Die Familie in historischer Sicht

11.2 Die Familie in historischer Sicht


Das Wort „Familie" (von lat. famulus: Haussklave) bezeichnete ursprünglich eine Gruppe von Sklaven, die einem Mann gehörten. In Erweiterung des Begriffs waren dann später alle Personen gemeint, die von einem Mann abstammten oder abhängig waren, schließlich alle Personen, die im Haushalt eines Mannes lebten, wie Sklaven, Frauen, Kinder, Eltern, Großeltern, andere nahe und entferntere Verwandte, Freunde und Gäste.


Diese Bedeutungen waren im Englischen des Mittelalters noch sehr lebendig. Bis weit in die Renaissance hinein benutzte man das Wort, „family" noch, um sowohl die Dienerschaft oder das Gefolge eines Adligen als auch eine Gruppe Blutsverwandter oder eine Gruppe zusammenlebender Menschen zu bezeichnen. Erst im 16. und 17. Jahrhundert wurden die zwei letztgenannten Bedeutungen zusammengefasst, um damit ein neues soziales Phänomen zu beschreiben: eine geringe Anzahl naher Verwandter, die zusammen unter einem Dach wohnten und die eine enge emotionale Beziehung zueinander hatten. Im frühen 19. Jahrhundert hatte diese Bedeutung alle anderen verdrängt. Seither bezieht sich das Wort „Familie" meist auf eine enge Hausgemeinschaft aus Eltern und ihren Kindern. Wir stellen deshalb heute fest, dass die Bedeutung des Wortes sowohl im weiteren als auch im engeren Sinn benutzt wird als zuvor. Eine solche semantische Verschiebung findet sich sowohl beim deutschen Wort „Familie" als auch beim französischen Wort „famille".


Das bedeutet unter anderem, dass der gegenwärtige Begriff „Familie" nicht einfach auf andere Kulturen, nicht einmal auf unsere eigene Vergangenheit übertragbar ist. Zum richtigen Verständnis müssen zumindest drei Erscheinungsformen unterschieden werden:


1. Die Sippe, also Menschen, die verwandt sind, auch wenn sie nicht zusammen wohnen.


2. Der Haushalt, also Menschen, die zusammen wohnen, auch wenn sie nicht verwandt sind,


3. Die Familie, also Menschen, die verwandt sind und zusammen wohnen.


In unserer heutigen Gesellschaft geht es in der Diskussion um die „Familie" meist um die dritte der genannten Formen, Sippensystem und verschiedene Formen des „Haushalts" spielen gesellschaftlich kaum noch eine Rolle, Das Hauptinteresse gilt statt dessen dem einen Fall, bei dem alle drei Definitionen zusammenfallen: So wurde zum Beispiel für eine Volkszählung in den USA der Begriff der „Familie" offiziell definiert als „zwei oder mehr blutsverwandte, verheiratete oder adoptierte Menschen, die zusammen in einem Haushalt wohnen".


Verglichen mit den früher sehr weitreichenden Bedeutungen des Begriffs ist die gegenwärtige Definition von „Familie" sehr begrenzt. Dennoch lässt sich bei näherer Betrachtung eine überraschende Vielfalt möglicher Kombinationen feststellen. Selbst im einfachsten Fall, wo eine Familie aus nur zwei Personen besteht, ist wenigstens ein Dutzend verschiedener Beziehungen denkbar:


1. ein kinderloses Ehepaar


2. eine Frau und ihr leibliches Kind


3. eine Frau und ihr adoptiertes Kind


4. ein Mann und sein leibliches Kind


5. ein Mann und sein adoptiertes Kind


6. eine Frau und ihr leibliches Enkelkind


7. eine Frau und ihr adoptiertes Enkelkind


8. ein Mann und sein leibliches Enkelkind


9. ein Mann und sein adoptiertes Enkelkind


10. Bruder und Schwester


11. zwei Schwestern


12. zwei Brüder.


Diese Liste könnte natürlich beliebig erweitert werden, indem man Urgroßeltern, Onkel, Tanten, Cousins, Schwiegereltern, Schwager, Schwägerin und andere Personen einbezieht, die „durch Blutsverwandtschaft, Heirat oder Adoption" dazugerechnet werden können. Nach der Definition der genannten Volkszählung in den USA sind alle diese sozialen Einheiten, auch wenn sie nur zwei Personen umfassen, als Familien zu betrachten, solange sie in irgendeiner Form zusammenleben.


Wenn also die Verwaltungsbürokratie das Wort „Familie" in diesem Sinn benutzt, wird damit eine eingeschränkte moderne und „neutrale" Auffassung ausgedrückt. Es wird keine bestimmte Form, kein Ideal der Familie vorausgesetzt. Vielmehr werden vorliegende Tatsachen in pragmatischer Weise beschrieben. Das Ziel sind einfache beschreibende Statistiken. Für die Verwaltung sind daher alle zuvor genannten Möglichkeiten von Familienverbänden selbständige Einheiten für sich, nicht Fragmente größerer Familien, die einmal „zerrüttet" wurden oder „zerbrachen".


Für den Durchschnittsbürger stellt sich dies oft ganz anders dar. Für ihn ist die „Zwei-Personen-Familie" vielleicht gar keine „richtige" Familie. Er sieht sie möglicherweise als bedauerliche Ausnahme an oder hält sie für den traurigen Rest dessen, was einst eine Familie war. Er wird annehmen, dass Ehemann und Ehefrau, Bruder und Schwester beispielsweise noch keine Familie darstellen und dass eine Familie zumindest aus drei Personen zweier Generationen zu bestehen habe: Vater, Mutter und Kind.


Andererseits würden die meisten Menschen heute nur sehr zögernd über diese Grunddefinition hinausgehen. Sie würden selbstverständlich auch eine größere Zahl weiterer Kinder einbeziehen, wären aber wohl bereits unsicher, ob Großeltern, Urgroßeltern, Vettern, Onkel, Tanten, Neffen und Nichten wirklich zur Familie im eigentlichen Sinn zählen. Wie erwähnt, wird dies bei Volkszählungen ganz anders bewertet. Dort wird nichts über die Größe oder den Verwandtschaftsgrad einer Familie ausgesagt. Entscheidend ist nur der gemeinsame Haushalt. Die Definition des US-Volkszählungen umfasst also nicht nur die kleinste, sondern auch die größte denkbare „Familie".


Die meisten Familien liegen indes zwischen diesen beiden Extremen. In der Regel bestehen sie aus mehr als zwei Personen, selten jedoch aus mehr als zwei Generationen. Sehr große Familien sind ebenso wie sehr kleine eher selten geworden. Es hat den Anschein, dass die allgemeine Tendenz sich in Richtung einer reduzierten Familienform entwickelt, zu einer „natürlichen" elementaren Gruppe oder einem „Kern", bestehend aus einem verheirateten Paar und dessen Nachkommen. Daher scheint die Bezeichnung „Familie" für eine eingehendere Betrachtung zu allgemein. Wenn Familien in unterschiedlicher Gestalt und Größe vorkommen können und davon eine besondere Kombination heute bevorzugt wird, erscheint es sinnvoll, präzisere Formulierungen zu wählen. Eine solche Unterscheidung wird von Soziologen gemacht, die allgemein zwei Grundformen unterscheiden:


1. Die Kleinfamilie, die nur aus Eltern und deren Kindern besteht und


2. Die Großfamilie, die aus einer Kleinfamilie und verschiedenen weiteren Verwandten besteht.


(Die Großfamilie ist, selbst wenn sie eine enge soziale Einheit bildet, nicht immer eine „Familie" in dem Sinne, dass alle Mitglieder eine Hausgemeinschaft bilden. Sie leben jedoch fast immer in enger Nachbarschaft und pflegen intensive Beziehungen.)


Als diese Definitionen erstmals vorgeschlagen wurden, nahm man an, sie beinhalteten auch eine historische Entwicklung. Man nahm an, die Evolution der Familie entspreche derjenigen der Ehe als Institution. Ähnlich wie Monogamie sich angeblich aus Polygamie entwickelt habe, habe sich die Kleinfamilie aus der Großfamilie entwickelt. Selbstverständlich haben polygame Ehen immer auch die Form der Großfamilie mit sich gebracht. Aber nach dieser Theorie waren auch monogame Ehen früher nur im großen Familienverband denkbar, bis sie sich in der modernen Industriegesellschaft verselbständigten.


Diese einfache und plausible Vorstellung wurde viele Jahre nicht in Frage gestellt, und man muss zugeben, dass sie der Wahrheit sehr nahe kommt. Dennoch, ebenso wie die Theorie von der Entwicklung der Monogamie, erwies sie sich bei näherer Betrachtung als nicht ganz haltbar. Historiker konnten beweisen, dass Kleinfamilien in der westlichen Welt bereits lange vor der Industrialisierung existierten und dass Großfamilien noch lange danach weiterbestanden. Man hat darüber hinaus festgestellt, dass beide Familienformen mit dem Fabriksystem vereinbar sind und dass es keine direkte evolutionäre Linie von der einen Form zur anderen gibt.


Dennoch ist es richtig, dass es in der Neuzeit zu drastischen Veränderungen der Familienstrukturen in Europa und Nordamerika gekommen ist und dass Großfamilien zunehmend seltener wurden. Die Kleinfamilie hat für ihre Mitglieder eine neue Bedeutung erhalten, und wir haben es deshalb mit einem neuen und einmaligen Phänomen zu tun.



Deshalb sollen im folgenden die traditionelle Großfamilie und die moderne Kleinfamilie detaillierter dargestellt werden. Eine abschließende Betrachtung befasst sich mit möglichen zukünftigen Familienformen in unserer Gesellschaft.

 

 


Die Entwicklung der modernen Familie


Die Kleinfamilie als solche ist kein neues Phänomen, es gab sie seit langem in vielen Kulturen. In ihrer heutigen Form wurde sie jedoch nachhaltig durch die Industrielle Revolution geprägt, in der sie von einer Produktions- zu einer Konsumptions-Einheit wurde.


Schweizer Mittelschicht-Familie im Jahre 1559. Das Bild wurde 20 Jahre nach dem Tod von Erasmus gemalt, es zeigt jedoch die typische Familie der damaligen Zeit, für die er seine „Colloquia Familiaria" schrieb. Besonders gut zu sehen ist das Zusammenleben mehrerer Generationen und verschiedener Verwandter unter einem Dach und die ernsten Mienen der Kinder, die wie kleine Erwachsene dargestellt sind.


Amerikanische Mittelschicht-Familie des 19. Jahrhunderts. Das Bild zeigt die „ideale" neue Kleinfamüie, wie sie in der Industriellen Revolution entstand. Der Vater, der das Familieneinkommen außer Haus verdient, kommt abends nach Hause und wird von seinen Kindern begrüßt, die ihn den ganzen Tag nicht gesehen haben. Die Mutter, die gerade ihr jüngstes Kind stillt, versorgt die Kinder und den Haushalt. Die Familie umfasst keine Großeltern und anderen Verwandten mehr.


„Typische" nordamerikanische Familie des 20. Jahrhunderts. In den USA unserer Tage gilt die Kleinfamilie mit ihrem Eigenheim am Stadtrand als das einzige akzeptierte Modell. Zahllose Plakate, Werbeanzeigen, Werbefilme, Fernsehserien und Kinderbücher propagieren diese Form der Familie als ideale Lebensform. Unser Bild stammt aus einem Kinderbuch des Jahres 1972.



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