Die Ehe in nichtwestlichen Gesellschaften

11.1.2 Die Ehe in nichtwestlichen Gesellschaften


Viele abendländische Christen glauben, ihre Form der Ehe sei die einzig „natürliche" oder mögliche. Alle anderen Formen seien nicht nur sündig, sondern geradezu barbarisch. Christen, die außerhalb westlicher Länder „exotische" Ehebräuche aus der Nähe miterleben, können jedoch feststellen, dass die Angelegenheit nicht ganz so einfach ist. Der Mensch ist in einem hohen Maße anpassungsfähig und entwickelt in der Regel bestimmte Eheformen, die seinen sozialen und ökonomischen Lebensumständen entsprechen. Verändern sich diese Umstände, verändern sich auch meist die Ehebräuche. Die folgenden drei Beispiele sollen diesen Gedanken verdeutlichen. Die erste hier beschriebene Form der Ehe ist infolge westlicher Einflüsse nahezu verschwunden. Die zweite hat zwar überlebt, wird aber unter zunehmendem Druck nach und nach „modernisiert". Die dritte stellt einen radikalen Bruch mit veraltet erachteten Gewohnheiten dar.


Die Ehe im alten Polynesien


Bis zum Kontakt mit der westlichen Zivilisation hatten die Bewohner vieler polynesischer Inseln ihre eigenen Ehegesetze und -bräuche, die - bei gewissen Unterschieden - vieles gemeinsam hatten. Sie unterschieden sich deutlich von denjenigen in Europa und Nordamerika. Die Polynesier lebten sexuell ausgesprochen ungehemmt, und sie legten auf sexuelle Befriedigung größten Wert. Die Ehe galt als ausgesprochen erstrebenswert, und nur wenige Erwachsene blieben ledig. Verwitwete oder geschiedene Personen gingen so bald wie möglich eine neue Ehe ein. Jungen und Mädchen heirateten gewöhnlich, sobald sie erwachsen wurden.


Die Polynesier waren allerdings sehr standesbewusst, und die Heiratsbräuche der verschiedenen Stände unterschieden sich deutlich von denen der gewöhnlichen Bürger. Auf einigen Inseln lebten die Hochgestellten polygyn (oder polyandrisch, wie zum Beispiel auf den Marquesas-Inseln). Manchmal vereinbarten die Adligen auch Ehen zwischen Kindern, wenn sie darin politische Vorteile sahen. Auf jeden Fall waren die höhergestellten Schichten in der Wahl ihrer Partner durch soziale Konventionen relativ eingeschränkt. Die unteren Schichten hatten in dieser Hinsicht mehr Freiheiten, obwohl auch bei ihnen die meisten Ehen arrangiert wurden, zumindest jedoch der Zustimmung der Eltern bedurften. Ehen unter Blutsverwandten bis zu mehreren Graden waren ebenso verboten wie Ehen außerhalb der eigenen sozialen Schicht. Andererseits ging eine Eheschließung ohne besondere Formalitäten vonstatten. Braut und Bräutigam begannen einfach, miteinander zu leben. Ehen waren monogam, Treue galt als selbstverständlich. Dennoch war oft dem Ehemann eine sexuelle Beziehung zu seinen Schwägerinnen erlaubt, der Ehefrau zu ihren Schwägern (man behandelte in diesem Zusammenhang auch Vettern als verschwägert. Der Ehemann konnte gelegentlich seinem „Namensbruder" (das heißt seinem besten Freund) und seinen männlichen Gästen erlauben, mit seiner Frau zu schlafen. Unter diesen Umständen kann man die eheliche Beziehung nicht als restriktiv bezeichnen. Verlief eine Ehe dennoch nicht zufriedenstellend, konnte sie im gegenseitigen Einverständnis einfach gelöst werden. Der Besitz und die Kinder wurden aufgeteilt, wobei der Mann meist die älteren Jungen übernahm und die Frau die kleinen Kinder und Mädchen. Ebenso einfach war eine Wiederverheiratung. Man kann also allgemein sagen, dass die Ehe im alten Polynesien eine flexible Einrichtung war, bei der keiner der Ehepartner für längere Zeit unzufrieden sein musste. Die Polynesier betrachteten die Ehe als eine erfreuliche Notwendigkeit. Diese Grundeinstellung spiegelt ihr realistisches und unmittelbares Verhältnis zur Sexualität und die große Bedeutung körperlicher Zufriedenheit wider.


Die Ehe in islamischen Ländern


Der islamische Glaube hat Eheschließung von jeher nachdrücklich unterstützt, Ehelosigkeit galt als unerwünscht und außergewöhnlich. In der islamischen Tradition gibt es weder Klöster noch lebenslange Keuschheitsgelübde. Die islamische Auffassung von der Ehe ist der des Alten Testaments ganz ähnlich. So gestattet beispielsweise der Koran Polygynie. Seit der Zeit Mohammeds konnte ein Mann bis zu vier Frauen heiraten, vorausgesetzt, er konnte sie angemessen unterhalten und allen „gerecht werden". Zusätzlich durfte er mehrere Konkubinen haben, die jedoch die Rechte der Ehefrauen nicht teilten. Die islamische Polygynie ist noch heute in vielen Teilen der Welt verbreitet. Sie war indessen auch in früheren Zeiten eher eine Ausnahme denn die Regel. Für die meisten Moslems war und ist Monogamie die normale Form der Ehe.


In bestimmten Epochen gab es in der islamischen Kultur auch die Form der zeitlich begrenzten Ehe unter der Bezeichnung mut'ah (arab.: Freude). Ein Mann heiratete für eine zuvor festgelegte Zeitspanne eine Frau (gelegentlich nur für eine Nacht), und er bezahlte ihr dafür einen annehmbaren Preis oder eine „Mitgift". Am Ende der festgelegten Zeit galt die Ehe automatisch als gelöst. Abgesehen von der vereinbarten Abfindung, hatte die Frau keine Ansprüche mehr an den Mann oder seinen Besitz. Mut'ah-Ehen wurden gewöhnlich von Männern geschlossen, die sich auf einer Pilgerreise nach Mekka befanden oder die unter anderen Umständen von zu Hause fort waren. Viele fromme Moslems bekämpften diesen Brauch jedoch als Prostitution, so dass er offiziell missbilligt wurde und schließlich an Verbreitung verlor.


Der Koran verbietet Ehescheidung nicht, daher war sie in allen islamischen Gesellschaften üblich. Eine Form der Scheidung war ein gemeinsames Übereinkommen, bei dem die Frau ihrem Ehemann für die Freilassung einen Preis zahlen musste. Die andere war die Verstoßung, bei der der Ehemann seiner Frau einfach dreimal sagte, dass er sich von ihr scheiden wollte. Dies war seine Privatangelegenheit, die er niemandem zu erklären brauchte. Wenn hingegen eine Frau die Scheidung wünschte, so musste sie dies vor Gericht mit bestimmten Begründungen beantragen, zum Beispiel wegen Grausamkeit, böswilligen Verlassens oder mangelndem Unterhalt.


Diese kurze Zusammenfassung zeigt bereits, dass das islamische Eherecht und die islamischen Ehebräuche dem Mann eine deutlich privilegierte Position einräumen. Frauen blieben rechtlich benachteiligt. Es hat indessen den Anschein, dass Industrialisierung und Modernisierung in jüngerer Zeit auch einen Einfluss in islamischen Ländern haben, was hinsichtlich des Eherechts zu bedeutenden Veränderungen führen dürfte.


Die Ehe in China


Im chinesischen Kaiserreich wurde Ehe nachdrücklich gefördert, ledige Personen wurden kaum respektiert. Eine Eheschließung wurde indes eher von zwei Familien vereinbart als von zwei Individuen. Väter suchten die beste Partie für ihre Kinder, die sich bis zur Hochzeit kaum kennenlernten. Zweck der Eheschließung war die Fortpflanzung, das heißt der Fortbestand der Sippe. Romantische Liebe zwischen den Eheleuten wurde kaum erwartet, sie galt als durchaus unerheblich. Dem Ehemann kam ein privilegierter Status zu, der ihn über seine Familie herrschen ließ, während die Rechte der Frau eher gering waren. Sie hatte nicht nur ihrem Ehemann, sondern auch dessen Mutter zu gehorchen. Zur sexuellen Befriedigung konnten Ehemänner sich Konkubinen nehmen, während den Ehefrauen Liebhaber nicht gestattet waren. Scheidung war möglich, besonders wenn der Mann sie begehrte, das Vorgehen war jedoch kompliziert. Da außerdem beide Familien von einer Scheidung betroffen waren, missbilligte man sie und versuchte meist, sie abzuwenden. Praktisch blieben daher selbst unglückliche Ehen oft weiterbestehen.


In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts - nach Ende des Kaiserreichs - wurden die chinesischen Ehegesetze reformiert. Die Gründung der Volksrepublik China führte 1950 zur Verabschiedung neuer, moderner Gesetze. Die 27 Artikel des neuen Gesetzes sind schon wegen ihrer Einfachheit bemerkenswert. Sie erklären die freie Partnerwahl und Gleichberechtigung für Männer und Frauen. Ältere Bräuche wie Konkubinat, Verlobung im Kindesalter, Geldforderungen und Mitgift in Verbindung mit Eheschließungen sind verboten. Die Gesetze stellen ausdrücklich fest, dass „eine Eheschließung vom vollkommen freiwilligen Einverständnis beider Partner abhängt" (Art. 3). Folglich ist für die Eheschließung nichts weiter erforderlich als die Eintragung bei der regionalen Verwaltung, die daraufhin die Heiratsurkunde ausstellt. Beiden Partnern ist es freigestellt, den Familiennamen der Frau oder des Mannes zu tragen. Einer Scheidung wird stattgegeben, wenn beide Partner dies wünschen. Sie treffen lediglich eine Übereinkunft hinsichtlich der Kinder und des Besitzes, melden dies der Verwaltung und erhalten die Scheidungsurkunde. Will nur ein Partner sich scheiden lassen, bemüht man sich offiziell um eine Beilegung der Auseinandersetzung. Wenn dies nicht gelingt, wird der Scheidung stattgegeben. Die geschiedenen Eltern bleiben für ihre Kinder verantwortlich, und sie sind verpflichtet, für den Unterhalt gemeinsam aufzukommen. Wenn sie sich nicht einigen können, wird vom Gericht eine Übereinkunft angeordnet. Das Sorgerecht kann wahlweise jedem von beiden Eltern übertragen werden.


Es ist für auswärtige Beobachter heute schwierig einzuschätzen, wie diese Gesetze praktisch angewendet werden, man muss aber zugeben, dass sie -zumindest theoretisch - sehr vernünftig zu sein scheinen. Den europäischen und amerikanischen Ehegesetzen sind sie mit Sicherheit weit voraus. Sie enthalten jedoch auch zwei etwas merkwürdige Vorschriften, die der Erläuterung bedürfen. Artikel 5 verbietet eine Ehe, wenn „ein Partner aufgrund bestimmter körperlicher Mängel sexuell impotent ist" oder wenn ein Partner unter besonderen Krankheiten leidet. Die englische Übersetzung dieses Artikels ist zumindest nicht eindeutig, er scheint jedoch Behinderten oder chronisch kranken Personen das Recht auf Eheschließung abzusprechen, ein Recht, das sie in den meisten westlichen Ländern haben. Die gesetzliche Altersgrenze für die Ehe ist in China für Männer 20 Jahre, für Frauen 18 Jahre; junge Menschen werden jedoch angehalten zu warten, bis sie älter sind.


 

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