Neue Familienmodelle

11.2.3 Neue Familienmodelle


Die Nachteile der modernen Kleinfamilie haben viele Kritiker dazu angeregt, nach Alternativen zu suchen. Einige Reformer schlagen vor, wieder zur traditionellen Großfamilie zurückzukehren, wie sie vor der industriellen Revolution bestand. Es ist aber unklar, wie dieser Familientyp unter den gegenwärtigen sozialen Bedingungen wieder herzustellen sein sollte. Darüber hinaus hat er - wie wir gesehen haben - auch erhebliche Nachteile. Das Bedürfnis nach Privatsphäre und individueller Freiheit, wie wir es heute für uns in Anspruch nehmen, dürfte dabei sicherlich kaum gewährleistet sein. Andererseits kann auch eine leicht vergrößerte Kleinfamilie individuell gestaltet und verbessert werden, ohne dass es drastischer sozialer Veränderungen bedürfte. Kaum jemand ist allerdings davon überzeugt, dass solche geringen Verbesserungen viel ausrichten würden. Das wirkliche Problem liegt tiefer. Viele Menschen glauben, dass sie ihre Fähigkeiten nicht verwirklichen können, ohne dass die Gesellschaft selbst sich verändert. Sie sind der Auffassung, dass erst ein „neuer Mann" und eine „neue Frau" entstehen müssen, bevor man ein besseres Familiensystem schaffen kann. Nach dieser Ansicht ist vor allem die vorherrschende soziale Ordnung schuld, dass niemand wirklich glücklich werden kann. Sie erleben die Natur des Menschen als durch die gegenwärtige ungesunde Zivilisation deformiert und fordern daher einen Neubeginn und einen vollkommenen Bruch mit allen Traditionen. Die Bereitschaft zum Experiment ist eigentlich nicht neu, sie ist jedoch in der jüngeren Geschichte deutlich verbreiteter als je zuvor. Heute wird in verschiedenen Ländern der Welt eine Reihe alternativer Familienmodelle erprobt. Die beiden folgenden Beispiele sollen die Möglichkeiten auf diesem Gebiet darstellen.


Der Kibbuz


Der Kibbuz (hebr.: Gruppe, Mehrz. Kubbuzim) ist eine Form gemeinschaftlicher landwirtschaftlicher Siedlung, die in Israel häufig anzutreffen ist. Die Mitglieder arbeiten für das Kollektiv und haben allen Besitz gemeinsam. Ehepaare haben eine eigene Wohnung, essen aber zusammen mit den anderen im gemeinsamen Speisesaal. Alle Kinder leben im gemeinsamen „Kinderhaus" zusammen. Sie werden von Fachkräften beaufsichtigt und unterrichtet und dürfen ihre Eltern abends für ein paar Stunden besuchen. Es bleibt also ein gewisser Freiraum für eine besondere Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Da unverheiratete Erwachsene ebenfalls für den Unterhalt der Kinder sorgen, können sie diese auch als „die ihren" ansehen. So entsteht ein neuer, erweiterter Familiensinn, den man außerhalb eines Kibbuz kaum finden wird. Die Ehen sind monogam. Sie werden offiziell dadurch anerkannt, dass man dem jungen Paar einen eigenen Raum zuweist. Geschlechtsverkehr zwischen unverheirateten jungen Leuten wird toleriert, führt jedoch früher oder später zu einer festen Bindung. In der Regel kommt ein Ehepartner nicht aus dem eigenen Kibbuz. Die Frauen behalten ihren Mädchennamen und bleiben (oder werden) selbständiges Mitglied der Gemeinschaft.


In diesem sozialen Modell gibt es also keine Familien im traditionellen Sinne, da Eltern und Kinder nicht beieinander wohnen. Überdies arbeiten die Eltern weder für sich selbst noch für ihre eigenen Nachkommen oder Verwandten. Statt dessen teilt man Arbeit, Erziehung und soziale Einrichtungen im Kollektiv, „von jedem nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seinen Bedürfnissen". Der Kibbuz verdankt seine Entstehung dem Idealismus jüdischer Siedler, die eine humanere Gesellschaft aufbauen wollten. Es hat sich jedoch manchmal als schwierig erwiesen, mit wachsendem Wohlstand diesen Idealismus lebendig zu halten. Darüber hinaus gab und gibt es auch in Israel Menschen, die von diesem Experiment nicht viel hielten. Bis heute ist dieser Gedanke jedenfalls in anderen Ländern kaum nachgeahmt worden.


Die „Kommune"


Das Wort „Kommune" wird heute für eine ganze Reihe verschiedener Formen gemeinsamer Haushaltsführung verwendet, die von „Hippiefarmen" bis zu bestimmten Wohn- und Lebensformen zur Verminderung der Lebenshaltungskosten bei der urbanen Mittelschicht reichen. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass Wohnen, Kochen, Waschen, Einkaufen, Kinderbetreuung usw. einfacher und billiger sind, wenn sie gemeinsam von mehreren Kleinfamilien besorgt werden. Einige Familien haben daher begonnen, ihre Mittel zusammenzulegen und auf diese Weise Geld zu sparen. Ihre „Kommune" besteht möglicherweise nur aus einem gemeinsamen Haus und der gemeinschaftlichen Nutzung von Haushaltsgeräten. Besonders in den letzten 15 Jahren ist eine Reihe junger Menschen, die eine gewisse Distanz zur Gesellschaft hatten, „ausgestiegen", um gemeinsam auf dem Lande oder in bestimmten Stadtteilen einen alternativen Lebensstil zu entwickeln. Dieses Streben nach einer „natürlicheren" Lebensweise hat, auch in den Vereinigten Staaten, eine lange, eindrucksvolle Geschichte. Heute sind Kommunen in den USA in den verschiedensten Formen zu finden, abhängig vom jeweiligen Ziel ihrer Gründer. Die einen sind auf streng religiösen Glaubensvorstellungen aufgebaut, andere sind eher weltlich und dem Leben zugewandt. In einigen werden monogame Ehen geführt, bei anderen wird eine Art improvisierte Polygamie oder Gruppenehe praktiziert. In manchen schicken Eltern ihre Kinder zur Schule, in anderen versuchen sie, sie selbst zu unterrichten. Manche Kommunen haben gemeinsamen Besitz und sind ökonomisch unabhängig, andere sind von zusätzlichen Einkommen wie Sozialhilfe oder andere finanzielle Unterstützung abhängig. Einige Kommunen haben jahrelang relativ stabil überlebt, andere haben sich aufgelöst oder schlagen sich mehr schlecht als recht durch, als warnendes Beispiel für naive Nachahmer.


Aus dieser wechselvollen Perspektive betrachtet, ist es äußerst schwierig, zu einem schlüssigen Urteil über die heutigen Kommunen zu kommen. Sicherlich erfüllen sie in vielen Fällen wichtige menschliche Bedürfnisse, die in der Familie gewöhnlich nicht erfüllt werden. Das Scheitern vieler Kommunen sagt nichts über ihre oftmals respektablen Absichten aus. So werden solche Experimente sicher auch in Zukunft fortgeführt. Es ist auch möglich, dass aus solchen Experimenten eines Tages wichtige Alternativen erwachsen, die mit Erfolg auf breiterer Basis nachgeahmt werden können.


 

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