Die Ehe - heute

11.1.3 Die Ehe - heute

Wir haben oben bereits über die schrittweise Emanzipation der Frauen in moderner Zeit und ihre Auswirkungen auf das tägliche Leben gesprochen. Obwohl der Emanzipationsprozess noch lange nicht abgeschlossen ist, hat er bereits grundlegende Veränderungen in der Familienstruktur und der Bedeutung der Ehe bewirkt. In der Vergangenheit war es Frauen nicht erlaubt, Verträge abzuschließen. Sie wurden gesetzlich daran gehindert, Besitz zu verwalten, auch wenn sie ihn vor der Ehe erworben hatten. Sie konnten daraus kein eigenes Einkommen beziehen, sondern sie mussten den gesamten Besitz aus der Zeit vor der Ehe ihrem Mann übertragen. Inzwischen sind Frauen nach dem Wortlaut der Gesetze Männern fast gleichgestellt. Viele Frauen sind berufstätig, machen selbst Karriere und verdienen nicht selten mehr als ihre Ehemänner. Dennoch besteht die sexuelle Doppelmoral nach wie vor, besonders in der Sexualgesetzgebung, aber auch hier sind zumindest die deutlichsten Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz beseitigt worden. Die Scheidungsgesetze sind gelockert und vereinfacht worden, sie sind heute auch gerechter. So haben Frauen inzwischen ein höheres Maß an Unabhängigkeit von ihren Männern erlangt, und dies hat zu einer Reihe von Veränderungen in den traditionellen Geschlechtsrollen geführt.

Gleichzeitig haben sich einige Funktionen der Familie verändert. Während Familien früher meist Produktionseinheiten waren, wo jeder zum gemeinsamen Handel oder Geschäft beitrug, sind sie heute oft nur noch Konsumeinheiten. Die Familienmitglieder leben und essen miteinander, kaufen den täglichen Bedarf gemeinsam ein, sie gehen jedoch ansonsten ihre eigenen Wege. Die Kinder verbringen viele Stunden täglich außer Haus, wie es die allgemeine Schulpflicht verlangt. Sie können nach diesen Schulstunden ihre Freizeit in Jugendclubs, beim Spielen auf der Straße oder auf Sportveranstaltungen zubringen. In vielen Familien arbeiten beide Eltern außer Haus. Großeltern, kranke oder behinderte Verwandte leben in Alters- oder Pflegeheimen, sie beziehen Renten oder staatliche Unterstützungen. Die finanziellen und moralischen Verpflichtungen der Familie ihnen gegenüber sind also stark zurückgegangen.

In der Folge solcher Entwicklungen hat die Ehe heute eine ganz andere Bedeutung als noch vor einem Jahrhundert. Materielle Überlegungen sind in den Hintergrund getreten. Es ist eher die sexuelle Anziehung, die Partner heute zur Eheschließung veranlaßt. Außerdem wissen sie, dass sie sich scheiden lassen können. Sie können sich auch meist darauf verlassen, dass sie nach einer Scheidung finanziell gesichert sind und im Alter ihren Kindern nicht zur Last fallen werden. Der Fortschritt in der gesundheitlichen Versorgung und die höhere Lebenserwartung erlaubt es den Eheleuten heute, sich auf viele Jahrzehnte intimen Umgangs zu freuen, selbst wenn die Kinder erwachsen sind. Die ehemals seltenen silbernen und goldenen Hochzeiten werden heute für alle Jungverheirateten Paare eine realistische Perspektive.

Dennoch entscheiden sich viele Partner dafür, nicht so lange zusammen zu leben. Ihnen erscheint die Forderung, 20, 30 oder 50 Jahre lang in strikter Monogamie zu verbringen, als schwer erfüllbar. Früher oder später lassen sie sich dann scheiden. Die Häufigkeit von Scheidungen nimmt in unserem Jahrhundert ständig zu. In der Bundesrepublik kommt heute jährlich auf zwei Eheschließungen ungefähr eine Scheidung (die Scheidungsquote liegt etwas über 50 %). Hohe Scheidungsziffern besagen aber nicht, dass die Ehe überholt ist, denn es heiraten insgesamt heute eher mehr Menschen als in vergangenen Jahrhunderten. Sie bedeuten nur, dass die Vorstellung, sich für ein ganzes Leben zu binden, in Frage gestellt wird. Männer und Frauen stellen zunehmend den Wert individueller Lebensplanung und persönlichen Glücks nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Leben über die Aufrechterhaltung einer traditionellen Einrichtung. Es überrascht deshalb nicht, dass immer mehr Kinder in Ein-Eltern-Familien leben, wenn auch oft nur vorübergehend. Geschiedene und unverheiratete Eltern ziehen es oft vor, ihre Kinder alleine zu erziehen, statt „Schutz" in einer überstürzten Eheschließung zu suchen.

Obwohl die Ehe-, Scheidungs- und Familiengesetze geändert worden sind, tragen sie noch immer den sozialen Veränderungen nicht ausreichend Rechnung. Das könnte einer der Gründe sein, weshalb Beobachter gelegentlich äußern, die moderne Ehe stecke in einer "Krise". Dabei kann sich allerdings auch herausstellen, dass diese Krise im Grunde genommen nichts ist als der Widersprüche zwischen alten gesetzlich definierten Fiktionen und der neuen sozialen Wirklichkeit.


 

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