1926-1930). Darüber hinaus war er an der Produktion einer Reihe von Stummfilmen beteiligt, die von Sexualreform und -erziehung handelten. Der bekannteste von ihnen ist „Anders als die anderen" (1919), ein eindringlicher Aufruf zur Reform der deutschen Gesetze gegen homosexuelles Verhalten. Hirschfeld selbst tritt in diesem Film gemeinsam mit dem berühmten Schauspieler Conrad Veidt auf. Teile des Films sind noch heute in verschiedenen Archiven zu finden.


Nach dem Ersten Weltkrieg gründete Hirschfeld das erste „Institut für Sexualwissenschaft", das im Jahre 1919 der neuen demokratischen Regierung Deutschlands übereignet wurde. Das Institut hatte Laboratorien, ein großes Archiv und eine wissenschaftliche Bibliothek. Es bot darüber hinaus Beratungen und Behandlungen für die Öffentlichkeit. Mittellose Patienten wurden kostenlos behandelt. 1921 organisierte Hirschfeld in Berlin den ersten „Internationalen Kongress für Sexualreform auf wissenschaftlicher Grundlage", dem sieben Jahre später die Gründung der „Weltliga für Sexualreform" folgte. Zu den Mitgliedern und Gönnern zählten Auguste Forel, Havelock Ellis, Helene Stöcker, Norman Haire, Benjamin Lindsey und andere Sexualreformer.


Im Mai 1933, wenig mehr als drei Monate nach der Machtübernahme Hitlers, plünderten die Nationalsozialisten Hirschfelds Institut in Berlin, verwüsteten die Sammlung und verbrannten die Bücher. Hirschfeld selbst befand sich bereits seit über zwei Jahren im Ausland, da er schon vorher seines Lebens in Berlin nicht mehr sicher war. Er verstarb zwei Jahre später in Frankreich.


Unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde die Verfolgung Homosexueller und anderer „Devianten" weitergeführt und erreichte bald nie gekannte Ausmaße. Viele von ihnen starben in Konzentrationslagern. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde den wenigen Überlebenden in Deutschland keine Wiedergutmachung für ihre erlittenen Qualen zugestanden. Erst Ende der sechziger Jahre sollte Hirschfelds Arbeit Früchte tragen: die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland gegen homosexuelles Verhalten wurden überarbeitet, und zumindest Verkehr zwischen erwachsenen Homosexuellen wurde nicht länger verfolgt.


Max Marcuse (1877-1963)


Max Marcuse, ein Berliner Arzt, gehörte mit Helene Stöcker zu den Gründern des „Bundes für Mutterschutz" (1905) und gab für einige Jahre dessen Zeitschrift unter dem Namen „Sexual-Probleme" heraus.

Wichtiger war seine Herausgabe der von Iwan Bloch und Albert Eulenburg begründeten Zeitschrift für Sexualwissenschaft von 1919 bis zu ihrem Ende 1932. Marcuse selbst schrieb mehrere einflussreiche sexualwissenschaftliche Werke, er wurde aber zu Recht am meisten geschätzt als der Herausgeber des einbändigen Handwörterbuchs der Sexualwissenschaft (1923 und 1926), zu dem u. a. Sigmund Freud Originalbeiträge lieferte.

Marcuse musste 1933 aus Deutschland fliehen. Er entkam nach Palästina und starb in Israel, nachdem 1962 noch sein letztes Buch, ein „ABC-Führer durch Sexualität und Erotik", in Deutschland erschien.


Wilhelm Reich (1897-1957)


Wilhelm Reich studierte in Wien Medizin und praktizierte, unter dem Einfluss Sigmund Freuds, als Psychoanalytiker. Seine Arbeit an der Wiener Freien Psychoanalytischen Klinik führte zu Kontakten mit vielen armen Patienten. Dadurch wurde sein Interesse an ihren sozialen und ökonomischen Lebensfragen geweckt. Er kam bald zu der Überzeugung, dass Freud und seine Anhänger diese Probleme zu wenig beachtet hätten und dass im Interesse allgemeiner sexueller Gesundheit politische Veränderungen notwendig seien. Er beschäftigte sich daher mit marxistischer Theorie und trat, als er 1930 nach Berlin umzog, in die Kommunistische Partei Deutschlands ein. Er war an der Gründung einer kommunistischen, sexualpolitischen Organisation beteiligt („Sexpol") und hielt viele Vorträge über sexualpolitische Themen vor Arbeitern.


In dieser Zeit schrieb Reich eine große Zahl von Veröffentlichungen zu sexuellen und politischen Themen. Seine wichtigsten Bücher sind: „Die Funktion des Orgasmus" (1927), „Der Einbruch der Sexualmoral" (1932), „Charakteranalyse" (1933) und „Die Massenpsychologie des Faschismus" (1933). In diesen Schriften befasste sich Reich unter anderem mit sexuellen Funktionsstörungen, dem Ursprung sexueller Unterdrückung, und den psychischen Mechanismen, die Menschen für den Faschismus empfänglich machten.


Aufgrund seiner radikalen Auffassungen wurde Reich bald zu einer umstrittenen Person. Den Kommunisten wurde er mit seinen Bemühungen um sexuelle Befreiung immer lästiger, 1933 schlossen sie ihn förmlich aus der Partei aus. Auch unter seinen Fachkollegen hatte er sich inzwischen viele Feinde gemacht: 1934 wurde er aus der internationalen psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Auch im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland konnte er nicht länger bleiben. Seine Bücher wurden öffentlich verbrannt, Reich floh nach Dänemark, später nach Schweden und Norwegen. Schließlich ließ er sich 1939 in den Vereinigten Staaten nieder.


Ende der dreißiger Jahre wandelten sich Reichs politische Interessen zunehmend in ein Interesse für Biologie. Einst hatte er versucht, die Theorien von Marx und Freud in Einklang zu bringen, nun begann er, beide gleichermaßen abzulehnen. Statt dessen behauptete er, er habe die „Orgonenergie" entdeckt, eine elementare Lebensenergie, die er für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit als notwendig erachtete und die man zu therapeutischen Zwecken in speziell dafür hergestellten Kästen konzentrieren könne.


Fast alle Wissenschaftler, die von dieser neuen Theorie hörten, verwarfen sie sofort als unsinnig. Leider wurden Reichs wissenschaftliche Behauptungen immer phantastischer, er wurde auch im täglichen Leben zunehmend irrational. Es war daher schwierig, ihn weiterhin ernst zu nehmen. Im Jahre 1954 kam die staatliche Nahrungs- und Arzneimittelverwaltung in Washington (FDA) zu dem Ergebnis, die Arbeit Reichs sei gefährliche Quacksalberei, und verfügte die Einziehung und Vernichtung aller „Orgon-Akkumulatoren'' und fast aller seiner Schriften. Die Beschlagnahmeverordnung verbot darüber hinaus jede weitere Diskussion über die Orgontheorie, selbst die Verwendung des Begriffs „Orgon" wurde (zumindest für Reich und seine Anhänger) strafbar. Auf der Liste der Bücher, die vernichtet werden sollten, standen nicht nur Reichs neuere biologistische Schriften, sondern auch fast alle früheren Werke wie „Charakteranalyse" und „Die Massenpsychologie des Faschismus", in denen die „Orgon-Theorie" noch nicht erwähnt war. Reich widersetzte sich den behördlichen Anordnungen und sagte, wissenschaftliche Fragen könnten und dürften nicht vor Gericht entschieden werden. Daraufhin wurde er wegen Missachtung des Gerichts zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, seine Bücher wurden - genau wie im nationalsozialistischen Deutschland - offiziell verbrannt. Reich selbst starb kurz danach im Gefängnis von Lewisburg im Bundesstaat Pennsylvania.


Heute haben die Arbeiten Reichs (mit Ausnahme der Orgon-Theorie) wieder eine gewisse Anerkennung gefunden. Seine therapeutischen Ansätze, in denen verbale Kommunikation und bestimmte Massagetechniken verbunden werden, werden von vielen heutigen Therapeuten als sinnvoll erachtet. Auch seine ursprüngliche Idee, sexuelle Probleme als politische zu sehen, findet erneut Anerkennung. Insgesamt betrachtet man Reich heute als einen der wichtigsten Autoren in Fragen der Sexualität.


Alfred C. Kinsey (1894-1956)


Alfred C. Kinsey war Professor für Zoologie an der Universität Bloomington im US-Bundesstaat Indiana, als man ihn 1938 aufforderte, Vorlesungen über biologische Aspekte von Sexualität und Ehe zu halten. Beim Studium der zu diesem Thema verfügbaren Veröffentlichungen stellte er fest, dass viele ausgesprochen spekulativ und statistisch wenig gesichert waren. Auch wurde deutlich, dass die vorhandene Literatur nicht einmal die einfachsten Fragen beantworten konnte, die ihm seine Studenten stellten.


Kinsey begriff, dass ein enormes Bedürfnis nach neuen, umfassenden Untersuchungen der menschlichen Sexualität bestand, und er begann mit Hilfe Freiwilliger aus der Universität, die ersten von vielen sexuellen Lebensgeschichten zusammenzutragen. 1939 setzte er seine Arbeiten außerhalb der Universität fort und befragte Menschen in Kleinstädten der Umgebung sowie die Insassen der Gefängnisse des Bundesstaats. Bald wurde deutlich, dass das gesamte Projekt viele Jahre dauern und erhebliche Mittel erfordern würde. Diese Mittel wurden schließlich durch die Universität und verschiedenen öffentliche oder private Stiftungen bereitgestellt. So konnten Kinsey und seine Mitarbeiter Pomeroy, Martin und Gebhard ihre Studien fortsetzen. 1947 wurde das „Institut für Sexualforschung" gegründet, bis zum Jahr 1959 wurden über 18 000 Fallstudien zusammengetragen, die alle auf persönlichen Interviews beruhten.


Das umfangreiche Material bildete die Grundlage zweier Bücher: „Das sexuelle Verhalten des Mannes" (1948, deutsche Ausgabe 1955) und „Das sexuelle Verhalten der Frau" (1953, deutsche Ausgabe 1954). Diese großen Studien enthielten detaillierte Statistiken über das Sexualverhalten der durchschnittlichen Nordamerikaner aller Altersklassen, aller Bildungsgrade und aus allen Teilen des Landes. Die Ergebnisse zeigten eine erstaunliche Vielfalt von Verhaltensformen und machten deutlich, dass die Sexualgesetzgebung der Vereinigten Staaten vollkommen unrealistisch war. Es war zum Beispiel für die Öffentlichkeit (und für Kinsey selbst) ausgesprochen überraschend, dass homosexuelles Verhalten keineswegs eine Ausnahme, sondern weit verbreitet war und dass andere, angeblich von der Norm abweichende Handlungen unter sonst „normalen" Männern und Frauen häufig vorkamen. Das Buch enthielt überdies viele neue Einsichten in die Physiologie der sexuellen Reaktion und gab eine kritische Übersicht über Ergebnisse vorausgegangener Studien.


Natürlich war die Veröffentlichung dieser Arbeiten eine Sensation. Bald wurde Kinsey einerseits als mutiger Wissenschaftler gepriesen, andererseits auch als gedankenloser und schamloser Zerstörer der Intimsphäre angegriffen. Wie oft in solchen Fällen, machten sich viele seiner Kritiker nicht die Mühe, den gesamten Text zu lesen. So sind tatsächlich bis heute viele der Erkenntnisse Kinseys noch nicht in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen. Seine Pionierarbeit stellt noch immer ein hervorrragendes Beispiel wissenschaftlicher Genauigkeit und verständlicher wissenschaftlicher Sprache dar. Bis heute gibt es weltweit keine vergleichbare Untersuchung.


Nach dem Tode Kinseys wurde die Leitung des Institus von Paul H. Gebhard übernommen. Eine Reihe neuer Veröffentlichungen sind inzwischen erschienen, und weitere größere Studien werden derzeit durchgeführt. Das Institut steht auch externen Wissenschaftlern offen, die die große Bibliothek und die umfangreichen Materialsammlungen nutzen können. Alle Fallstudien bleiben jedoch vertraulich und sind außer den Mitarbeitern des Institutes niemandem zugänglich.


William H. Masters (geb. 1915) und Virginia E. Johnson (geb. 1925)


William H. Masters war noch ein junger Mann, als er sich für die Sexualforschung entschied. Er studierte Medizin, wurde Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe und Professor an der medizinischen Fakultät der Washington Universität in St. Louis im Bundesstaat Missouri. Mit Forschungsarbeiten über Hormone fand er erste Anerkennung. 1954 begann er dann mit der direkten Beobachtung der sexuellen Reaktion des Menschen. Ab 1957 beteiligte sich an diesem Vorhaben auch seine spätere Frau, Virginia E. Johnson.


Da auf diesem Gebiet bis dahin nur wenig Forschung betrieben worden war, sah Masters sich zunächst vielen Schwierigkeiten gegenüber. Seine Probanden waren zunächst meist Prostituierte, erst später konnte er eine ausreichende Zahl freiwilliger „durchschnittlicher" Männer und Frauen für seine Arbeit gewinnen. Diese Freiwilligen wurden während verschiedener sexueller Handlungen im Labor beobachtet, ihre Reaktionen wurden mit komplizierten Instrumenten gemessen und aufgezeichnet. In vielen Fällen wurden sie auch gefilmt.


Ungefähr zehn Jahre lang wurden die Forschungen innerhalb der Universität durchgeführt, bis Masters 1964 seine eigene Forschungsgesellschaft, die „Reproductive Biology Research Foundation", in der Nähe der Universität gründete. Diese Stiftung wird von vielen einzelnen Geldgebern und gemeinnützigen Organisationen getragen. Zwei Jahre später veröffentlichten Masters und Johnson ihre erste große Studie „Die sexuelle Reaktion" (1966, deutsche Ausgabe 1970).


Die Autoren widerlegten viele weit verbreiteten Mythen und Trugschlüsse in bezug auf die Sexualität und stellten auch traditionelle Lehrmeinungen in Frage. Insbesondere bestimmte psychoanalytische Grundannahmen über die weibliche Sexualität erwiesen sich als unvereinbar mit den physiologischen Fakten. Da die Ergebnisse der Forschungen von Masters und Johnson weiterhin von außergewöhnlichem Interesse sind, wurden sie an anderer Stelle dieses Buchs ausführlich referiert (vgl. Kap. 2.2 „Die sexuelle Reaktion beim männlichen Geschlecht" und Kap. 3.2 „Die sexuelle Reaktion beim weiblichen Geschlecht").


Im Ergebnis ihrer Arbeiten erlangten Masters und Johnson wichtige Erkenntnisse über die Sexualfunktionen des Menschen. Sie begannen daher 1959 mit der Behandlung von sexuellen Problemen bei Ehepaaren. Schließlich begannen sie auch, unverheiratete Personen und ihre Partner zu behandeln, in einigen Fällen wurden auch „Ersatzpartner" gestellt. Das Programm erwies sich als überraschend erfolgreich, und die beiden Therapeuten veröffentlichten ihre Erfahrungen in einem zweiten Buch „Impotenz und Anorgasmie - zur Therapie funktioneller Sexualstörungen" (1970, deutsche Ausgabe 1973), Da diese Studie ebenfalls sehr wichtig ist, wurde sie ebenfalls teilweise in einem Kapitel dieses Buches dargestellt (vgl. Kap. 8 „Sexuelle Störungen").


Die Therapieprogramme von Masters und Johnson werden bis zum heutigen Tage fortgeführt. Darüber hinaus werden einige großangelegte Langzeitstudien durchgeführt. Das Institut selbst heißt nun „Masters and Johnson Institute".


 

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