Die Geschichte der Ehe im Abendland

11.1.1 Die Geschichte der Ehe im Abendland

Die Ehe, wie wir sie heute in westlichen Ländern kennen, hat eine lange Geschichte, die durch mehrere Kulturepochen zurückverfolgt werden kann. Die wichtigsten sind die römische, jüdische und germanische Kultur. Darüber hinaus wurde die Ehe durch die Doktrin und Politik der christlichen Kirche des Mittelalters, die Forderungen der protestantischen Reformation und die sozialen Auswirkungen der Industriellen Revolution geformt.

Betrachten wir die Ehebräuche unserer Vorfahren, so entdecken wir eine Reihe erstaunlicher Tatsachen, Zum Beispiel war eine Ehe meist keine Angelegenheit, die nur den Mann und die Frau anging, sondern eher das Geschäft ihrer beiden Familien, die so in Verbindung kamen. Daher wurden die meisten Ehen vorherbestimmt oder arrangiert. Überdies hatte die Ehefrau meist weniger Rechte als der Mann. Sie sollte ihrem Mann "untertan" sein. Eine Ehe war, in gewissem Sinne, auch ein ökonomisches Arrangement. Für romantische Liebe oder selbst einfache Zuneigung blieb wenig Raum, man hielt sie auch nicht für besonders wichtig. Fortpflanzung und gemeinsame Lebensgestaltung waren die obersten Pflichten der Ehe.

Andererseits sind sicher viele moderne Ehepaare überrascht, wie einfach früher eine Scheidung durchgeführt werden konnte. Auch hier hatten die Männer den Vorteil, dass sie ihre Ehefrauen einfach aus der Ehe entlassen konnten. Aber auch Frauen konnten die Scheidung erreichen. Im gegenseitigen Einvernehmen konnten Eheleute im antiken Rom sich sogar selbst scheiden, eine Möglichkeit, die es bis heute noch nicht wieder in allen europäischen Ländern gibt. Eine andere bemerkenswerte historische Tatsache ist der Nachdruck, mit dem man auf die Notwendigkeit der Ehe verwies, und der daraus resultierende Druck auf den einzelnen Menschen zu heiraten. Unter den Christen wurde dieser Druck teilweise gelockert, da diese, zumindest eine Zeitlang, in der Ehelosigkeit (im Zölibat) eine besondere Tugend sahen. Die christlichen Lehren haben natürlich auch ihre Auswirkungen auf die Ehe selbst gehabt, auf die weiter unten noch näher eingegangen wird.

Die Ehe im antiken Griechenland und Rom

Im Griechenland der Antike wurde die Ehe als fundamentale soziale Einrichtung betrachtet. Der berühmte Gesetzgeber Solon erwog einst sogar, eine Ehepflicht einzuführen. In Athen wurden unter Perikles unverheiratete Männer von wichtigen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. In Sparta, wo man sexuelle Beziehungen zwischen Männern durchaus förderte, bestand man dennoch darauf, dass sie heirateten und Kinder zeugten. Ledige und kinderlose Männer wurden verachtet.

Obwohl man die Ehe für wichtig hielt, betrachtete man sie in der Regel unter praktischen Aspekten und maß ihr keine ausgesprochen romantische Bedeutung bei. Ein Vater arrangierte die vorteilhafteste Ehe für seinen Sohn und ließ den Vertrag dann vor Zeugen unterzeichnen. Kurz danach hielt man eine Hochzeitsfeier ab und begleitete sodann das junge Paar (das sich womöglich nie zuvor gesehen hatte) in das Ehebett. Alle Ehen waren monogam. In der Regel war der Bräutigam Anfang Dreißig und die Braut unter zwanzig Jahre alt. Zu diesem Altersunterschied kamen die ungleiche Erziehung und die unterschiedlichen politischen Rechte. Man betrachtete Frauen als den Männern unterlegen, und so blieben sie ans Haus gebunden. Ihre Hauptaufgabe als Ehefrauen bestand darin, Kinder zu gebären und den Haushalt zu versorgen, während sich der Mann öffentlichen Angelegenheiten zuwandte. Für ihre erotischen Bedürfnisse bedienten sich Männer Prostituierter oder Konkubinen. Der Redner Demosthenes erklärt das so: „Zu unserem Vergnügen haben wir Hetären, Konkubinen für die Gesundheit und Ehefrauen, damit sie uns rechtmäßige Nachkommen gebären". Viele Ehemänner pflegten auch intensive emotionale und sexuelle Beziehungen zu jungen Männern. Die gesetzliche Ungleichheit zeigte sich auch im damaligen Scheidungsrecht. Es war immer einfacher, sich als Mann von seiner Frau scheiden zu lassen als umgekehrt. Da jedoch eine geschiedene Frau ihre Mitgift mitnehmen durfte, ließen sich Männer meist nur dann scheiden, wenn ihre Frauen Ehebruch begangen hatten oder unfruchtbar waren.

Die Ehegesetze und Heiratsbräuche im antiken Rom sind nicht leicht zusammenzufassen, da sie relativ unterschiedlich waren und im Laufe der Zeit erheblichen Veränderungen unterlagen. Dennoch kann man, ohne allzu sehr zu vereinfachen, sagen, dass Ehe und Ehescheidung immer private Abkommen zwischen den Beteiligten waren. Es bedurfte keiner offiziellen Erlaubnis staatlicher oder religiöser Einrichtungen. In der frühen römischen Geschichte hatte der Ehemann erhebliche Machtbefugnisse über seine Frau und Kinder, die er nach eigenem Gutdünken züchtigen, verkaufen oder sogar töten durfte. Im Laufe der Entwicklung erlangten die Frauen jedoch eine günstigere Rechtsposition, man gestand ihnen nach und nach größere Autonomie über ihr Leben und ihren Besitz zu. So erreichten die Eheleute in der römischen Kaiserzeit eine annähernde rechtliche Gleichstellung. Gleichzeitig schien aber in dieser Zeit die Zahl der Eheschließungen und Geburten zu sinken, denn der Kaiser Augustus hielt es für erforderlich, drastische Gesetze zu erlassen, die eine Ehepflicht verfügten und Ledige bestraften. Es gab verschiedene Formen der Ehe, die erste (durch „
usus") bedurfte keinerlei Zeremonie. Sie war dadurch begründet, dass das Paar ein Jahr lang zusammenlebte. Die Scheidung verlief ebenso formlos. Eine formellere Art der Ehe (durch „coemptio") wurde in einer Zeremonie vor Zeugen geschlossen und konnte durch eine Zeremonie auch wieder aufgelöst werden. Die Mitglieder höherer Stände bevorzugten meist ausgedehnte Feierlichkeiten (durch "confarreatio"), bei denen zehn Zeugen und ein Priester anwesend sein mussten. Im Falle einer Scheidung bedurfte es ebenfalls eines umfangreicheren Zeremoniells. Alle drei Arten der Ehe und Scheidung hatten gleiche Gültigkeit. Alle Ehen waren monogam. Männer und Frauen gingen im Normalfall ihre erste Ehe vor dem 20. Lebensjahr ein.

Die Römer tolerierten Prostitution und Konkubinat und hatten keine Bedenken gegen homosexuelle Beziehungen. Ihre Ehegesetze waren erstaunlich gerecht gegenüber Frauen und trugen erheblich zu deren Emanzipation bei.

Die Ehe im alten Israel

Wie man der Bibel entnehmen kann, war die Familienstruktur im alten Israel patriarchalisch. Der Status der Frauen war niedrig - man betrachtete sie als Besitz des Vaters oder Ehemannes, und sie konnten ohne deren Einwilligung kaum Entscheidungen treffen. Hauptzweck der Ehe war die Fortpflanzung und der Fortbestand des männlichen Namens. Von jedem gesunden Menschen wurde erwartet, dass er heiratete. Ledige Männer und Frauen wurden verachtet. Ein Mann konnte mehrere Frauen und Konkubinen haben (Jakob heiratete zwei Schwestern, Lea und Rahel; Salomo hatte 700 Frauen und 300 Konkubinen). Scheidungen wurden nicht gefördert, einem Mann jedoch gestattet, wenn er eine "Unreinheit" an seiner Frau fand. Er schickte ihr dann einen Scheidungsbrief und verstieß sie aus seinem Hause (5. Mose 24,1). Für eine Frau war es demgegenüber nahezu unmöglich, sich scheiden zu lassen.

Die Bibel überliefert, dass die Eherechte und Heiratssitten sich im Laufe der Zeit ein wenig änderten. So wurden Scheidungen zunehmend missbilligt, die Tendenz zur Monogamie wurde stärker. In der Regel war es der Patriarch, der die Braut für seinen Sohn auswählte und an deren Vater einen „Braut-Preis" zahlte. Die Entgegennahme dieses Braut-Preises besiegelte eine rechtsgültige Verlobung, der, wenn die Braut zu ihrer neuen Familie zog, die Hochzeitsfeierlichkeiten folgten. Männer und Frauen heirateten kurz nach der Pubertät. Theoretisch entstand daher für beide Geschlechter keine längere Zeitspanne sexueller Frustration. Dennoch hatten Männer infolge einer ganz offen bestehenden sexuellen Doppelmoral wesentlich bessere Möglichkeiten zu sexueller Erfüllung als Frauen.

Die Ehe im europäischen Mittelalter

Der Aufstieg des Christentums hatte eine grundlegende Änderung der Ehegesetze und Heiratssitten in Europa zur Folge, wenngleich sich diese Veränderungen auch nur langsam vollzogen. Die ersten christlichen Kaiser übernahmen die traditionellen römischen Gesetze ziemlich unverändert. Unter wechselndem politischem und religiösem Druck wurden die Scheidungsvorschriften teils erweitert, teils eingeschränkt. Es wurden auch ältere Gesetze aufgehoben, die Ledige und Kinderlose bestraften, denn die neue christliche Askese stellte Jungfräulichkeit und sexuelle Abstinenz über die Ehe. Zu weiteren Veränderungen kam es indes nicht. Ehe und Scheidung blieben auch weiterhin private Angelegenheiten.

In den folgenden Jahrhunderten geriet die Ehe indes zunehmend unter den Einfluss der Kirche. Im Vergleich zu Rom hatten die gerade christianisierten Länder Nordeuropas eher barbarische Ehebräuche und behandelten die Frauen kaum besser als Haussklaven. Im germanischen Recht war die Ehe im Grunde ein Geschäft zwischen dem Bräutigam und dem Brautvater („Ehehandel"). Als Symbol des erfolgreichen Brauthandels wurde der Ring (als Anzahlung) der Braut gegeben. Durch die Annahme des Ringes kam die Verlobung zustande. Die volle Bezahlung des Braut-Preises erfolgte bei Übergabe, das heißt dann, wenn die eigentliche Hochzeit stattfand. (Seither werden dem Ring auch andere symbolische Bedeutungen beigemessen, die selbst bei unseren modernen Eheschließungen noch eine Rolle spielen.) Der zivilisierende Einfluss der Kirche veränderte bald diese primitiven Bräuche. Nach römischem Recht und dem christlichen Glauben konnte eine Ehe nur auf dem freiwilligen Einverständnis beider Partner begründet werden. Diese Lehre verbesserte den Status der Frau. Darüber hinaus maßen die Theologen der Ehe zunehmend religiöse Bedeutungen bei und definierten sie am Ende als Sakrament. Dies gab der vormals eher prosaischen Übereinkunft neue Würde.

Zugleich schuf die Kirche jedoch zwei neue Probleme: Sie schaffte die Scheidung ab, indem sie die Ehe für unauflöslich erklärte (es sei denn durch Tod eines Ehepartners), und sie erweiterte die Anzahl der Ehehindernisse erheblich. Jetzt gab es drei grundlegende Hindernisse für eine Eheschließung: „Blutsverwandtschaft", „Verschwägerung" und "Geistliche Verwandtschaft". „Blutsverwandtschaft" wurde sehr weit, bis zum sechsten oder siebten Grad, ausgelegt. Das heißt, dass man niemanden heiraten durfte, dem man näher verwandt war als einer Cousine/einem Cousin dritten Grades, „Verschwägerung" bezog sich auf eine metaphysische Nähe zwischen den beiden Familien des Ehemannes und der Ehefrau. Da man von den Letztgenannten glaubte, sie seien „ein Fleisch" geworden, waren die Verwandten auf beiden Seiten auch miteinander verwandt; dies machte es unmöglich, untereinander Ehen zu schließen. „Geistliche Verwandtschaft" nahm man zwischen den Paten und ihren Patenkindern sowie deren Familien an.
 
Kinderehen im europäischen Adel

In den europäischen Herrscherhäusern waren Eheschließungen oft ein Mittel um Bündnisse zu schließen, die eigene Macht zu sichern oder den Frieden zu wahren. Nicht selten wurden daher Ehen bereits zwischen Kindern geschlossen, wenn dies den politischen Absichten ihrer Familien diente.


Wilhelm II. von Oranien (im Alter von 14 Jahren) und seine Frau Maria Stuart (im Alter von 10 Jahren), die Tochter von Karl I. von England. Gemälde von van Dyck, 1641.


Hochzeit von Marie Adelaide von Savoyen (im Alter von 12 Jahren) und dem Herzog von Burgund (im Alter von 14 Jahren) in Versaille im Jahre 1697. Rechts ist Ludwig XIV., der Großvater des Bräutigams, zu sehen

Im Ergebnis dieser neuen Vorschriften verstärkte sich der Einfluss der Kirche auf die Ehe erheblich. Häufig waren ausgedehnte kirchliche Untersuchungen erforderlich, um mögliche Ehehindernisse festzustellen. Ehen, die in Unkenntnis oder trotz solcher Ehehindernisse geschlossen worden waren, wurden für nichtig erklärt. In solchen Fällen war die Kirche gewillt, eine „Annullierung" auszusprechen. Da eine Scheidung nicht mehr zulässig war konnte nur eine Annullierung zur Auflösung der Ehe führen. Viele verheiratete Paare, die einander später überdrüssig wurden, entdeckten dann irgendein passendes Ehehindernis, das sie zuvor angeblich übersehen hatten. Die Kirche begann auch, jeder Eheschließung ein sogenanntes Heiratsaufgebot vorausgehen zu lassen, in dem jeder, der um mögliche Ehehindernisse des betreffenden Paares wusste, aufgefordert wurde, sich zu Wort zu melden. Der zunehmende Einfluss der Kirche auf die Ehe war auch in der Entwicklung besonderer religiöser Hochzeitsfeiern zu erkennen. In den ersten christlichen Jahrhunderten wurde die Ehe noch als ausschließlich private Übereinkunft betrachtet. Bis ins 10. Jahrhundert fand der wesentliche Teil der Eheschließung außerhalb der Kirche statt. Erst im 12. Jahrhundert nahm auch ein Priester am Heiratszeremoniell teil, und es dauerte bis ins 13. Jahrhundert, bis er den Ablauf der Handlung selbst weitgehend bestimmte. Dennoch herrschte weiterhin die Auffassung, dass die Ehe, selbst als Sakrament, vom Einvernehmen der Partner untereinander abhing und dass daher weder die Eltern noch der Priester oder die Regierung ihre Gültigkeit beeinflussen konnten. Es wurde auch möglich, dass Paare heimlich heirateten, wenn sie von ihren Familien keine Bewilligung bekamen. Auch Kinder konnten jetzt in jungen Jahren heiraten, wenn die Eltern sie dazu überreden konnten. Insbesondere adlige Familien bedienten sich dieser Möglichkeit, wenn sie in der Verbindung ihrer kleinen Söhne und Töchter einen politischen Vorteil sahen. Im allgemeinen heirateten Männer im Alter von 20 bis 30 Jahren, Mädchen jedoch kurz nach Beginn der Pubertät (meist kurz nach ihrer ersten Menstruation).

Heute ist die Versuchung groß, mittelalterliche Ehen im Licht romantischer Verklärung und des Minnesangs zu sehen. Die Ehe blieb jedoch fast im gesamten Mittelalter für den überwiegenden Teil der Bevölkerung eine praktische, ökonomische Angelegenheit. Für romantische Liebe war da kaum Platz. Überdies war die soziale und rechtliche Stellung der Frau, obwohl in einigen Ländern etwas verbessert, weiterhin ausgesprochen niedrig.

Die Ehe im modernen Europa und Nordamerika

Die protestantische Reformation des 16. Jahrhunderts wandte sich gegen die vorherrschende Auffassung von der Ehe, ebenso wie gegen viele andere katholische Dogmen. Nach Martin Luther war die Ehe „ein weltlich Ding", das in den Geltungsbereich der Regierung gehörte. Eine ähnliche Einstellung vertrat auch der Schweizer Reformator Calvin. Die englischen Puritaner verabschiedeten im 17. Jahrhundert sogar ein Gesetz, in dem festgehalten wurde, dass „die Ehe kein Sakrament ist", und bald danach wurde die Ehe auch in England eine ausschließlich weltliche Angelegenheit. Sie musste nicht länger von einem Geistlichen geschlossen werden, sondern von einem Friedensrichter. Die Restauration schaffte dieses Gesetz zwar wieder ab und führte das alte System wieder ein. Die Puritaner brachten jedoch ihre Vorstellung von der Ehe mit nach Nordamerika, wo sie überlebte. Luther und die Protestanten verringerten auch die Anzahl der Ehehindernisse. Verschwägerung und Geistliche Verwandtschaft wurden nicht mehr als Hindernis betrachtet. Blutsverwandtschaft wurde in sehr viel engerem Sinne interpretiert. Dadurch wurden Ehen zwischen Vettern und Basen ersten Grades möglich.

Als Reaktion auf die protestantischen Änderungen berief die Katholische Kirche 1563 das Konzil von Trient ein, auf dem sie ihre bisherigen Lehren erneut bekräftigte. Alle Eheschließungen mussten nun vor einem Priester und zwei Zeugen stattfinden. Außerdem wurde nicht nur die heimliche Eheschließung nahezu unmöglich gemacht, sondern auch die bis dahin üblichen formlosen Ehen. Diese waren ähnlich wie die römischen Ehen durch "
usus", einfach im gegenseitigen Einvernehmen ohne besondere Feierlichkeiten geschlossen worden. In England kannte man sie unter dem Begriff „common law marriages", und infolge des Bruchs zwischen Heinrich VIII. und Rom waren sie weiterhin gestattet, bis im Jahre 1753 die Anglikanische Kirche die Verantwortung für alle Eheschließungen übernahm (einschließlich der Eheschließungen zwischen Katholiken, aber unter Ausschluss von Eheschließungen zwischen Quäkern und Juden). Diese Entwicklung hatte keinen Einfluss auf die englischen Kolonien, und so blieben in Nordamerika die "common law marriages" gestattet. (Sie wurden bis in das Jahr 1970 in einigen Bundesstaaten der USA noch anerkannt.)
 
Ungewöhnliche Formen der Ehe in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts

Ehe-Experimente sind nichts Neues. Besonders in den Vereinigten Staaten haben Versuche zur Reform der Ehe eine interessante Geschichte.


Die Oneida-Gemeinschaft: Die 1848 von John Noyes gegründete Oneida-Gemeinschaft im US-Bundesstaat New York pflegte eine Form der Oruppenehe, die man „komplexe Ehe" nannte und in der theoretisch jede Frau mit jedem Mann verheiratet war. Die Gemeinschaft praktizierte auch eine Form „wissenschaftlicher Fortpflanzung", bei der die zukünftigen Eltern nach Gesichtspunkten der körperlichen und geistigen Gesundheit von der Gemeinschaft festgelegt wurden. Das Bild zeigt eine Gruppe dieser besonderen Kinder und ihre stolzen Eltern.


Polygamie bei den Mormonen: Die Mitglieder der Mormonenkirche wurden wegen der bei ihnen praktizierten Polygamie gnadenlos verfolgt, belästigt und lächerlich gemacht. Sie gaben diesen Brauch deshalb wieder auf. Das Bild zeigt eine Karikatur anlässlich des Todes von Brigham Young im Jahre 1877: Zwölf Witwen in einem einzigen Ehebett betrauern den Tod ihres Ehemannes.

Fast überall in Europa bedurfte es zur Eheschließung einer religiösen Zeremonie, bis die Französische Revolution 1792 eine obligatorische zivile Eheschließung einführte. Deutschland folgte diesem Beispiel im 19. Jahrhundert, als Bismarck im „Kulturkampf" den Einfluss der Katholischen Kirche einschränkte. Schließlich wurde die Eheschließung vor einem Magistrats- oder Regierungsbeamten die einzige in der westlichen Welt gültige Form der Eheschließung. Zwar waren religiöse Eheschließungen nach wie vor gestattet, aber nur dann, wenn vorher eine bürgerliche Trauung stattgefunden hatte.

Weiter umstritten war das Problem der Ehescheidung. Im Gegensatz zum katholischen Dogma hielten die protestantischen Reformatoren die Ehe nicht für unauflöslich, sondern waren unter bestimmten Bedingungen für eine Scheidung. Der Puritaner John Milton befürwortete in seinem Buch "
Doctrine and Discipline of Divorce" (1643) sogar die Selbstscheidung ohne Beteiligung von Kirche oder Staat. Für ihn hing die Ehe ausschließlich vom Verständnis zwischen beiden Partnern ab. Wo es an gegenseitiger Liebe mangelte, wurde die Ehe zur Heuchelei und sollte gelöst werden. Mit dieser Auffassung war er seiner Zeit jedoch viel zu weit voraus. Das englische Parlament bewilligte zwar einige Scheidungen, die Verfahren waren aber so teuer und verliefen so schleppend, dass nur wenige Paare davon Gebrauch machen konnten. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es keine wirklich funktionierenden Scheidungsgerichte. In den amerikanischen Kolonien gestatteten die Puritaner in einigen besonderen Fällen Scheidungen, in allen katholischen Ländern blieben sie jedoch verboten, bis die Französische Revolution und das Napoleonische Recht sie in Frankreich einführten. Nach Napoleon wurde das Scheidungsrecht durch die wieder eingesetzte Monarchie erneut abgeschafft, um dann 1884 in der Zweiten Republik wiederum in Kraft zu treten. In Italien, Portugal und Spanien blieb die Scheidung jedoch weiterhin unmöglich, in Italien wurde sie erst 1970 legalisiert.

In katholischen und protestantischen Ländern ist Monogamie die einzig anerkannte Form der Ehe, Luther war allerdings der Polygynie gegenüber in Ausnahmefällen nachsichtig. (So gestattete er „inoffiziell" dem Landgrafen Philipp von Hessen, zwei Frauen zu nehmen.) Insgesamt waren aber solche alten biblischen Bräuche den meisten Christen zuwider, und als die Mormonen im 19. Jahrhundert in Amerika die Polygynie wieder einführten, wurden sie so unnachsichtig verfolgt, dass sie diesen Brauch wieder aufgaben.

Die allmähliche Emanzipation der Ehe- und Scheidungsrechte aus der Kontrolle der Kirche brachte größere individuelle Freiheiten mit sich. Auch der Status der Frau wurde dadurch aufgewertet. Der Einfluss der Eltern auf die Partnerwahl der Kinder ging zurück, romantische Liebe wurde zum wichtigen Faktor für die Heirat, Dennoch blieb die Ehe für die meisten Paare bis weit ins 19. Jahrhundert im Kern eine ökonomische Angelegenheit. Überdies war es meist der Ehemann, der daraus den größten Nutzen zog, denn er wurde „Oberhaupt der Familie" und kontrollierte auch den Besitz seiner Frau. Verglichen mit seiner Frau, besaß er wesentlich mehr Rechte, und die herrschende doppelte Moral gestand ihm erhebliche sexuelle Freiheiten zu. Frauen forderten daher immer dringlicher weitere Reformen; dieser Prozess hat sein Ziel bis heute noch nicht endgültig erreicht.


 

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