Sexualität und Gesetz

10.2.1 Sexualität und Gesetz


Zu Beginn der Zivilisation waren alle Gesetze religiöse Gesetze, das heißt sie drückten den Willen einer übermenschlichen Macht aus. Geister, Götter oder Gott wünschten, dass die Menschen sich in bestimmter Weise verhielten und sie straften Ungehorsam sofort. Daher setzten sich die Gesetze praktisch von selbst durch.


Die ältesten bekannten Sexualstrafgesetze machten hier keine Ausnahme. Ursprünglich waren Sünde und Verbrechen ein und dasselbe. Sexuelle Übeltäter waren deshalb Sünder und Verbrecher, eine Bestrafung war ihnen sicher. Wo die Durchsetzung der Gesetze durch Menschen notwendig war, führten sie im Grunde genommen nur göttlichen Willen aus.


Dies war fast während der gesamten Menschheitsgeschichte die vorherrschende Auffassung. Tausende von Jahren waren religiöse Glaubensanschauungen Grundlage für die Gesetzgebung. Die ersten großen Gesetzgeber der Alten Welt machten noch offen geltend, sie seien Instrumente eines „höheren" Willens. Hammurabi empfing seine Gesetze vom Sonnengott, Mose wurden die Zehn Gebote auf dem Berg Sinai von Jahwe gegeben. Mohammed wurde der Koran vom Erzengel Gabriel diktiert.


Natürlich unterschieden sich diese „göttlich inspirierten" Gesetzestexte erheblich voneinander, besonders im Hinblick auf die Behandlung des Sexualverhaltens. Wenn wir jedoch die ersten historischen Bemühungen um eine Gesetzgebung zur Sexualität vergleichen, ist zumindest eine Gemeinsamkeit festzustellen: Sie alle betreffen sowohl soziale als auch religiöse Übertretungen. Sexualverhalten wurde nicht nur bestraft, wenn es anderen Menschen schadete, sondern auch, wenn es von Unglauben zeugte. Letzteres zog sogar gewöhnlich härtere Bestrafungen nach sich. Denn göttliches Missfallen fürchteten die Menschen mehr als irgendeinen persönlichen Schaden.


Daher konnten Ketzer auf sexuellem Gebiet auch nicht behaupten, sie seien gesellschaftlich harmlos. Selbst wenn sie niemand bestimmten zu Schaden brachten, stellten sie doch eine indirekte Bedrohung für die Gemeinschaft dar. Schon ihre Existenz beleidigte Gott und verlangte nach Vergeltung. Man konnte solche Menschen daher nicht tolerieren, ihre Verurteilung war eine religiöse Pflicht, und jedes Mittel, das gegen sie angewandt wurde, war moralisch gerechtfertigt.
 


Der göttliche Ursprung der Gesetze


Die ersten großen Gesetzgeber der Menschheit beriefen sich darauf, dass ihre Gesetze göttlichen Willen ausdrückten.


Stein in der Form eines erigierten Penis mit den Gesetzen des Hammurabi, die vom Sonnengott inspiriert sein sollten. Das Relief an der Spitze der Stele zeigt den Gott auf seinem Thron, wie er dem vor ihm stehenden Hammurabi Anweisungen gibt. (Louvre, Paris)


Mose erhält die Gesetzestafeln von Jahwe auf dem Berg Sinai. (Karolingische Miniatur aus dem 9. Jahrhundert)


Illustration aus einer persischen Handschrift, die den Erzengel Gabriel zeigt, wie er dem Propheten Mohammed den Koran diktiert.

 

Dies war die grundlegende Auffassung der Juristen vom Altertum bis ins Mittelalter. Die Hauptfunktion des Gesetzes war es, Gottes „natürliche Ordnung" zu erhalten oder wiederherzustellen. So wurde die Kontrolle über das Sexualverhalten im Laufe der Jahrhunderte ausschließlich Aufgabe der Kirche. Religion war die einflussreichste moralische Macht im privaten wie im öffentlichen Leben.


Auch in der Neuzeit, nachdem die Kirche im Laufe der Zeit dem Staat ihre Macht abgetreten hatte, blieben die alten Verbote bestehen. Überall in Europa wurden die Kirchengerichte durch weltliche Gerichte, Sündenregister durch Strafgesetze, Bußen durch Strafen ersetzt; die allgemeine Einstellung gegenüber sexuell abweichendem Verhalten blieb jedoch die gleiche. Der Staat übernahm die traditionellen moralischen Normen, setzte sie jedoch nun aus eigener Macht durch. Auch harmloses abweichendes Verhalten ohne Opfer wurde weiterhin verfolgt. Es verwandelte sich lediglich von einem „ketzerischen" Verhalten in ein weltliches „subversives" Verhalten. In den Augen des Gesetzes bedrohte es aber nach wie vor das Wohlergehen der Nation.


Erst mit der Französischen Revolution erklärte ein Staat seine völlige Trennung von der Kirche. Das hatte unter anderem zur Folge, dass die Sexualgesetze nicht mehr direkt an biblischen Vorschriften orientiert blieben, sondern auf rationale und empirische Grundlagen zurückgeführt wurden. Viele sexuelle Handlungen, die zuvor als Vergehen galten, wurden nun toleriert. Die „aufgeklärte" Bevölkerung entzog sich ihrer früheren moralischen Bevormundung und erreichte neue bürgerliche Freiheiten. Es wurde ein neuer „privater Freiraum" geschaffen, der außerhalb der Reichweite von Gesetzen lag. Diese demokratischen Errungenschaften wurden in der Gesetzesreform Napoleons zusammengefasst, die mittelbar oder unmittelbar auch die Gesetzgebung der meisten westeuropäischen und lateinamerikanischen Länder beeinflusste. Auch in der Verfassung der Vereinigten Staaten wurde die Unabhängigkeit von religiösen Anschauungen festgelegt. Der Kongress erhielt die ausdrückliche Anweisung, „keine Gesetze zu verabschieden, die der Etablierung einer Religion dienen können", (s. Zusatz zur U.S. Verfassung, 1791.)


Allerdings war der tatsächliche christliche - oder eher der puritanische -Einfluss auf das öffentliche Leben in den USA nicht so leicht zurückzudrängen. Der Staat verfolgte noch lange Zeit nicht nur gefährliche Verbrechen, sondern auch einfache Sünden und Laster ohne Opfer. Man nahm einfach keine Notiz von der wachsenden Zahl der Nichtpuritaner, für die solche Laster als Tugenden galten und die so daran gehindert wurden, ihre Sexualität ihrem Glauben gemäß voll auszuleben. Bis auf den heutigen Tag vergessen amerikanische Gesetzgeber, wenn es um sexuelle Dinge geht, noch immer häufig diese Bestimmungen der Verfassung.


Zum Glück ist die allgemeine Öffentlichkeit in jüngster Zeit kritischer geworden und beginnt zu verstehen, dass sexuelle Freiheit ebensosehr Gegenstand einer Verfassung sein sollte wie beispielsweise die Meinungsfreiheit. Verschiedene Staaten in den USA haben ihr Sexualstrafrecht bereits gelockert, andere sind im Begriff, dies zu tun. Es hat den Anschein, dass zumindest auf diesem Gebiet die Versprechen der Amerikanischen Revolution endlich in Erfüllung gehen.


Dies alles soll nicht bedeuten, dass die Religion das einzig mögliche Hindernis für eine vernünftige Sexualgesetzgebung wäre. Selbst eine noch so strenge Trennung von Kirche und Staat bietet nicht unbedingt auch eine Garantie für sexuelle Freiheit aller Bürger. Letzten Endes sind offen atheistische Staaten, wie die UdSSR, die Volksrepublik China oder Kuba, in Fragen sexueller Abweichung ebenso intolerant wie ein christliches Königreich im Mittelalter. Diese Länder verbieten unter anderem nach wie vor „Pornographie", Prostitution, homosexuelle Handlungen und das Tragen andersgeschlechtlicher Kleidung, obwohl es bei keinem dieser „Verbrechen" Opfer gibt. Die Verbote werden natürlich nicht mehr mit religiösen Argumenten gerechtfertigt. Sie werden mit neuen Dogmen über „westliche Unmoral", „kapitalistische Korruption" oder „bourgeoise Dekadenz" begründet. Bei näherer Betrachtung könnte man in diesen Dogmen vermutlich einen längst vergessenen religiösen Ursprung finden. Vielleicht ist aber auch der Wunsch, sich Ketzer zu schaffen, um sie dann zu bestrafen, so tief in einigen Gesellschaften verwurzelt, dass ihnen dafür jede Entschuldigung, religiös oder weltlich, recht ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass heute in vielen Teilen der Erde noch sexuelle Intoleranz vorherrscht und dass der Kampf um sexuelle Rechte für alle Menschen noch lange nicht gewonnen ist, (Vgl. a. Kap. 12 „Die sexuell Unterdrückten".)


Der historische Hintergrund


Im folgenden Abschnitt wird die Entwicklung des Sexualstrafrechts in Europa und in bestimmten nicht-westlichen Kulturen kurz zusammengefasst. Dabei wird allerdings die Gesetzgebung zum Sexualrecht im weiteren Sinne, zu Ehe, Ehescheidung, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch, Unehelichkeit, Geschlechtskrankheiten usw. aus Platzgründen unerwähnt bleiben. Die Diskussion beschränkt sich auf gesetzliche Vorschriften, die sich auf das menschliche Sexualverhalten im engeren Sinne beziehen.


Die jüdische Rechtstradition


Die Geschichte des alten Israel ist eine Geschichte des Kampfes um nationale Identität und um das Überleben. Umgeben und ständig bedroht von fremden Völkern, kostete es die Israeliten erhebliche Anstrengungen, ihren „wahren" Glauben zu bewahren. In diesem Zusammenhang muss man ihre Gesetze und Bräuche sehen.


Die frühe Gesetzgebung zur Sexualität versuchte, das „auserwählte Volk" vor vier schweren „Übeln" zu schützen: Bevölkerungsrückgang, Verletzung der männlichen Besitzerrechte, religiöse Ketzerei und „Verunreinigung" durch Fremde oder fremde Gebräuche. So förderte das Gesetz ehelichen Koitus auf Kosten aller anderen sexuellen Handlungen und verbot jede Form der Sexualität, die nicht der Fortpflanzung diente, wie sie bei den benachbarten Stämmen üblich war. Wer sich der Fortpflanzung entzog, zeigte damit ein gesellschaftsschädigendes Verhalten und verletzte die gesamte Nation. Vergewaltigung, Ehebruch und illegitime Schwangerschaften verletzten das Recht des einzelnen Mannes, der seine Frauen und Töchter als persönlichen Besitz betrachtete und für jede „Beschädigung" Ersatz verlangte. Homosexuelles Verhalten und sexueller Kontakt mit Tieren wurden als Götzendienst interpretiert. Sie waren Zeichen der Abgötterei oder - wie die Bibel es bezeichnet - „Greueltaten", also Verbrechen gegen Jahwe selbst.


Obwohl im Laufe der Zeit bestimmte Gesetze abgeändert und andere angesichts veränderter Umstände neu formuliert wurden, blieb die jüdische Rechtsauffassung zur Sexualität selbst in der Zeit Christi unverändert bestehen.


Die frühen christlichen Lehren


Die ersten Christen übernahmen größtenteils die jüdische Rechtstradition. Offiziell galten für sie zwar die milderen Gesetze des „heidnischen" römischen Reiches, aber im Privatleben hielten sie sich strikt an die Vorschriften der Bibel. Der Apostel Paulus hatte sogar eine ausgesprochen geringe Meinung von sexuellem Begehren und verlangte jede nur mögliche Zurückhaltung. Diese Einstellung wurde von Augustinus und anderen asketischen Kirchenvätern noch weiterentwickelt. Als das Christentum schließlich in Rom die offizielle Religion wurde, fand diese neue Askese auch Ausdruck im Strafrecht. Die christlichen Kaiser Theodosius (390 n. Chr.) und Justinian (538 und 544 n. Chr.) brachten drakonische Gesetze ein, die bestimmte sexuelle Handlungen als Relikte des Heidentums verurteilten. Besonders die Gesetze von Justinian, die im Byzantinischen Reich 1000 Jahre überdauerten, standen sexuellen Abweichungen ausgesprochen intolerant gegenüber. Justinian erklärte zum Beispiel, dass heidnische Schandtaten wie homosexueller Geschlechtsverkehr und sexueller Kontakt zu Tieren immer nach Gottes Strafe durch Sturm, Feuer, Hungersnot, Pestilenz und Erdbeben schrien und dass der Staat daher die heilige Pflicht habe, zum Schutz des Landes alle Missetäter zu töten. Sie wurden dann meist auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder lebendig begraben. Oft gingen der Hinrichtung auch noch Folter und Verstümmelung voraus. Das Strafgesetz Justinians war einer der Eckpfeiler der westlichen Rechtsgeschichte und hatte einen erheblichen Einfluss auf das Denken mittelalterlicher Juristen.


Das germanische und deutsche Recht bis zum Ende des Mittelalters Das frühe germanische Recht - soweit aufgrund der spärlichen Quellen überhaupt Kenntnisse darüber vorhanden sind - kannte die öffentliche Strafe nur bei Vergehen gegen das Gemeinwesen (den sogenannten „Friedensbruch"), nicht jedoch bei Verletzung der Rechte des einzelnen oder der Sippe. Allerdings verwischten sich die Grenzen oft. Das germanische Recht kannte bereits öffentliche Strafen für Friedensbrüche, wie zum Beispiel für Frauenraub und Notzucht. Wurde bei schweren Friedensbrüchen zumeist „Friedlosigkeit", das heißt Ausschluss des Täters aus der Gemeinschaft, verhängt, so sah das germanische Recht bei Notzucht die Enthauptung des Täters vor. Der römische Schriftsteller Tacitus spricht in seinem Werk „Germania" von Menschen „corpore infames" (das heißt „körperlich schändlich"), die es bei den Germanen gäbe. Wahrscheinlich ist damit „widernatürliche Unzucht" gemeint, das heißt homosexuelles Verhalten oder sexueller Kontakt mit Tieren. Nach Tacitus waren die Täter im Moor zu versenken: Allerdings kann es sein, dass dabei allein von Vergehen die Rede ist, die während eines Kriegszustandes vorkamen und gegen die Heeresdisziplin verstießen. Andererseits sehen einige neue Forschungen eine allgemeine, systematische Homosexuellenverfolgung bei den Germanen, die, aus religiöser Furcht gespeist, sich über sehr lange Zeiträume hinzog.


Waren die Rechte einzelner oder der Sippe betroffen - wie das Recht auf Familiengewalt über Frau, Kind und Knecht -, unterlag die Tat der Privatrache der verletzten Sippe oder dem Recht der Sippe selbst. Dazu scheinen auch viele der klassischen Unzuchtsdelikte zu zählen. Hierbei trat das Gemeinwesen der damaligen Zeit allenfalls als Vermittler zur Beilegung des Streites auf.


In vorchristlicher und frühchristlicher Zeit, zum Beispiel unter der Herrschaft der Merowinger, bildete sich zunehmend eine zentrale Staatsgewalt heraus, die auch solche Taten, die ursprünglich Anlass einer Privatfehde waren, öffentlich ahndete. Diese Entwicklung gewann besonders unter den Karolingischen Herrschern an Bedeutung und erreichte unter Karl dem Großen ihren vorläufigen Höhepunkt. Das fränkische Recht dieser Epoche kannte die Strafe der „Verknechtung" für Frauen, die mit einem Knecht Unzucht getrieben hatten. Sie wurden also unfrei und der Sippe des „Geschädigten" übergeben. Häufig wurden sie jedoch auch ausgepeitscht und anschließend auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ein freier Mann, der sich mit einer freien Frau einließ, unterlag dem Racherecht der Verwandten der Frau; er konnte sich nur durch Zahlung einer Buße entlasten. Eheliches Zusammenleben ohne „rechte Ehe" war bis ins frühe Mittelalter als Kebs-Ehe anerkannt. Mit dem Erstarken der Kirche in der Karolingerzeit und ihrer Ablehnung des Konkubinats unterlag dies jedoch zunehmend der kirchlichen Strafgewalt. Notzucht und Frauenraub gehörten auch in der fränkischen Zeit zu den schwersten Vergehen. Den jeweils regional verschiedenen weltlichen Strafgesetzen entsprechend, wurden die Täter entweder enthauptet, verbrannt, verfielen der Friedlosigkeit oder wurden ausgepeitscht und an die Sippe der geschändeten Frau verknechtet. Manchmal hatten sie auch hohe Bußen zu zahlen. Die Summe hing davon ab, ob die Geraubte entehrt worden war oder unversehrt zu ihrer Sippe zurückkehren konnte. Nach dem Regensburger Stadtrecht wurden dem Täter die Augen ausgestochen. Entführung und Eheschließung ohne Einwilligung der Muntgewalt, das heißt des Erziehungsberechtigten, wurden milder als Frauenraub bestraft. Der Täter musste zumeist eine empfindliche Geldbuße zahlen, wurde verbannt oder in den Kerker geworfen, die Frau verlor ihre Erbberechtigung. Entführung einer fremden Ehefrau oder eines Mädchens unter zwölf Jahren war selbst bei Einwilligung der Verführten ein Verbrechen, auf das die Todesstrafe stand. Gleiches galt für Blutschande, homosexuelles Verhalten und Geschlechtsverkehr mit Tieren. Letztere wurden jedoch durch den wachsenden Einfluss der Kirche zum Ausgang der fränkischen Zeit zunehmend als religiöse Vergehen betrachtet. Damit fielen sie unter die kirchliche Strafgewalt. Dies galt bis ins späte Mittelalter. Ausnahmen wie das Augsburger Stadtrecht von 1276, das den Feuertod für „widernatürliche Unzucht" androhte, waren selten.


Erst gegen Ende des Mittelalters beginnt das weltliche Recht, sich erneut mit „widernatürlicher Unzucht" zu befassen. 1496 wird in Frankfurt am Main ein Mann, der mit seiner Schwiegermutter Unzucht getrieben hatte, enthauptet. 1477 wird in Speyer eine Prostituierte wegen lesbischer Beziehungen ertränkt.


Die kirchlichen Gerichtshöfe des Mittelalters


Bis zum Hochmittelalter hatte in Deutschland das kirchliche Sexualstrafrecht das weltliche fast vollständig bestimmt. Das kirchliche Recht beruhte auf Sammlungen päpstlicher Dekrete und weltlicher Gesetze sowie entsprechender Beschlüsse einzelner Konzile, wie zum Beispiel der Konzile von Elvira (um 300), Ancyra (314), Tours (576), Toledo (693), Reims (1049) und London (1175). Die eigens hierfür eingesetzten kirchlichen Gerichtshöfe befassten sich mit Vergehen wie Ketzerei, Gotteslästerung, Hexerei und sexuell abweichendem Verhalten. Diese Gerichtshöfe hatten anfangs nicht die Macht, eine weltliche Bestrafung anzuwenden, sondern sie durften lediglich bestimmte Bußen verordnen. Dazu gehörten Fasten, Enthaltung vom ehelichen Geschlechtsverkehr, Verzicht auf Waffentragen oder die Entrichtung von Almosen. Wer nicht geständig war oder keine Buße tat, wurde exkommuniziert.


Die kirchlichen Gerichte fühlten sich nicht an die üblichen Beweisregeln gebunden, sondern hielten sich in der Hauptsache an freiwillige Bekenntnisse. Verbrecher bekannten ihre Sünden zumeist, da sie um ihr Seelenheil fürchteten. Nur das kirchliche Gericht konnte sie vor ewiger Verdammnis schützen. Die Richter ihrerseits fühlten sich dazu berufen, nicht nur die Taten, sondern auch bloße sündige Gedanken zu verurteilen. Die verschiedenen Arten und Härtegrade der Bestrafungen wurden in eigens dafür angefertigten Bußbüchern niedergeschrieben. Heute geben uns diese ein relativ genaues Bild der Kirchenjustiz im Mittelalter.


Die Einstellung der Kirche gegenüber der Sexualität war ausgesprochen negativ. Selbst der eheliche Geschlechtsverkehr war nach Ansicht der Kirche so weit wie möglich einzuschränken. Nach der Hochzeit durfte er drei Tage lang nicht stattfinden, ebensowenig während der Menstruation, der Schwangerschaft und mehrere Wochen nach der Geburt. Geschlechtsverkehr war auch am Donnerstag verboten (am Tag der Gefangennahme Jesu), am Freitag (am Tag der Kreuzigung) und am Sonntag (am Tag der Auferstehung), ebenso während der Fastenzeit (40 Tage vor Ostern und vor Weihnachten) Frauen durften während der Menstruation die Kirchen nicht betreten. Auf Vergewaltigung stand Buße bis zu einem Jahr, auf Ehebruch bis zu sieben Jahren. Masturbation und unbeabsichtigter Orgasmus im Schlaf wurden mit weniger harten Bußen belegt. Homosexuelles Verhalten und sexueller Kontakt mit Tieren konnten demgegenüber mit Bußen von 22 Jahren bis lebenslänglich geahndet werden.


Es mag heute seltsam anmuten, dass die vorgeschriebenen Bußen so unterschiedlich waren, zum Beispiel für Ehebruch und homosexuelle Handlungen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese Sünden nach der Vorstellung des Mittelalters ganz verschiedenen Kategorien zuzuordnen waren. Sexualität, die nicht der Fortpflanzung diente, war ein Verbrechen wider die „natürliche Ordnung" und damit gegen Gott selbst. Sünden „natürlicher" Wollust, wie Verführung, Ehebruch oder sogar Vergewaltigung, die sich lediglich gegen andere Menschen richteten, waren vergleichsweise nicht so schwerwiegend.


Büßer hatten in weiße Tücher gehüllt, barfuß und unbedeckten Hauptes an der Kirchentür zu erscheinen. Sie mussten eine schwere Kerze tragen und wurden durch das Seitenschiff vor die Gemeinde geführt, wo sie ein öffentliches Geständnis abzulegen hatten. Wenn die Frist der Buße verstrichen war, nach einigen Wochen oder Jahren, erhielten sie hierüber ein schriftliches Dokument. Sünder, die ein Geständnis vor dem kirchlichen Gerichtshof verweigerten oder die die vorgeschriebene Buße nicht erfüllten, wurden exkommuniziert.


Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Bußen jedoch immer häufiger pauschal abgegolten und allein durch Almosen oder Geldleistungen erfüllt. Teilweise bestand sogar die Möglichkeit, sich gegen Bezahlung von anderen in seiner persönlichen Buße vertreten zu lassen. Die Einführung der Beichte mit anschließender Absolution verringerte ebenfalls den praktischen Wert der Bußbücher zusehends. Mit zunehmender Verschmelzung von kirchlicher und weltlicher Macht fanden auch Strafen mit gemischt geistlich-weltlichem oder vorwiegend weltlichem Charakter Eingang in das kirchliche Strafsystem, Dazu gehörten unter anderem die Prügel- und Geldstrafe, Haft, Ausweisung, Bann, Acht, Brandmarkung, das Haarescheren und die Verknechtung. Für besonders schwere Verbrechen wie homosexuelle Handlungen und „Unzucht mit Tieren" sahen die Kapitulare des Benedictus Levita die Todesstrafe durch Verbrennen vor. Sie bezogen sich dabei auf gefälschtes historisches Material und insbesondere auf Justinians Theorie der grauenhaften Folgen jeder sexuellen Abartigkeit. Diese kirchliche Rechtssammlung gewann im Laufe des Mittelalters zunehmend an Bedeutung. Im Spätmittelalter wurde sie auch von den weltlichen Gerichten anerkannt.


Kirchenstrafen wurden wegen Unzucht zwischen Unverheirateten, Konkubinat, Ehebruch, Bigamie und Blutschande verhängt. Dabei machte sich, in bezug auf die drei letzten Vergehen, die Tendenz der Säkularisierung des Rechts frühzeitig bemerkbar. Unzucht mit Kindern, wie sie das moderne Recht kennt, ist in den kirchlichen Rechtsquellen des Mittelalters nicht zu finden. Dort wo Fälle bekannt sind, lässt die Strafart der Pfählung vermuten, dass die Täter wegen Unzucht verurteilt wurden, jenem Verbrechen, das von jeher der Zuständigkeit der weltlichen Gerichte unterlag. Es wurde als das schwerste Sexualdelikt des Mittelalters betrachtet.


Kirchliches und weltliches Strafsystem existierten von jeher nebeneinander. Aber im Mittelalter wurde aus dem ursprünglichen kirchlichen Monopol in Sachen Sexualstrafrecht ein weltliches Recht in den Händen weltlicher Gerichte. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen wurde mit der Zeit die Abgrenzung zwischen beiden Bereichen in mannigfacher Weise verwischt, indem der Staat die kirchlichen Strafen zu vollziehen hatte oder - später - neben oder unabhängig von den kirchlichen Strafen eigene, weltliche Strafen verhängte. Die Auffassungen der Kirche von der Sexualität waren überdies in Anbetracht der tatsächlichen Lebensverhältnisse völlig unrealistisch. Selbst die Kirchenmänner verstießen offen gegen die kirchlich geforderte Sexualmoral. Aber nicht nur auf der Ebene des Sexualstrafrechts gerieten die kirchlichen Gerichtshöfe in Konkurrenz zu den weltlichen Gerichten. Den Feudalherren des Mittelalters stand zum Beispiel eine finanzielle Belohnung zu, wenn sie den Töchtern ihrer Untertanen zu heiraten erlaubten. Verwirkte die Tochter ihre Heiratschance dadurch, dass sie in lockeren sexuellen Verhältnissen lebte, so brachte dies den Feudalherrn um seine Belohnung. In solchen Fällen war es Aufgabe der weltlichen Gerichte, den entstandenen Schaden einzuklagen. Da aber die Kirche durch ihre Gerichte selbst Geld einnahm, war es den Beklagten oft nicht möglich, eine zweite Zahlung an die weltliche Obrigkeit oder an ihre Opfer zu leisten. Im Gefolge dieser Entwicklung wurde das gesamte System der kirchlichen Gerichtshöfe zunehmend in Frage gestellt.


Die Säkularisierung des Sexualstrafrechts kam in Deutschland im wesentlichen mit der Reformation und der katholischen Gegenreformation zum Abschluss. Im Zusammenhang mit jenen Ereignissen erfuhr das Sexualstrafrecht grundlegende Veränderungen.


Reformation, Hexenverfolgung und Aufklärung


Die im Jahre 1517 mit dem Anschlag der 95 Thesen durch Martin Luther begonnene Reformation schwächte den Einfluss der Römischen Kirche und damit auch der kirchlichen Gerichtshöfe erheblich. Luthers Forderung nach Rückbesinnung auf die zentralen, im Evangelium offenbarten Glaubenswahrheiten und auf urchristliche Verhältnisse bedeutete gleichzeitig die Forderung nach Rückzug des Glaubens aus weltlichen Machtsphären. Insbesondere betraf dies das kirchliche Büß- und Strafsystem und damit auch die Sexualdelikte. Mit dem Übertritt vieler deutscher Landesfürsten zum Protestantismus, spätestens aber mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 war diese Entwicklung nicht mehr rückgängig zu machen. Die in den protestantischen Landesteilen durchgeführte Eherechtsreform verlangte die kirchliche Trauung, das Heraufsetzen des Mindestalters für die Eheschließung und ein Vetorecht der Eltern.


Im Rahmen der katholischen „Gegenreformation" nach dem Ende des Trienter Konzils (1563) erfolgte die katholische Eherechtsreform, die gleichfalls kirchliche Trauung forderte und alle nicht kirchlichen „Konsensehen" für nichtig erklärte. Um dem kirchlichen Ehegebot Geltung zu verschaffen, musste die weltliche Macht zunehmend vor- und außereheliche Beziehungen unter Strafe stellen und durch besondere Verordnungen zu verhindern suchen, dass es zu solchen „Unzuchthandlungen" kam. So breitete sich ein zunehmend sexualfeindliches Klima aus. In Trier verbot eine Verordnung den Frauen „all zu gemeinen, freien und verdächtigen Umgang" mit Soldaten, Handwerksburschen und anderen ledigen Männern. In Köln wurde das Baden im Rhein verboten. Beim Viehhüten, in der Schule, selbst bei der Totenwache musste streng auf die Trennung der Geschlechter geachtet werden.


Nicht unwesentlicher sozialer Hintergrund war die Tatsache, dass große Teile Europas an einer im Vergleich zu den gegebenen wirtschaftlichen Möglichkeiten zunehmenden Überbevölkerung litten und die herrschenden Stände - besonders in den städtischen Zentren - zur Verteidigung ihrer Privilegien mit dem neuen Eherecht Bevölkerungspolitik betrieben. Wer heiraten wollte, hatte in vielen Fällen ein Mindestvermögen nachzuweisen. Zur Verhinderung „wilder" Ehen, unehelicher Geburten und der zunehmenden Kindestötung musste ein strenges Sexualrecht geschaffen werden. Das weltliche Recht, das sogenannte „gemeine Recht" des ausgehenden Mittelalters, lehnte sich an das römische Recht und die daraus entwickelte italienische Rechtslehre an und bezog darüber hinaus eher theokratische, dem „göttlichen Recht" und dem orthodoxen Luthertum verbundene Auffassungen ein. Letztere wurden insbesondere von dem in Leipzig lebenden Juristen Benedict Carpzov bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts vertreten. In dieser Rechtslehre wurden die Rechtstheorien Justinians und des Benedictus Levita zum Teil wörtlich übernommen, die Gott als vornehmsten Schöpfer des Rechts betrachteten, der seinen Willen in der Bibel und im Mosaischen Recht offenbart hatte. Danach war Gott jede außereheliche, nicht zur Zeugung führende sexuelle Handlung ein Greuel. Der Staat hatte solcher Art Unzucht mit strengsten Strafen zu begegnen.


Nach Artikel Nummer 116 der „Peinlichen Gerichtsordnung" des Kaisers Karl V. aus dem Jahre 1532, die bis Mitte des 18. Jahrhunderts als Rechtsgrundlage des gemeinen Rechts galt, waren homosexuelle Handlungen von Männern und Frauen und sexueller Umgang mit Tieren als „Verbrechen wider die Natur" mit dem Feuertod zu bestrafen. Darüber hinaus kannte das gemeinte Recht die gleiche Bestrafung für heterosexuellen Analverkehr. Sogar Masturbation und sexuelle Handlungen mit Figuren aus Holz oder Stein wurden zumindest mit Landesverweisung oder schwerem Kerker bestraft.


Diese unbarmherzigen und grauenvollen Strafen für jedes von der kirchlichen oder staatlichen Moral abweichende Sexualverhalten sind allerdings nicht zu verstehen, ohne die Ereignisse um die Ketzer- und Hexenverfolgung des Mittelalters vor Augen zu haben. Sie erreichten in Mitteleuropa ihren Höhepunkt im 15. Jahrhundert und dauerten bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Sie haben nach Schätzungen fast eine Million Opfer gefordert. In Deutschland fand der letzte Hexenprozess 1749 in Nürnberg, in Europa der letzte bekannte im Jahre 1782 im Schweizer Kanton Glarus statt. Die Ketzer-und Hexenprozesse hatten den Begriff der Sodomie entscheidend ausgeweitet. Bis ins 16. Jahrhundert bedeutete der Vorwurf der Sodomie oft gleichzeitig die Anklage der Hexerei oder umgekehrt. Unter den Begriff „Sodomie" fielen alle Formen außerehelicher, nicht der Zeugung dienender sexueller Handlungen. Begonnen hat diese Entwicklung im 12. Jahrhundert mit den Ketzerprozessen gegen die religiösen Sekten der Katharer und Waldenser, die insbesondere in Frankreich - in den Alpenländern Savoyen und Piemont- sowie in den oberen Rheingebieten lebten. Der Glaube der Katharer an den Teufel als bösen Gott und Weltenherrscher gab der Römischen Kirche Anlass, den Ketzern Verehrung des Teufels an Gottes Statt, Verhöhnung der Sakramente und allerlei Greueltaten bei ihren Versammlungen vorzuwerfen. So sollten diese Ketzer fürchterliche Unzucht aller erdenklicher Art untereinander getrieben, kleine Kinder geschlachtet und deren Fleisch gegessen und zudem einen Pakt mit dem Teufel durch einen Kuss besiegelt haben. Waren die Ketzersekten bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts so gut wie ausgerottet, „entdeckten" die Kirchenmänner nun eine geheime Hexensekte, deren Mitglieder Schadenszauberei betrieben, mit dem Teufel buhlten und Unzucht trieben, indem sie ihn unter anderem auf den Anus küssten. Man traf sich auf dem geheimen Hexensabbat, wohin man sich durch die Lüfte begab, und bei wüsten Orgien, wo einschließlich Inzest alles erlaubt und geboten war, wo man Kinderfleisch aß und über die letzten Schadenszauberwerke berichtete. Der Teufel, ob in Menschengestalt - dann auf jeden Fall mit einem zumeist linken Pferdefuß - oder in verschiedenen Tiergestalten, war anwesend.


Hatte die Kirche noch bis zum Ende des 13. Jahrhunderts mit verschiedenen Dekreten versucht, jedem Glauben an dämonische Zauberei und nachtfahrende Personen entgegenzutreten (wodurch es vereinzelt zu kirchlichen Anklagen wegen Hexerei gekommen war), so war zu Beginn des 14. Jahrhunderts eine entscheidende Wende eingetreten. Von fanatischen Predigern angetrieben - Zweifler wurden mit gewaltig ausgemalten Höllenvisionen eingeschüchtert -, griff der Hexenglaube alsbald von den Alpenländern nach Norden in Deutschland um sich und rief kirchliche und weltliche Gerichte auf den Plan. Während in Frankreich der Hexenverfolgung durch weltliche Mächte bald Einhalt geboten wurde, kam es in Deutschland auch gegen den Widerstand vieler regionaler Mächte im 15. Jahrhundert zunehmend zu Hexenprozessen.

 


Das Verbrechen der Sodomie


Die meisten Staaten der USA haben noch heute Gesetze gegen „Sodomie" oder „Verbrechen wider die Natur". Diese Gesetze stellen oralen oder analen Geschlechtsverkehr, auch unter Ehepartnern, unter schwere Strafen. Ursprünglich verstand man unter „Sodomie" allerdings ein religiöses Verbrechen, das nur Männer verüben konnten.


Die Zerstörung von Sodom

Die ersten Christen glaubten, die biblische Stadt Sodom sei von Gott zerstört worden, weil ihre männlichen Einwohner homosexuellen Geschlechtsverkehr hatten. Die moderne Bibelforschung hat dies zwar in Frage gestellt, auf alle Fälle hat diese Interpretation aber die christliche Einstellung über 1500 Jahre lang beeinflusst. (Mosaik aus dem Dom von Monreale)


Der christliche Kaiser Justinian und seine Ratgeber

Um die Zerstörung ihrer Städte durch Gott abzuwenden, erließen die christlichen römischen Kaiser die ersten Gesetze in Europa gegen „Sodomie", d. h. gegen homosexuelles Verhalten bei Männern. Verstöße wurden mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bestraft. Im 6. Jahrhundert schrieb der oströmische Kaiser Justinian (hier mit einem Heiligenschein) die Todesstrafe für männliche Homosexuelle in seinem berühmten Gesetzeswerk offiziell fest, das die gesamte westliche Rechtsprechung nachhaltig beeinflussen sollte, (Mosaik aus der Kirche von San Vitale in Ravenna)


Hinrichtung von Ketzern im Spanien des Mittelalters

Im Europa des Mittelalters wurde „Sodomie" sehr oft mit Ketzerei und Unglauben gleichgesetzt. Die spanische Inquisition verfolgte beispielsweise Juden, Ketzer und „Sodomiten" mit gleichem Nachdruck, 1479 verfügten König Ferdinand und Königin Isabella offiziell, dass Sodomiten öffentlich zu verbrennen und ihre Habe zu beschlagnahmen seien. Das Bild des zeitgenössischen Malers Pedro Berruguete zeigt die Art der Hinrichtung. Dem heutigen Betrachter fällt ein merkwürdiges Detail auf: Der Pfahl in der Mitte des Scheiterhaufens hat einen Pflock in der Form eines Penis, der zwischen den Beinen des Verurteilten hervorragt und den Körper während des Verbrennens aufrecht hält. (Prado, Madrid)

 


Leider ist es unabweislich, dass der Hexenwahn und die grauenhaften Umstände der Hexenverfolgung über Jahrhunderte das Verhältnis der Menschen zu jedem nicht der Zeugung dienenden Sexualverhalten negativ geprägt haben. Das schlug sich natürlich im jeweils geltenden Sexualstrafrecht nieder. Insbesondere die negative Einstellung zur Sexualität der Frau und zu homosexuellem Verhalten sind bis auf den heutigen Tag deutlich.


Neben den grauenvollen Strafen für jedwede Art „widernatürlicher Unzucht" entwickelte das gemeine Recht im ausgehenden 16. Jahrhundert in Ansätzen die Strafbarkeit für Unzucht mit abhängigen, wehrlosen und gefangenen Frauen sowie eine Unterscheidung bei sexuellen Handlungen mit minderjährigen Mädchen. War ein Mädchen unter sieben Jahre alt, dann lag nach damaligem Recht Notzucht vor. Der Täter wurde zumeist enthauptet. Bei Mädchen im Alter von sieben bis zwölf Jahren kam es für die Frage, ob Todesstrafe zu verhängen sei, entscheidend darauf an, ob der Täter gegen den Willen des Mädchens gehandelt hatte.


Erst durch die im 17. Jahrhundert entstehende Aufklärungsbewegung wurde das zum Teil grausame Denken des Mittelalters abgelöst. Begründet auf die zunehmenden naturwissenschaftlichen Kenntnisse und die wachsende Forderung des erstarkten Bürgertums nach gesellschaftlicher und rechtlicher Anerkennung wurde der Versuch unternommen, die Notwendigkeit der Strafe nicht mehr aus einem göttlichen Recht, sondern aus der menschlichen Natur und der auf sie gegründeten Gemeinschaft herzuleiten. Das Recht jedes Menschen auf Leben, die Verteidigung seiner Menschenwürde sowie die Feststellung der von Natur aus bestehenden Gleichheit aller Menschen waren Hauptbestandteile der Naturrechtslehre der Aufklärung, die schließlich in der Französischen Revolution 1789 ihren weltgeschichtlichen Höhepunkt erreichte. Die Forderung nach Schutz der Interessen des einzelnen vor staatlicher Willkür ließ die Vorstellung von einer Privatsphäre des Bürgers gegenüber dem Staat entstehen, in die der Staat nur dann eingreifen durfte, wenn dies den Interessen der Gemeinschaft oder dem Schutz der Rechte anderer Personen diente. Der Versuch, das Zusammenleben der Menschen auf der Grundlage der Vernunft zu bestimmen, musste zu einer deutlichen Kritik des Irrationalismus, des Aberglaubens und der gottbezogenen Weltanschauung des Mittelalters führen. Dies galt auch für die Strafrechtslehre - und da besonders für die Hexerei - und Sodomiedelikte. Während sich jedoch bis Ende des 18. Jahrhunderts die Straflosigkeit der Hexerei allgemein durchgesetzt hatte, fiel dies den Juristen in Deutschland bei der „Sodomie", das heißt der „widernatürlichen Unzucht", weiterhin schwer. Langsam und vorsichtig milderte sich wenigstens die Strafzumessung; die angeblichen Sodomiten wurden nun nicht mehr auf dem Scheiterhaufen verbrannt, sondern enthauptet; Masturbation und heterosexueller Analverkehr wurden, ohne begrifflich von der Unzucht mit Tieren unterschieden zu werden, mit Prügel, Kerker oder Zwangsarbeit bestraft. Handelte es sich um jugendliche Täter, konnten die Richter Milde walten lassen. Die Anwendung von Folter wurde zunehmend auf Ausnahmen - zu denen der Vorwurf der Sodomie nicht mehr gehörte -eingeschränkt und schließlich 1740 in Preußen durch Friedrich den Großen und 1773 in Österreich durch Maria Theresia abgeschafft.


Die strafrechtlichen Schlussfolgerungen aus den Gedanken der Aufklärung wurden bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fast ausschließlich der Rechts- und Gerichtspraxis überlassen. Dabei brach die deutsche Strafrechtslehre der deutschen Aufklärung durchaus nicht mit den grausamen und sexualfeindlichen Vorstellungen des mittelalterlichen Strafrechts, das weiterhin auf der „peinlichen Gerichtsordnung" des Kaisers Karl V. (aus dem Jahre 1532) beruhte.


 

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