Die moderne Herausforderung

13.3.2 Die moderne Herausforderung


Gegen Ende des Mittelalters wurden die alten jüdisch-christlichen Normen erstmals in Frage gestellt. Die Renaissance des griechischen und römischen Gedankenguts, der Wechsel vom feudalistischen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem, technische Neuerungen, die ersten Entdeckungsreisen, zunehmender Handel und die Geburt der modernen Wissenschaft machten den Menschen Mut, unabhängiger zu werden und viele traditionelle Glaubensvorstellungen in Frage zu stellen. Im Ergebnis der protestantischen Reformation verschwand darüber hinaus die frühere religiöse Einheit und Unumstößlichkeit. Eine wachsende Zahl neuer christlicher Gemeinschaften verbreitete ihre eigene Interpretation vom Willen Gottes, und obwohl sie sich in Fragen der sexuellen Ethik weitgehend einig waren, konnte ihre Uneinigkeit auf anderen Gebieten nur dazu führen, ihren Einfluss insgesamt zu vermindern. Schließlich gerieten sie sogar in Fragen der Sexualität in Widerspruch und beriefen sich alle auf die Bibel, um weit auseinanderliegende Meinungen und widerstreitende Auffassungen zu verteidigen. Viele Männer und Frauen wandten sich daher von der Kirche ab und orientierten sich in ihren moralischen Werten an anderen Vorbildern. Werte, die als absolut betrachtet worden waren, wurden im allgemeinen Prozess der Säkularisierung zunehmend relativiert.


Die „Verhütungs-Revolution"


Ein zunehmendes Wissen auf dem Gebiet der menschlichen Sexual- und Fortpflanzungsfunktionen machte die bewusste Kontrolle der Fortpflanzung einfacher als je zuvor. Irgendwann im späten 17. oder frühen 18. Jahrhundert konnte man Kondome aus Tiereingeweiden im freien Handel kaufen. (Die Meinungen über den genauen Ursprung der Kondome ist unterschiedlich. In der einen oder anderen Form sind sie unseres Wissens wahrscheinlich bereits in der Antike benutzt worden.) Anfangs wurden die Kondome wahrscheinlich vor allem als Schutz vor Geschlechtskrankheiten benutzt, es dauerte jedoch nicht lange, bis man auch ihren Wert als Empfängnisverhütungsmittel schätzen lernte. Schließlich wurde im 19. Jahrhundert die Massenproduktion von Kondomen aus Gummi möglich. Das ermutigte immer mehr Menschen, bewusste Schwangerschaftsverhütung zu praktizieren. Nach und nach kamen andere Verhütungsmethoden hinzu, wie das Diaphragma (Pessar) um 1880, die Spirale (um 1930) und die „Pille" in den fünfziger Jahren. Gleichzeitig entwickelten sich private und öffentliche Organisationen, die versuchten, solche Mittel auch der breiten Bevölkerung zugänglich zu machen. In den meisten Ländern können heute Männer und Frauen Schwangerschaften bewusst vermeiden.


Die „Bevölkerungsexplosion"


Die Einführung sicherer Verhütungsmittel und der zunehmende Wille, sie anzuwenden, gaben den Menschen insgesamt neue Hoffnung, da sie sich ganz unvermittelt mit einem neuen Problem konfrontiert sahen - der drohenden Überbevölkerung.


Eigentlich war dieses Problem bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Thomas R. Malthus beschrieben worden, aber als in den folgenden Jahrzehnten das Bevölkerungswachstum in einigen europäischen Ländern nicht in dem für die Industrialisierung erforderlichen Umfang stattfand, nahmen religiöse und politische Führer die Warnung nur wenig ernst und forderten hohe Geburtenraten. Inzwischen hat sich die Auffassung von Malthus als richtig erwiesen: Das Bevölkerungswachstum auf unserem Planeten hat explosive Formen angenommen und ist an einem Punkt angelangt, wo die vorhandenen Rohstoffe und Nahrungsmittel nicht mehr ausreichen.


Man nimmt an, dass es die Spezies Mensch seit mindestens drei Millionen Jahren gibt, vor drei Jahrhunderten zählte die Menschheit jedoch erst etwa 500 Millionen Menschen (also etwas mehr als das Doppelte der gegenwärtigen Bevölkerung der Vereinigten Staaten). Kaum zwei Jahrhunderte später hatte sich diese Zahl bereits auf eine Milliarde verdoppelt. Bis 1930 waren es schon zwei Milliarden. Bis 1960 war die Zahl auf drei Milliarden angewachsen; nur 15 Jahre später, 1975, zählte die Weltbevölkerung bereits vier Milliarden Menschen. Das bedeutet, dass von allen Menschen, die jemals gelebt haben, ein Viertel heute am Leben ist. Es bedeutet auch, dass der heutige Trend dazu führen würde, dass in weiteren 35 Jahren die Weltbevölkerung sich abermals verdoppelte und die erschreckende Anzahl von acht Milliarden Menschen erreichte.


Ohne auf die Ursachen und Folgen dieser Entwicklung näher einzugehen, besteht kein Zweifel, dass wir die Forderung nach reproduktiver Sexualität neu überdenken müssen. Es gibt keine andere Lösung: Wenn Männer und Frauen einfach fortfahren, sich zu vermehren wie bisher, dann wird das Leben auf dieser Erde bald nur noch unter sehr großen Opfern möglich oder sogar ganz unmöglich sein. Wenn wir dagegen die derzeitigen Geburtenziffern auf ein erträgliches Maß senken wollen, dann muss eine weitgehende Trennung zwischen Sexualverhalten und Fortpflanzungsabsicht erfolgen. Vollständige sexuelle Abstinenz für Milliarden von Menschen kann nicht als realistische Alternative betrachtet werden.

Der Kampf um die Rechte des Einzelnen


Die Bewegung für die Selbstbestimmung des Menschen, die mit dem Ende des Mittelalters begann, hat inzwischen zu grundlegenden sozialen und politischen Veränderungen geführt. Zunächst religiöse Reformer, dann Wissenschaftler und Philosophen, schließlich gewöhnliche Bürger stellten sich gegen die absolutistische Herrschaft. Päpste und Könige wurden offen herausgefordert, der Wunsch nach „Aufklärung" ließ es jedem geraten sein, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen und alle etablierten Herrschaftsstrukturen in Frage zu stellen. Individualismus, Gleichheit und Unabhängigkeit waren die neuen Ideale, und um sie zu verwirklichen, wurden demokratische Regierungsformen in den Vereinigten Staaten und Europa durchgesetzt.


Der „aufgeklärte", autonome Mensch pochte auf gewisse „natürliche Menschenrechte", zu denen er das Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück zählte. Darüber hinaus forderte er Glaubensfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung. Es wurde jedoch bald deutlich, dass an diesen Rechten nichts „natürlich" war. Im Gegenteil, sie konnten nur durch bewussten Kampf erreicht werden. Sie waren nicht wirklich „Geschenke der Natur", sondern Errungenschaften des Menschen. Man musste für sie streiten, und wenn man sie einmal erlangt hatte, musste man sie verteidigen, um sie nicht wieder zu verlieren. Außerdem wurde diese neugewonnene Freiheit zunächst nur den Männern der weißen Mittel- und Oberschicht gewährt. Frauen, Sklaven, die Armen und bestimmte ethnische Minderheiten wurden in unterschiedlichem Ausmaß von ihnen ausgeschlossen. Erst als auch diese unterdrückten Gruppen begannen, für ihre Bürgerrechte zu kämpfen, gewannen sie eine gewisse Autonomie.


Der Kampf um die Verwirklichung von Menschenrechten hält weiterhin an und nimmt an Ausmaß und Intensität zu. In den Vereinigten Staaten haben Frauen, Schwarze und andere ethnische Gruppen noch immer nicht den Eindruck, dass ihre Diskriminierung ein Ende hat und sie kämpfen daher weiter. Darüber hinaus werden ihre Forderungen heute von anderen Minderheiten wiederholt, die sich bisher kaum zu Wort gemeldet hatten. Dazu gehören die alten Menschen, die Jugend, alleinstehende Erwachsene, Homosexuelle, Körperbehinderte, Menschen in psychiatrischen Einrichtungen und Strafgefangene. Jede dieser Minderheiten verfolgt eigene Ziele, wir können jedoch hier einen gemeinsamen Punkt hervorheben: Sie alle sind seit langer Zeit Opfer sexueller Unterdrückung.


Sexuell unterdrückte Gruppen ergeben sich heute jedoch nicht mehr in ihr Schicksal, sondern fordern dieselbe Freiheit wie alle anderen. Sie entschuldigen sich nicht länger für ihre Bedürfnisse und weigern sich, den ihnen zugewiesenen minderen Status zu akzeptieren. Das bedeutet auch, dass diejenigen, die diese Unterdrückung fortsetzen wollen, heute neue Erklärungen und Rechtfertigungen für ihr Vorgehen finden müssen, was zunehmend schwieriger wird, da sie meist religiöse Gründe ohne rationale Basis anführen. Unter diesen Umständen können wir hoffen, dass der Kampf um sexuelle Befreiung erfolgreich sein wird. Er ist Teil des allgemeinen Kampfes um die individuelle Freiheit und stellt daher einen wichtigen, positiven Faktor für die Entwicklung zu einer offeneren, gerechteren und freieren Gesellschaft dar. Wenn mehr Menschen größere Rechte zugestanden werden, bedeutet dies ja schließlich nicht die Abschaffung jeder moralischen, juristischen und politischen Ordnung; eine Gesellschaft wird hierdurch nur demokratischer.


 

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