Die religiöse Tradition

13.3.1 Die religiöse Tradition


Unser moralisches Erbe wird oft als „jüdisch-christlich" beschrieben. Das bedeutet, dass unsere Wertvorstellungen aus der jüdischen und christlichen Religion stammen, und diese Erklärung ist zu einem gewissen Grade richtig. Aber diese beiden Religionen selbst sind, auch wenn wir uns dessen oft nicht bewusst sind, durch viele andere alte Glaubensvorstellungen mitgeprägt. Direkt oder indirekt sind unsere Einstellungen auch durch nahöstliche Mythen, griechische Philosophie, römische Gesetze und germanische Gebräuche beeinflusst worden. Selbst wenn wir uns nur mit der „christlichen" Tradition beschäftigen, stellen wir fest, dass sie zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausgelegt wurde. So beweisen historische Untersuchungen zum Beispiel, dass die Einstellung des Christentums gegenüber Sexualität im Laufe der Jahrhunderte sehr unterschiedlich war und dass diese Unterschiede keineswegs so leicht zu erklären sind, wie wir oft annehmen. Um nur ein Beispiel zu geben: Wir sind es gewohnt, Religiosität mit Schamhaftigkeit gleichzusetzen, obwohl das mittelalterliche England Chaucers, mit all seinen Unflätigkeiten und Anzüglichkeiten, ein wesentlich frömmeres Land war als das prüde England der Königin Victoria. Dennoch kann man im großen und ganzen sagen, dass die jüdisch-christliche Doktrin lange Zeit unser Leben beherrscht hat, und dass viele ihrer Anschauungen willkürlich und engstirnig waren. Fast immer haben Juden und Christen geglaubt, der einzige Zweck der Sexualität sei die Fortpflanzung.


Im alten Israel wurde nach dem Gesetz „Seid fruchtbar und mehret euch" jedermann zur Fortpflanzung angehalten. Koitus zwischen Ehepartnern wurde gefördert, jede andere Form sexuellen Ausdrucks war tabu. Sogar Geschlechtsverkehr zwischen Ehepartnern wurde als sündig erachtet, wenn die Frau ihre Menstruation hatte, also nicht schwanger werden konnte. Die „schlimmsten" nicht auf Fortpflanzung gerichteten Sünden waren homosexueller Geschlechtsverkehr und sexueller Kontakt mit Tieren, die als „Greueltaten" und Götzendienst galten. So wurden sie zu religiösen Verbrechen. Sie verletzten Gottes „natürliche Ordnung", und jeder, der solche Verbrechen beging, galt gleichzeitig auch als Ketzer. Unter den Gläubigen konnte er nicht toleriert werden, man musste ihn daher töten.


Die ersten Christen verwarfen viele jüdische Auffassungen und Traditionen, aber hinsichtlich der Sexualität richteten sie sich mehr oder weniger nach dem Mosaischen Gesetz. Bald entwickelten sie sogar noch strengere eigene Gesetze. Eine Zeitlang wurden allen sexuellen Freuden zugunsten der Keuschheit abgelehnt. Zeugung innerhalb der Ehe wurde als legitim anerkannt, Enthaltsamkeit wurde jedoch als der höhere moralische Wert gepriesen. Diese neue Askese nahm zwar im Laufe der Zeit etwas ab, die negative Grundeinstellung blieb jedoch bestehen. Die einzige „natürliche" Funktion der Sexualität blieb, nach Ansicht der Kirche des Mittelalters, die Fortpflanzung.


Auch die protestantische Reformation zeigte wenig sexuelle Toleranz, Im Gegenteil, während die Protestanten das Zölibat angriffen, hielten sie an der Fortpflanzungsfunktion der Sexualität fest und verurteilten jede sexuelle Handlung außerhalb der Ehe. Sie scheuten sich nicht, die Gesetze des Alten Testaments gegen alle sexuelle Ketzerei wieder aufleben zu lassen, und diese bildeten dann die Grundlage der modernen Sexualgesetzgebung in England und Nordamerika.


 

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