Die traditionelle Großfamilie

11.2.1 Die traditionelle Großfamilie


Eine Großfamilie kann verschiedene Formen haben, die Position und Funktion ihrer Mitglieder kann ganz unterschiedlich sein. Die Großfamilie kann zum Beispiel Ergebnis von Polygamie oder Gruppenehe sein, sie kann Ausdruck sexueller Gleichberechtigung oder Ausdruck der Unterwerfung unter ein „Familienoberhaupt" sein. Im vorliegenden Zusammenhang beschränken wir uns auf die traditionelle Großfamilie, wie sie im Westen vor der industriellen Revolution bestand.


Im christlichen Europa war Monogamie natürlich die einzige zulässige Form der Ehe. Daher bestand eine Großfamilie in der Regel aus einem Ehepaar, deren ältestem Sohn und seiner Frau und manchmal auch Enkelkindern . Sie lebten und arbeiteten mit verschiedenen anderen nahen Verwandten zusammen. Es war also meist eine Familie von drei oder mehr Generationen, die einem gemeinsamen Geschäft nachging. Man sollte allerdings wissen, dass diese Familienstruktur zwar sehr verbreitet war, aber keinesfalls die einzig mögliche Form der Familie darstellte. Unter ungünstigen Lebensumständen, bei fehlendem eigenem Land und fehlender Möglichkeit zum Erwerb eigenen Besitzes waren kleine Familien typischer. Die Größe und Struktur der Familien veränderte sich so oft infolge sozialer Veränderungen. Verbesserten sich die ökonomischen Gegebenheiten, wurden Kleinfamilien größer, wurden reich und gewannen an sozialem Einfluss. Wenn dann wieder finanzielle Schwierigkeiten auftauchten, passten sie sich diesen an und versuchten, durch die Auflösung in Einzelhaushalte wirtschaftliche Sicherheit zurückzugewinnen. Die arme Bevölkerung im Europa des Mittelalters konnte aber nie auf ein gesichertes Leben im großen Familienverband hoffen. Sie lebte in kleinen Gruppen in einzelnen Katen oder Hütten, während die großen Landsitze, Herrenhäuser, Paläste und Schlösser ausschließlich den Reichen vorbehalten blieben.


Zu Beginn der Neuzeit und mit der Ausweitung der Handelstätigkeit entwickelte sich eine neue Mittelschicht, die es sich leisten konnte, große und bequeme Wohnhäuser zu bauen. So standen die ärmlichen Ein- und Zweizimmerbehausungen der Armen in den großen Städten bald in deutlichem Gegensatz zu den solide gebauten, mehrstöckigen Häusern der reichen Ratsherren, Kaufleute und Handwerker und ihrer Frauen, Kinder, Eltern, Freunde, Diener, Boten und Lehrlinge. Diese „Bürgerhäuser" verfügten über den Platz, der für eine ideale Großfamilie erforderlich war. Man bezeichnete diese Familienform deshalb auch als „klassische Familie westlicher Nostalgie".


Sicherlich hatte eine solche Familie große Vorteile. Menschen wussten, wo sie hingehörten und was man von ihnen erwartete. Sie aßen, tranken, schliefen, lernten, arbeiteten und spielten gemeinsam unter einem Dach. Von der Wiege bis zur Bahre waren sie Teil eines organischen Ganzen. Sie wuchsen unter vertrauten Personen auf und wurden mit ihnen alt. Sie arbeiteten für ein gemeinsames Ziel, teilten Freuden und Sorgen miteinander. Wenn ihre Kräfte nachließen, wurden sie unterstützt und versorgt; waren sie krank oder hilfsbedürftig, fanden sie Fürsorge und Pflege. Kurzum, sie waren niemals einsam, ihr Leben hatte immer „seinen Sinn".

 


Familienleben im 17. Jahrhundert


Das große „Bürgerhaus" des 17. Jahrhunderts bot keinen vor der übrigen Gemeinschaft geschützten Raum, sondern wurde von der Familie und von Freunden, Nachbarn und anderen Besuchern aller Altersgruppen gemeinsam genutzt. Üppige Feste zu kirchlichen Feiertagen waren häufig. (Gemälde von Jan Steen, 1626-1679)


Dieses Gefühl der Sicherheit ist es, das heute die Großfamilie so erstrebenswert erscheinen lässt. Historische Studien haben jedoch gezeigt, dass dieses „Miteinander" nicht unbedingt zu wirklicher emotionaler Verbundenheit führte. Die Hauptfunktion des großen Haushalts war ökonomischer Art. Zuneigung und Zärtlichkeit kamen erst an zweiter Stelle. Individuellen Bedürfnissen und Interessen wurde wenig Beachtung geschenkt. Schließlich hatten schon die Eltern nicht aus Liebe geheiratet, sondern aus materiellen, praktischen Gründen. Darüber hinaus war der Status der Frau niedriger als der des Ehemannes, dessen Wünsche und Interessen immer Vorrang hatten. Oft bestand unter den Eheleuten ein erheblicher Altersunterschied, da viele Frauen im Kindbett starben und die Männer sich dann mit jüngeren Partnerinnen wieder verheirateten. Starb der Herr des Hauses, heiratete die Witwe oft seinen engsten Mitarbeiter, damit das Geschäft fortbestehen konnte. Eine gewisse Anzahl von Kindern wurde zur Mitarbeit im Geschäft für wichtig gehalten, die Eltern widmeten ihnen jedoch wenig Zeit. Sie wurden von Ammen oder Dienern großgezogen und früh als Lehrlinge aus dem Haus gegeben. Die Söhne von Adligen wurden dann Pagen anderer Adelsfamilien. Viele Kinder wurden jedoch vernachlässigt, die Säuglings- und Kindersterblichkeit war hoch. So erreichte im frühen 18. Jahrhundert in London nur eines von drei lebend geborenen Kindern das Alter von fünf Jahren. Unter solchen Verhältnissen wurde die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern nie besonders eng. Mittelbare oder unmittelbare Kindstötung war nicht selten. Eltern ließen ihre Kinder einfach im Bett ersticken oder übergaben sie Ammen oder Pflegemüttern, von denen man wusste, dass sie die Kinder verhungern ließen oder einfach umbrachten. Selbst der „aufgeklärte" Jean-Jacques Rousseau, der so gefühlvoll über die Unschuld der Kinder schrieb, überließ seine eigenen fünf Kinder einem Waisenhaus. In diesen Institutionen, aus denen sich ein gern gesehener Nachschub an Hauspersonal und Soldaten rekrutierte, lag die Sterblichkeitsrate oft zwischen 80 und 90 Prozent.


Man muss auch daran denken, dass die Bürgerhäuser des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts in der Regel laut und überfüllt waren. Sie boten kein Privatleben und glichen eher halböffentlichen Plätzen. Menschen gingen zu jeder Tageszeit in allen Räumen ein und aus. Besucher erschienen unangemeldet, Freunde, Bekannte, Geschäftspartner, Kunden und Bittsteller jeder Art traten ein oder blieben auch über Nacht. Außer verschiedenen Dienern gehörten zum Haushalt deshalb auch meist mehrere Dauergäste. Ein Unterschied zwischen Privaträumen, Werkstatt oder Büro bestand im Grunde nicht. Je nach Bedarf wurden Betten und Tische auf- oder abgebaut. Es gab keine regelmäßigen gemeinsamen Mahlzeiten. Essen wurde häufig improvisiert oder bei einem Gastwirt bestellt. Ein Familienleben im eigentlichen Sinn existierte nicht. Alle Handlungen waren Teil eines weiterreichenden sozialen Lebens. Die Familie war gegenüber der Gemeinschaft und ihren Einflüssen immer offen.


Es überrascht daher nicht, dass die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern der Mittel- und Oberschicht eher formell und kühl waren. In Frankreich redeten sich Eheleute mit „Monsieur" und „Madame" an, in England mit „Sir" und „Madam". Diese offiziellen Titel benutzten auch Kinder gegenüber ihren Eltern. Adlige Kinder nannten ihre Eltern „Milord" und „Milady". Untereinander waren Kinder nicht weniger förmlich. Anstelle des Vornamens nannten sie einander „Bruder", „Schwester", „Vetter" und „Base". Vornamen, Kosenamen oder das vertraute „Papa" und „Mama" wurden erst im späten 17. Jahrhundert üblich.


Jahrhundertelang hegten also die Mitglieder der europäischen Großfamilien offenbar wenig sentimentale Gefühle füreinander. Wirklich intime und emotionale Nähe entwickelte sich erst nach und nach mit der Entstehung des bürgerlichen Mittelstandes und dem zunehmenden Einfluss seiner Wertbegriffe. Mit zunehmendem Wohlstand wurde der solide Bürger betriebsamer, dienstbeflissener, disziplinierter und häuslicher - er entwickelte sich zu der heute bekannten Figur des „Bourgeois". Dieser Prozess war im späten 17. Jahrhundert in vollem Gange und beschleunigte sich in den folgenden 100 Jahren. Das „Bürgerhaus" begann, sich zu verändern. Wo einst ineinanderübergehende, offene Allzweckräume waren, gab es jetzt abgeschlossene, separate Räume zum Essen, Schlafen, Lesen oder Musizieren. Die Dienerschaft wurde in die „unteren" Räume oder Dachkammern verbannt. Es entstanden Privatbereiche. Geschäfte und Feste wurden nicht mehr miteinander vermischt, Arbeits- und Lebensbereich wurden klar voneinander getrennt. Jedes Haus hatte ein „Allerheiligstes", zu dem zufällige Besucher keinen Zutritt hatten. Unangemeldete Besucher wurden sogar oft abgewiesen. Die Familie „empfing" nur an bestimmten Tagen, den „jours fixes". An allen anderen Tagen pflegte die Familie ihr privates Beisammensein. Man versammelte sich um die „Familientafel", spielte „Gesellschaftsspiele", las „Familienzeitschriften" und pflegte „Hausmusik". Eltern nahmen intensiven Anteil am Wohlergehen und der Erziehung ihrer Kinder, die man jetzt als „reine" und hilflose Geschöpfe betrachtete und die zu beschützen waren. Diesen Schutz fanden sie im Kreise der Familie. Das neue Ideal wurde also das geborgene, wärmende und idyllische „traute Heim".


Dieses Ideal, das sich nur langsam entwickelte, war natürlich keineswegs überall anzutreffen. Das Leben der oberen und unteren Gesellschaftsschichten unterschied sich deutlich. Die Aristokratie lebte weiterhin in ihren offenen Schlössern und Palästen, umgeben von einer großen Schar Verwandter, Bittsteller, Diener und Gäste. Arme Familien und gewöhnliche Arbeiter lebten hingegen nach wie vor allein mit Frau und Kindern in engen, kleinen Häusern, Hütten oder Katen. Die Bourgeoisie selbst wich oft von ihren Normen ab, da sie zunehmend mobiler und unternehmungsfreudiger wurde. Viele Männer hatten nicht viel für die „gemütlichen" Abende im Kreis ihrer Familie übrig. Daher verwandelten sich ihre Häuser zunehmend in eine Art „Frauenwelt". Männer führten ihr eigenes geselliges Leben in Cafes, Kneipen, Vereinen, Logen, Verbindungen, Bruderschaften und Klubs. Funktion und Form der Familie veränderten sich daher erneut. Außerdem wurde klar, dass die Tendenz zum „Beisammensein" in der Familie auch eine Tendenz zur Verringerung der Familiengröße bedeutete. Die ständige Gegenwart der älteren Generation oder entfernter Verwandter wurde zunehmend als lästig empfunden. So machte mit Beginn der Industrialisierung die traditionelle Großfamilie Platz für die moderne Kleinfamilie.


 

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