Die moderne Kleinfamilie

11.2.2 Die moderne Kleinfamilie


Die Kleinfamilie ist keine neue Erscheinung, sondern hat in vielen Kulturen im Laufe der Menschheitsgeschichte existiert. Tatsächlich findet sich der aus mehreren Generationen bestehende Typ der Großfamilie meist in fortgeschrittenen, stabilen und begüterten, noch nicht industrialisierten Gesellschaften. Das Modell der Kleinfamilie kommt demgegenüber eher in sehr primitiven und in sehr hoch entwickelten Gesellschaften vor.


Kleinfamilien unterscheiden sich jedoch im Ausmaß ihrer Isolation und Geschlossenheit. So war die Kleinfamilie zum Beispiel vor der industriellen Revolution im Westen häufig von einer größeren sozialen Einheit umgeben. Das konnte ein Hof, ein Gut, ein Adelsanwesen oder ein Dorf sein. Viele ältere Stadtviertel hatten ebenfalls enge familiäre Bande, die sich zusammenhielten, so dass die kleinen Familien gegenüber einer größeren Gemeinschaft offen waren. Gegenseitige Besuche der Familien waren häufig und ausgedehnt. Kinder konnten nach Belieben ihre Verwandten besuchen und sich überall zu Hause fühlen.


Andererseits hat das Verlangen nach mehr familiärer Vertrautheit, wie wir bereits festgestellt haben, im späten 17. Jahrhundert dazu geführt, dass sich der Umfang der großen Haushalte verringerte und sich die Beziehungen der verbleibenden Familienmitglieder zueinander veränderten. Man war nun mehr aufeinander angewiesen. Das idyllische Haus des „Bourgeois" wurde so zu einer Insel des Glücks im aufziehenden Sturm der Modernisierung, ein sicherer Hafen vor der Welt „da draußen", vor Aggression, Wettbewerb und Klassenkampf. Wir haben ebenfalls festgestellt, dass dieses Heim Frauen und Kinder behütete und ihnen Schutz vor sexuellen und anderen Versuchungen bot. Die hässliche soziale Realität wurde von ihnen ferngehalten. Der Unterhalt der Familie wurde nicht mehr im Hause, sondern draußen verdient. Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern wurde dadurch deutlicher, dass Männer immer mehr von ihren Familien getrennt waren und ihre Zeit als Lohnempfänger in Fabriken, Läden oder Büros verbrachten. Frauen waren die einzigen Bezugspersonen kleiner Kinder, deren Fürsorge und Erziehung jetzt ihre vornehmste Aufgabe war. (Diese Aufgaben hatten sich bislang Mütter, Grossmütter, Kindermädchen, Ammen und Diener geteilt.) Die einzigen Männer aus der Mittelschicht, die noch zu Hause arbeiteten, waren Ärzte oder Rechtsanwälte mit privater Praxis. Die bürgerliche Familie sah ihr „Oberhaupt" nur noch abends, wenn der Mann von der Arbeit kam. Diese Arbeit selbst blieb für Frau und Kinder oft völlig abstrakt.
 



Familienleben im 19. Jahrhundert


Im 19. Jahrhundert war das Heim der Mittelschicht ein Heiligtum geworden, ein trauter Ort des Friedens. Unser Bild zeigt einen Vater, der seiner Frau und seinem Kind aus der Bibel vorliest. Zwei Frauen (Hausmädchen?) hören im Hintergrund zu. (Anonyme Radierung, 19. Jahrhundert)


Die Verlagerung produktiver Arbeit aus dem Haus in Fabriken und Büros hatte natürlich für alle Familienmitglieder spürbare Konsequenzen. Niemand musste sich mehr an eine bestimmte Gemeinschaft oder ein bestimmtes Haus gebunden fühlen. Es stand ihnen statt dessen frei umzuziehen, im Zuge industrieller Entwicklung den Wohnsitz zu wechseln und „auf Arbeitssuche" dorthin zu gehen, wo Arbeit zu finden war. Familiäre Bindungen wurden weniger wesentlich, da die Arbeit in der Fabrik zunehmend rationalisiert und leistungsorientiert wurde. Gab man früher bei Anstellung und Beförderung bewusst Familienangehörigen den Vorzug, wurde nun ausschließlich nach Leistung entschieden. Aus diesem Grunde konnte sich auch der neue Arbeiter, Geschäftsmann oder Bürokrat nicht mehr um weiter entfernte Verwandte kümmern. Er arbeitete jetzt ausschließlich für seine kleine Familie, was ihn umso fleißiger machte. In der bürgerlichen Mittelschicht konnte er rasch vorankommen, da sein Verdienst nur für eine geringe Anzahl Menschen ausreichen musste. Der einzelne Ehemann und Vater wurde also von Traditionen oder umfangreichen sozialen Verpflichtungen zunehmend entbunden. Darüber hinaus begann der Staat, sich um die Erziehung seiner Kinder und die Fürsorge für seine alten oder kranken Eltern zu kümmern.


Diese Entwicklung ließ verschiedentlich Beobachter einen inneren Zusammenhang vermuten zwischen Industrialisierung und der Entstehung der Kleinfamilie. Kleine, intime und nicht ortsgebundene Familien schienen der Industrialisierung am angemessensten zu sein; und diese wiederum schien die Bildung kleiner Familien zu begünstigen. In modernen Industriegesellschaften besteht schließlich ein genereller Trend zur Gleichheit und persönlichen Unabhängigkeit. Dies ermöglicht die freie Wahl eines Ehepartners, des Wohnsitzes und der Beschäftigung. (In der Großfamilie waren diese Freiheiten insofern eingeschränkt, als eine „falsche" Entscheidung zugleich auch viele Verwandte in Mitleidenschaft ziehen konnte.) Menschen, die die neuen Möglichkeiten für sich nutzen wollten, heirateten daher spät und hielten ihre Familie klein. Aber auch zu dieser Regel gab es Ausnahmen. Manchmal sind große Familien vorteilhaft, weil sie einen Rückhalt bieten und in kritischen Situationen Schutz und Hilfe leisten können. Besonders für die unteren Schichten, die aufsteigen wollen, kann das wichtig sein; aber auch die oberen Klassen unterhalten oft enge familiäre Bande. So findet man selbst in hochindustrialisierten Gesellschaften Männer und Frauen, die auf eine große Familie, zumindest jedoch auf einen großen Verwandtenkreis, ausgesprochenen Wert legen.


Heute hat sich die Kleinfamilie in der westlichen Welt seit mehreren Generationen eine zentrale Stellung erobert. Das hat zu der allgemeinen Auffassung geführt, dass eine Familie folgendermaßen auszusehen habe: Ein Mann und eine Frau heiraten einander aus gegenseitiger Zuneigung, bekommen zwei bis drei Kinder, mit denen sie in einem Haus oder einer Wohnung zusammenleben. Der Mann begibt sich morgens zur Arbeit, während die Frau sich um Kinder und Haushalt kümmert. Sie kocht das Essen und umsorgt den Mann, wenn er erschöpft von der Arbeit kommt. Ein- oder zweimal im Jahr, zu Ostern oder Weihnachten, versammeln sie sich mit anderen Verwandten „bei Großmutter". Ansonsten hält jeder Distanz und kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten. Nach diesem „idealen" Modell leben die Mitglieder der Familie relativ isoliert von der übrigen Sippe und vom Rest der Gemeinschaft. Diese Isolation wird jedoch durch eine größere emotionale Wärme innerhalb der Kleinfamilie kompensiert. Vater, Mutter und Kinder müssen einander „alles" bedeuten. Vertrauen und Zuneigung zueinander sollen sie zusammenhalten, ihnen Mut und Kraft geben, gegenüber anderen Kleinfamilien ökonomisch standzuhalten. Wie jedoch viele Familien erfahren mussten, verlaufen die Dinge leider nicht immer so. Der Mangel an weiteren Kontakten wird oft als zu starke Einschränkung empfunden, die große Nähe der Familienmitglieder kann bedrückend werden, die unentrinnbare Vertrautheit kann zu Geringschätzung führen. So war die Kleinfamilie fast von Anfang an auch der Kritik ausgesetzt.


Im 19. Jahrhundert, als der Kult des „trauten Heims" seinen Höhepunkt erreichte, wurde diese Kritik in der Hauptsache von den großen bürgerlichen Dichtern wie Flaubert, Ibsen und Strindberg ausgedrückt. Sie beklagten die Heuchelei, Seichtheit und Stumpfsinnigkeit im Leben der Mittelschicht und enthüllten die Leiden und tückischen seelischen Kämpfe hinter der Fassade der Ehrbarkeit. Friedrich Engels kritisierte die Familie unter philosophischen und politischen Aspekten, indem er ihren Ursprung auf das Entstehen und Aufrechterhalten des Privateigentums zurückführte. Freud schließlich erhob, wenn auch versteckt, die heftigste Anklage, indem er den „glücklichen" Hausstand der Kleinfamilie als Brutstätte für Neurosen und sexuelle Perversion beschrieb.


Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden auch vielen Durchschnittsmenschen die Nachteile der bürgerlichen Familie deutlich. Die emotionale Treibhausatmosphäre des trauten Heims begann, stickig zu werden. Was einst als Heiligtum gepriesen worden war, wurde nun zunehmend als Gefängnis verdammt. In der traditionellen Großfamilie hatten Kinder sich an verschiedenen männlichen und weiblichen Erwachsenenrollen orientieren können, nun hatten sie nur noch ihre Eltern als Vorbilder. Früher wurden sie von verschiedenen Erwachsenen unter vielerlei Einflüssen erzogen, jetzt waren sie vollständig von ihren Eltern abhängig. Der Vater stand dabei oft gar nicht mehr zur Verfügung, Da er nun nicht mehr zu Hause arbeitete, wurde seine soziale Rolle den Kindern nicht mehr deutlich. Er wurde schlicht zum „Ernährer" und Ordnungshüter, eine undurchschaubare, ferne Autoritätsfigur. Manchmal wurde er geliebt, häufig gefürchtet, aber selten verstanden. Seine Ehefrau, die Mutter, sah sich mehr denn je eingeschränkt. Zunehmende mütterliche Verpflichtungen begrenzten sie immer mehr auf die eigenen vier Wände. Nur zum Kirchgang oder zum Einkaufen konnte sie sich ins Freie wagen. Ihre Welt wurde eng, ihre Funktionen waren klar umschrieben. Sie hatte sich weiblich, mütterlich, gefühlvoll und „ordentlich" zu geben und in allen wichtigen Angelegenheiten ihren Mann zu fragen.


So wird verständlich, dass die meisten Frauen im 19. Jahrhundert begannen, die Kleinfamilie und die ihnen darin zugewiesene Rolle zu hassen, Ein Hinweis auf zukünftige Entwicklungen findet sich in Ibsens Schauspiel „Nora - ein Puppenheim", in dem die Hauptfigur Nora ihren Mann und ihre Kinder einfach verlässt. Frauen begannen zunehmend, vollständige Gleichberechtigung mit den Männern und die Möglichkeit freier Entfaltung zu fordern, Sie begannen, für ein Wahlrecht und für neue Ehe- und Scheidungsgesetze zu kämpfen. Sie nahmen auch zunehmend am Arbeitsprozess teil. Schließlich stellten sie im Ersten Weltkrieg ihre Fähigkeiten unter Beweis, indem sie viele, bis dahin für sie unzugängliche Arbeiten übernahmen. Dadurch emanzipierten sie sich zunehmend aus ihrer bis dahin gültigen Rolle als Hausfrauen.


Dieser Trend hat sich in den letzten Jahrzehnten fortgesetzt. In vielen Familien sind beide Ehepartner berufstätig, Kinder verbringen einen Großteil der Zeit in Krippen, Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen. Daraus hat sich oft eine weniger enge emotionale Bindung zwischen den Familienmitgliedern ergeben, die einander nun mehr Toleranz entgegenbringen können. Der Einfluss gleichaltriger Gruppen hat nicht nur bei Kindern zugenommen, sondern auch bei ihren Müttern. Die traditionelle Rolle des Mannes und der Frau wird überdacht. Die Massenmedien ermöglichen es jedem, am gesellschaftlichen Leben und seinen Veränderungen teilzuhaben. Dennoch hat sich der Familienkreis nur wenig erweitert. Großeltern leben nur selten mit in der Familie, sondern oft in „Altersheimen", „Seniorenstiften" oder Pflegeheimen. Unverheiratete Verwandte ziehen in ein „Ein-Zimmer-Appartement". Es gibt heute sogar eine große Anzahl von Familien, in denen die Mutter oder der Vater die Kinder alleine erziehen.


Ein-Eltern-Familien werden heute oft als „unvollständige" Kleinfamilien bezeichnet und damit als sozial unerwünscht definiert. Das Fehlen der „Vaterfigur" wird für die Entwicklung eines Kindes als nachteilig angesehen, und es wird leichtfertig vor einem „unangemessenen" weiblichen Einfluss in der Erziehung der Kinder gewarnt. In den Vereinigten Staaten haben derlei Vorurteile oft geradezu rassistische Untertöne, da man diese Mutter- und Kind-Familien am häufigsten in der armen schwarzen Bevölkerung antrifft. Mit steigenden Scheidungsraten nimmt dieser Familientyp allerdings insgesamt zu. In den Vereinigten Staaten lebt gegenwärtig eins von sechs Kindern mit nur einem Elternteil zusammen. Die Zahl dieser Haushalte wird sich in der Zukunft noch erhöhen. In der Bundesrepublik waren 1976 13,5 Prozent aller Familien mit Kindern unter 18 Jahren Ein-Eltern-Familien. In West-Berlin liegt dieser Anteil sogar bei 20 Prozent. Dennoch kann man nicht behaupten, Familien mit nur einem Elternteil seien in ihrer Erziehungsfunktion generell schlechter zu bewerten. In den Jahren nach den Weltkriegen haben Millionen Frauen ihre Kinder erfolgreich alleine erzogen. Dieses eindrucksvolle Beispiel sollte uns vor vorschnellen Urteilen warnen, Überdies weiß man, dass viele dieser „unvollständigen" Familien in enger Verbindung zu weiteren Verwandten oder Partnern stehen und so wesentlich offener und entwicklungsfähiger sind als man manchmal annahm. Schließlich gibt es eine zunehmende Anzahl von Vater-und-Kind-Familien, denen man bislang nur wenig Beachtung geschenkt hat.


Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob die Kleinfamilie, auch wenn sie „vollständig" ist, die beste Lösung darstellt. Heute sind viele Menschen davon überzeugt, dass kleine Haushalte unökonomisch und unrentabel sind und dass in ihnen oft ein ungesundes psychisches Klima herrscht. Man wirft ihnen vor, überkommene, stereotype Geschlechtsrollen zu verewigen, egoistische und leistungsbesessene Kinder hervorzubringen in einem Zeitalter, in dem einzig intensive Kooperation die Zukunft der Menschheit sichern zu können scheint. Es wird auch gelegentlich vorgebracht, dass die moderne Familie keine andere Funktion mehr hat, als Liebe und Geborgenheit zu vermitteln und dass dies keineswegs ausreicht, ihre Existenz zu rechtfertigen. Da die Familie ihre erzieherischen, schützenden und zum Teil auch ökonomischen Funktionen weitgehend an den Staat abgegeben hat, verbleiben fast ausschließlich sexuelle und reproduktive Belange als Basis für eine Eheschließung - und diese Basis ist häufig zu schwach. Scheidungen und Wiederheiraten mögen wohl für Erwachsene praktisch sein, sie liegen aber keineswegs im Interesse der Kinder. Unter diesen Umständen ist es nur richtig, dass eine Reihe von nachdenklichen Männern und Frauen weiterhin nach stabileren und „neueren" Familienmodellen sucht.


 

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