Eine

13.3.3 Eine „neue Moral" für die Zukunft


Die moderne Herausforderung an religiöse Traditionen wird von vielen Menschen als bedrohlich empfunden und sie sind daher versucht, in ihr ein Zeichen für das Ende unserer Zivilisation zu sehen. Sie wollen keine Veränderungen,

insbesondere im Hinblick auf die sexuelle Ethik, und glauben hier nicht an den Fortschritt. Statt dessen sind sie der Auffassung, dass jede Lockerung früherer Einschränkungen zu sexuellem Chaos führt und dass sexuelle Normen wertlos sind, wenn sie ihren absoluten Charakter verlieren. Inzwischen haben jedoch selbst strenggläubige Menschen eingesehen, dass gewisse alte Dogmen unmoralische Auswirkungen haben, und sie haben begonnen, nach einer neueren, menschlicheren Moral zu suchen. Sie überwinden ihre traditionelle Ängstlichkeit und setzen sich mit dem neuen Ideal des Individualismus und der Selbstbestimmung auseinander, sie begrüßen eine strengere Trennung von Kirche und Staat. Sie wollen deshalb beispielsweise religiöse Glaubensanschauungen nicht mehr strafrechtlich verteidigt sehen. Selbst im Bereich der Sexualität akzeptieren sie heute das Prinzip, das John Stuart Mill in seinem berühmten Aufsatz „On Liberty" (1859) formuliert hat: „Der einzige Grund, aus dem Gewalt gegen ein Mitglied der Gesellschaft gegen dessen Willen zu Recht ausgeübt werden kann, ist der Schutz anderer vor Schaden. Sein eigenes - körperliches oder moralisches - Wohlergehen ist keine hinreichende Rechtfertigung. Jeder Mensch ist treuer Hüter seiner eigenen - körperlichen, geistigen oder seelischen- Gesundheit."


Dieses Prinzip bricht allerdings mit der traditionellen Moral von Jahrtausenden. Zu fast allen Zeiten waren Menschen nicht ihre eigenen „Hüter", sondern legten alle Entscheidungen über ihre seelische Gesundheit in die Hände religiöser und politischer Obrigkeiten. Nur diese „höheren" Obrigkeiten konnten entscheiden, was am Verhalten eines jeden gut oder schlecht war, sie hatten das Recht, jeden Andersdenkenden zum Schweigen zu bringen. Erst seit relativ kurzer Zeit wagen es einige demokratische Gesellschaften, ihre moralischen Grundsätze kritisch zu überprüfen und öffentlich zu diskutieren.


Diese Entwicklung wurde vor allem durch zwei Faktoren beeinflusst: durch den verstärkten Kampf um individuelle Rechte und durch die Feststellung, dass auch das selbstloseste Motiv keine Rechtfertigung für moralischen Despotismus darstellt. Der große christliche Schriftsteller C. S. Lewis hat es einmal so formuliert: „Von aller Tyrannei ist die Tyrannei, die zum Wohl ihrer Opfer geschieht, oft die grausamste." Selbstsüchtige, wollüstige und habgierige Tyrannen werden manchmal müde, aber ein Mensch, der andere „zu ihrem eigenen Besten" verfolgt, tut dies im vollen Bewusstsein, ohne Ausnahmen, ohne Rast und ohne Rücksicht auf die Folgen. Eine demokratische Gesellschaft verteidigt daher nur ihre eigenen Grundlagen, wenn sie die Autonomie ihrer Bürger respektiert und sie davor schützt, von omnipotenten moralischen Wichtigtuern belästigt zu werden.


Selbst dort, wo demokratische Werte theoretisch anerkannt sind, bedeutet das noch nicht, dass sie auch praktisch angewandt werden. Wenngleich beispielsweise die Verfassung der Vereinigten Staaten für individuelle Freiheit eintritt, besteht im Bereich der Sexualität immer noch ein hohes Maß an Unterdrückung, Die Tyrannei der Puritaner versucht immer wieder, jedermann in eine sexuelle Zwangsjacke zu stecken. So erließen amerikanische Gesetzgeber im späten 19. Jahrhundert den „Comstock-Act" gegen den Postversand „obszönen" Materials. Im frühen 20. Jahrhundert kriminalisierten sie den Ehebruch, der vorher straffrei gewesen war, und schlossen die lange bestehenden Bordelle. Nach dem Ersten Weltkrieg führte eine neue Kampagne gegen das „Laster" zum allgemeinen Verbot von Alkohol. In den dreißiger und vierziger Jahren führte die weitverbreitete Hysterie über „Perversion" zur Verabschiedung von Gesetzen gegen „sexuelle Psychopathen". In den fünfziger Jahren führte die Zwangsidee von einer kommunistischen und homosexuellen Verschwörung ( „Homintern") zu einer Welle repressiver Gesetzgebungen gegen Homosexuelle. Selbst in den siebziger Jahren wurden immer neue Anstrengungen unternommen, „Pornographie" zu beseitigen und Prostitution zu beenden, indem man die Kunden der Prostituierten verhaftete.


Die Erfahrung lehrt jedoch, dass solche moralischen Kreuzzüge noch nie den gewünschten Erfolg hatten und dass sie die Dinge wahrscheinlich nur schlimmer machen. Comstocks Fanatismus versagte Frauen über Generationen ausreichende Sexualinformationen über Empfängnisverhütung und war damit für das große Elend verantwortlich, das Margaret Sanger und andere zu beseitigen suchten. Die Strafbestimmungen gegen außereheliche sexuelle Beziehungen führten zu unendlicher Heuchelei der Gerichte, die Tausende von Ehen wegen Ehebruchs schieden und dabei niemals den „schuldigen" Partner verfolgten. Die Schließung von Bordellen zwang viele Prostituierte, auf die Straße zu gehen und sich in den „Schutz" von Zuhältern zu begeben. Die Prohibition des Alkohols führte zu einem immensen Anstieg des organisierten Verbrechens, die Gesetzgebung gegen „sexuelle Psychopathen" und die gesetzliche Diskriminierung Homosexueller hatte das Entstehen einer neuen unterdrückten Bevölkerungsgruppe zur Folge, ohne dass hieraus der Allgemeinheit ein Nutzen erwachsen wäre. Der derzeitige „Krieg gegen Pornographie" verursacht Verluste enormer Summen von Steuergeldern, indem in juristisch eher fragwürdigen Verfahren diejenigen Verleger angeklagt werden, deren Produkte Millionen Leser regelmäßig kaufen. Diese Leser werden gleichzeitig die Opfer einer immer größeren Anzahl von Gewaltverbrechen.


Aber das Problem liegt tiefer. Die überkommene puritanische Tyrannei unterdrückt nicht nur ein paar sexuelle Sünder und Ketzer, sondern auch eine Vielzahl rechtschaffener, „durchschnittlicher" Bürger. Sexualforscher und Therapeuten haben festgestellt, dass rigide Moralvorstellungen Menschen buchstäblich krank machen und eine Vielzahl sexueller und sozialer Funktionsstörungen nach sich ziehen können. Diese Auffassungen können darüber hinaus Menschen möglicher Lust berauben und Frustration, Missgunst oder sogar Gewalt erzeugen. Die biologischen Fakten lassen sich jedenfalls nicht leugnen: Die Pubertät beginnt in der heutigen Zeit in immer jüngeren Jahren, während die durchschnittliche Lebenserwartung lange Zeit gestiegen ist. Die Folge ist allgemein eine beachtliche Zunahme der Jahre, in denen Menschen sexuell aktiv, aber nicht fortpflanzungsfähig sind.


Unter diesen Umständen ist es weniger gerechtfertigt denn je, die strenge Verbindung von Sexualität und Fortpflanzung in unserer Sexualmoral aufrechtzuerhalten. Es macht keinen Sinn, Menschen Schuldgefühle zu vermitteln über Bedürfnisse, die statt dessen auch eine Quelle des Glücks, der Gesundheit und der gegenseitigen Achtung sein könnten. Es wäre „anständiger", eine menschlichere, flexible Ethik zu entwickeln. Geschlechtsverkehr muss nicht nur als Mittel zur Fortpflanzung gutgeheißen werden, sondern auch als möglicher Wert an sich.


Wenn wir Lustgewinn und Selbstverwirklichung als legitime Zwecke der Sexualität akzeptieren, werden viele unserer traditionellen Normen, Gesetze und psychiatrischen Grundannahmen gegenstandslos. Dann gibt es zum Beispiel keinen vernünftigen Grund mehr, Geschlechtsverkehr auf die Ehe zu beschränken. Die moralische Verurteilung und Kriminalisierung der Sexualität zwischen unverheirateten Partnern ist dann nur noch willkürlich und ungerecht. Die früheren sexuellen „Ketzereien", „Greueltaten" oder „Perversionen" müssen dann nach ihren tatsächlichen gesellschaftlichen Auswirkungen beurteilt werden, und in manchen Fällen können sie sich als durchaus positiv erweisen. Außerdem, wenn man den Geschlechtsverkehr um seiner selbst willen gelten lässt, so müssen auch Verhütungsmittel für jeden von der Pubertät an verfügbar sein. Die Vorbehalte gegen Werbung für Verhütungsmittel in Radio, Fernsehen und Presse entfallen dann. Tatsächlich hat inzwischen die „Bevölkerungsexplosion" in vielen Ländern die Regierungen bereits dazu veranlasst, breit angelegte Kampagnen für Empfängnisverhütung durchzuführen. In manchen Ländern werden Verhütungsmittel sogar jedem, auch unverheirateten Jugendlichen, kostenlos zur Verfügung gestellt.


Es ist an dieser Stelle nicht erforderlich, auf die vielfältigen Möglichkeiten einer neuen Sexualmoral im Detail einzugehen. Es genügt hier festzustellen, dass drastische Veränderungen in jedem Fall unumgänglich sind, und dass wir in sexuellen Dingen uns daran gewöhnen müssen, möglicherweise „das Undenkbare zu denken". So sehen sich beispielsweise einige Regierungen heute bereits gezwungen, im Kampf gegen die Überbevölkerung zusätzliche Steuern oder Strafen für große Familien einzuführen und die Möglichkeit der Zwangssterilisierung zu diskutieren. Andere Länder empfehlen sexuelle Abstinenz vor der Ehe, setzen das Heiratsalter herauf und verurteilen jede Sinnlichkeit innerhalb der Ehe selbst. Konsequent angewandt, können solche Ansätze zwar die Geburtenziffern senken, sie führen aber mit Sicherheit gleichzeitig zu unerträglichen staatlichen Eingriffen. Daher werden sich demokratische Regierungen eher für den umgekehrten Weg entscheiden. Vielleicht kann tatsächlich nur vollkommene sexuelle Freiheit erfolgreich das Bevölkerungswachstum aufhalten.


Diese kurzen Ausführungen lassen bereits erkennen, dass die „sexuelle Revolution" noch lange nicht vorbei ist und dass nicht alle Experimente auf dem Gebiet der Sexualität und Ehe nutzlose Irrwege sind. Wie wir aber auch feststellen können, sind die dabei gemachten Erfahrungen keineswegs alle positiv zu bewerten. Einige zeigen unter Umständen durchaus negative Ergebnisse, die uns zwingen, sie zu verwerfen und neue Möglichkeiten zu erwägen. Auf alle Fälle scheint sicher, dass negative und positive Auswirkungen solcher Experimente immer mehr aus praktischen Erwägungen heraus beurteilt werden. Erst die Erfahrung wird eine endgültige Entscheidung bringen, nicht irgendwelche unbefragten religiösen Dogmen. Das bedeutet, dass unsere Sexualmoral viel mehr als bisher rationaler Überprüfung ausgesetzt sein wird.


Das soll jedoch keineswegs bedeuten, dass moralische Normen ganz und gar rational sein können. Die Wissenschaft allein kann uns nicht sagen, was wir sexuell tun oder nicht tun sollen. Sie kann uns bestenfalls wachsam und kritisch machen, kann aber nicht aus sich heraus ethische Normen aufstellen. Werturteile sind immer im Kern unwissenschaftlich. Es gibt keinen objektiven Weg, moralische Entscheidungen zu treffen. Wenn es um Fragen von Gut oder Böse geht, werden wir immer von unserem Glauben, von Gefühl und Traditionen abhängen.


Daher spielen die großen Religionen, auch unsere eigene, noch immer eine entscheidende Rolle in unserer Einstellung zur Sexualität. Solange wir vorsichtig und zurückhaltend bleiben, kann unser Glaube uns Kraft geben und uns zeigen, was für uns und unseren Nächsten „gut" ist. Die Religion wird uns sicher keine fertigen Lösungen aller moralischen Probleme mehr bieten können, aber sie kann uns allgemeine Richtlinien vermitteln. Auch die Tatsache, dass in der Vergangenheit Religion oft dazu missbraucht wurde, um Grausamkeit und sexuelle Unterdrückung zu rechtfertigen, kann heute unserer Aufklärung dienen. Wenn wir begreifen, wieviel menschliches Elend religiöse Fanatiker auf dem Gewissen haben, werden wir mit unseren eigenen moralischen Ansprüchen bescheidener sein.


 

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