Die Zukunft der Sexualerziehung

13.2.2 Die Zukunft der Sexualerziehung


Im Jahre 1970 erstattete die „Bundeskommission gegen Obszönität und Pornographie" gegenüber dem Präsidenten und dem Kongress der Vereinigten Staaten einen Bericht mit der Anregung, „sich mit Nachdruck der Sexualerziehung zu widmen ... Sie muss vermitteln, dass Sexualität ein normaler und natürlicher Bestandteil des Lebens und jeder Mensch ein sexuelles Wesen ist. Sie sollte sich nicht an orthodoxen Vorbildern orientieren, statt dessen sollte sie eine größere Vielfalt von Wertvorstellungen zulassen. Sie sollte sich auf die Vermittlung von Tatsachen beziehen und nicht nur biologische und physiologische Kenntnisse vermitteln, sondern auch soziale, psychologische und religiöse Tatsachen beinhalten . .. Sie sollte sich in der jeweils angemessenen Form an alle Gruppen der Bevölkerung wenden, an Erwachsene ebenso wie an Kinder und Jugendliche." Diese Sätze beschreiben sehr genau die Ziele und Methoden moderner Sexualerziehung und geben sinnvolle Richtlinien für die Zukunft. So stimmt man heute allgemein darin überein, dass Sexualerziehung positiv - nicht negativ, wie so oft in der Vergangenheit - orientiert sein muss. Menschen müssen lernen, ihre Sexualität anzunehmen - nicht abzulehnen. Darüber hinaus wird deutlich, dass man es sich heute in unserer westlichen Kultur in der Sexualerziehung, wie in jedem anderen Erziehungsbereich, nicht leisten kann, dogmatisch zu sein. Ebenso deutlich ist, dass sie über die biologischen Grundtatsachen oder eine mechanistische Beschreibung der Fortpflanzung hinausgehen muss. Sexualerziehung muss heute wesentlich weiter greifen und Diskussionen über sexuelle Gefühle und Phantasien, Lust, Anschauungen, Aberglauben und Funktionsstörungen einschließen. Sie muss die Einstellungen verschiedener Gesellschaften und historischer Phasen gegenüber der Sexualität einschließen, erotische Kunst, Sexualstrafrecht und insgesamt die „Sexualpolitik" von Gesellschaften. Schließlich darf sie sich nicht nur auf Kinder beschränken, sondern muss sich an die gesamte Bevölkerung wenden.


Erziehung ist ja genaugenommen ein lebenslanger Prozess. Menschen lernen während ihres ganzen Lebens. Und sie lernen nicht nur als Individuen - Familien, Gemeinschaften, Berufsgruppen, politische Parteien, selbst ein ganzes Volk können als Ergebnis von Sexualerziehung ihre sexuelle Einstellung ändern. Sie können sich gesündere Lebensformen aneignen, vernünftigere moralische Wertmaßstäbe und eine größere Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten. Dies wiederum kann dazu führen, dass der einzelne und die Gemeinschaft glücklicher werden.


Zweifellos liegt eine der Ursachen des gegenwärtigen sexuellen Elends in der Unwissenheit. Manche sexuellen und gesellschaftlichen Probleme sind das Ergebnis schlichter Fehlinformationen. Menschen, die die normalen Körperfunktionen und das einfachste menschliche Verhalten nicht verstehen, werden leicht Opfer lähmender Ängste oder Hemmungen, die ihre zwischenmenschlichen Beziehungen erheblich belasten. Das war Sexualerziehern immer bewusst, und auch Ärzte haben sich in der Praxis an diese Einsicht gehalten. Wie wir bereits gesehen haben, wurde so das medizinische Modell der sexuellen Abweichung in vielen Fällen durch ein lerntheoretisches Modell ersetzt. Ärzte und Psychiater haben spezielle Therapieformen entwickelt, die man sehr wohl auch als eine Form der Erziehung beschreiben kann. Die Psychoanalyse zum Beispiel kann als autobiographisch verfahrende Methode bezeichnet werden, als Erziehungsprozess, in dem der Analysand sich unter der Anleitung des Analytikers über seine eigene Lebensgeschichte aufklärt.


Viele moderne „Sexualtherapien" können ebenfalls als Formen der Erziehung bezeichnet werden. In der Behandlung sexueller Funktionsstörungen verbinden beispielsweise Masters und Johnson Sachinformation mit praktischen Übungen, die es Männern und Frauen ermöglichen, befriedigendes Sexualverhalten zu erlernen oder wieder zu erlernen. Auch ein von der nordamerikanischen Organisation „National Sex Forum" entwickeltes Programm, S. A. R. (Sexual Attitudes Restructuring) genannt, vermittelt den Teilnehmern Einsichten in ihr eigenes Verhalten und lehrt sie so ein besseres Verständnis und größere persönliche sexuelle Erfüllung. All diese Entwicklungen erhärten eine frühere Feststellung: Sexualerziehung ist mehr als nur theoretische Unterweisung über die Geschlechtsorgane, ihre Funktion und ihren Gebrauch. Vielmehr verbindet sie Theorie und Praxis in einem fortwährenden Prozess der Entwicklung aller körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen. Sexualerziehung im eigentlichen Wortsinn ist also die Erziehung des ganzen Menschen als sexuelles Wesen.


Deshalb sollte verantwortungsbewusste Sexualerziehung bereits im frühen Kindesalter beginnen. Kinder müssen mit ihren Körperfunktionen vertraut gemacht werden. Sie müssen lernen, Zuneigung zu geben und anzunehmen, man muss ihnen dazu verhelfen, ihre männliche oder weibliche Geschlechtsidentität zu finden. Gleichzeitig muss dafür gesorgt werden, dass sie nicht in überholte, enge Geschlechtsrollen gezwängt werden. Voreilig Kinder in sexuelle Klischees zu pressen ist ungerecht und kann sie oft daran hindern, ihre menschlichen Fähigkeiten voll zu entwickeln. Natürlich darf man Kindern zu keinem Thema, das sie interessiert, die Antwort verweigern. Das gilt auch für das Thema Sexualität. Private, persönliche Dinge sollten privat bleiben, aber sonst muss kein Thema ausgeklammert bleiben. Alle im vorliegenden Buch behandelten Themen können zum Beispiel mit Kindern durchaus besprochen werden, wenn einfache Begriffe gewählt werden und man sich den Erfordernissen ihrer Altersgruppe anpasst.


Da Sexualerziehung sich notwendig auch mit moralischen Wertvorstellungen befasst, ist sie natürlich vorrangig das Privileg und die Pflicht der Eltern. Aber wie in allen anderen Wissensgebieten kann die Schule einen sehr wichtigen Beitrag leisten, wenn sie ein breiteres biologisches, psychologisches, juristisches, historisches und kulturelles Wissen vermittelt. Das kann Kindern auch zeigen, dass eine nüchterne, realistische Einstellung zur Sexualität (wie zu vielen anderen umstrittenen Themen) ihre Vorzüge hat. Dies kann im Laufe der Zeit einen guten Einfluss auf das Niveau öffentlicher Auseinandersetzungen haben.


Die Vermittlung von Wissen über Sexualität muss sich indessen nicht auf Elternhaus und Schule beschränken. Auch die Kirchen, Jugendorganisationen, das Rote Kreuz, Pro Familia, öffentliche Bibliotheken, Museen und Zoologische Gärten können Sonderprogramme anbieten, die sich mit den verschiedenen Aspekten der Sexualität bei Mensch und Tier befassen. Verlage könnten bessere sexualpädagogische Bücher, Broschüren, Zeitschriften, Comics und Schallplatten für Kinder herausgeben. Filmproduzenten könnten unterhaltende und zugleich erziehende Filme über Sexualität für die ganze Familie, besonders aber für Jugendliche, anbieten. Das Fernsehen sollte eigene Sexualerziehungsprogramme für verschiedene Altersstufen senden. Es gibt unzählige Möglichkeiten, an die bislang zu wenig gedacht wurde. Tagespresse und Schülerzeitungen könnten sich mehr sexuellen Problemen von Jugendlichen widmen, der Sexualerziehung vielleicht feste Kolumnen zuweisen. Bestimmte Verhütungsmittel könnten noch viel häufiger in öffentlich zugänglichen Automaten verkauft werden. Man könnte ihnen gleichzeitig Informationsblätter über Empfängnisverhütung und Geschlechtskrankheiten beilegen. Solche Informationen könnten auch jeder Packung Hygienebinden oder Tampons beigefügt werden.


Solche Aufklärungskampagnen würden sich natürlich zum Teil mit allen Aspekten der Fortpflanzung befassen, sie könnten aber auch ihr Schwergewicht auf die emotionalen Aspekte der Sexualität legen. Die Fähigkeit zu lustbetonter sexueller Aktivität sollte unbedingt unterstützt werden. Leider stoßen all diese Bemühungen immer noch auf erheblichen Widerstand in der Öffentlichkeit. Sexuelle Erfahrungen Jugendlicher, wie wir sie an anderer Stelle bereits besprochen haben, werden in unserer Gesellschaft nur von wenigen Erwachsenen geduldet oder unterstützt. Unter diesen Umständen kann es wohl noch eine Weile dauern, bis auch an die praktische Seite der Sexualerziehung gedacht werden kann. Dennoch muss jedem klar sein, dass in fehlender Praxis ein ernstzunehmendes Problem jedes Erziehungsprogramms liegt. Es erwartet schließlich niemand, dass Schüler tanzen lernen, indem sie nur Vorlesungen hören oder Bücher lesen. Ebensowenig kann man Auto fahren lernen, indem man nur die Gebrauchsanleitung liest. Die Sexualerziehung, wie sie heute existiert und befürwortet wird, ist also nach wie vor grundlegenden Beschränkungen ausgesetzt wie kein anderes Erziehungsfach. Selbst dort, wo Studenten genug Informationen erhalten, gestattet man ihnen niemals, die Lerninhalte in die Praxis umzusetzen. Sie können sich nicht in konkreten Situationen mit wirklichen Sexualpartnern selbst beweisen, ihre eigenen Eindrücke sammeln und prüfen oder durch Versuch und Irrtum lernen. Diese merkwürdigen Beschränkungen geben aller offiziellen Sexualerziehung eine seltsame Aura der Unwirklichkeit, wenn nicht gar der Unaufrichtigkeit, und sie untergraben die Glaubwürdigkeit jedes noch so kompetenten Pädagogen.

Natürlich haben viele junge Menschen inoffiziell Geschlechtsverkehr und versuchen so, praktisches Wissen zu gewinnen. Da sie dies jedoch meist ohne die Zustimmung von Erwachsenen tun müssen, sind ihre Erfahrungen nicht immer so angenehm, lohnend oder lehrreich, wie sie es unter anderen Umständen sein könnten. Ihre Partner sind überdies häufig gleichen Alters und ebenso unerfahren und unsicher. In vielen früheren und heutigen Gesellschaften war man der Ansicht, Jungen und Mädchen sollten gleich in der Pubertät durch ältere Partner ins Sexualleben eingeführt werden. Aber von Gesetzes wegen wird ein solcher Kontakt zwischen Jugendlichen und Erwachsenen in den meisten Ländern Europas und Amerikas verboten.


Die meisten Schüler haben heute, wenn sie die Schule verlassen, bereits praktische sexuelle Erfahrungen und seien sie noch so unbefriedigend. Auf der Universität oder in der Ausbildung finden sie dann meist erweiterte sexuelle Möglichkeiten. Viele Universitäten und Ausbildungsstätten bieten heute spezielle Beratungsdienste für Empfängnisverhütung an. Hierzu sind auch Aktivitäten von „Pro Familia" oder anderer öffentlicher oder privater Einrichtungen zu zählen. In den letzten Jahren hat die Anzahl solcher Beratungsstellen deutlich zugenommen. Verfügbare Materialien, zum Beispiel Filme, Videobänder und Bücher sind in guter Qualität und großer Zahl verfügbar.


Eine andere Quelle der Sexualerziehung für Erwachsene sind Massenmedien jeder Art. Manche Zeitschriften sexuellen Inhalts haben erheblich dazu beigetragen, das allgemeine Wissen um sexuelle Techniken, erotische Kunst, juristische und philosophische Aspekte der Sexualität sowie die Geschichte sexueller Bräuche zu erweitern. Diese Zeitschriften werden oft von offizieller Seite als „obszön" oder „pornographisch" bezeichnet. Man muss jedoch anerkennen, dass sie oftmals sinnvolle sexuelle Information in einfacher Sprache enthalten. Sie schließen oft die Lücke, die von den „seriöseren" Veröffentlichungen gelassen wird. Dies gilt auch für sogenannte „pornographische" Filme. Viele von ihnen sind sicher als Schund zu bezeichnen, weil sie einen abstoßenden Inhalt haben und sexuelle Ausbeutung propagieren, aber einige der drastischsten „Pornofilme" haben ihren positiven, erzieherischen Effekt bei manchem schüchternen oder unerfahrenen Zuschauer gehabt.


Andererseits wird häufig zu Recht darauf hingewiesen, dass die heutige „Pornographie" ein höchst unrealistisches Bild der menschlichen Sexualität wiedergibt und so viele naive Betrachter in die Irre führt. Sexualpädagogen halten diese Gefahr für ernst genug, um darin einen Grund für Zensur oder für ein Verbot des entsprechenden Materials zu sehen. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass in den vergangenen Jahrhunderten wesentlich schädlichere Fehlinformationen in medizinischen und psychiatrischen Lehrbüchern, Enzyklopädien, Ehehandbüchern, Schulungsmaterialien der Polizei, Katechismen, Hirtenbriefen und Erbauungsschriften verbreitet wurden. Selbst heute noch werden mancherorts in Heftchen an den Kirchentüren gefährliche sexuelle Irrtümer verbreitet. Für junge Menschen können solche Schriften in hohem Maße schädlich sein. Darüber hinaus fördern sie Vorurteile und sexuelle Intoleranz. Im Vergleich dazu scheint die „Pornographie" meist relativ harmlos.


Zensur kann jedenfalls hier kaum die Antwort sein. In einer pluralistischen Gesellschaft kann das „beste" sexuelle Wissen nur durch ungehindertes Suchen in allen Richtungen gefunden werden, und die „korrekten" sexuellen Werte können nur in lebendiger öffentlicher Diskussion gefunden werden, die alle Meinungen zu Wort kommen lässt.


Im großen und ganzen umschreibt dies schon die heutige Situation und wird vermutlich auch für die Zukunft gelten. Wir können daher hoffen, dass wir letztendlich an einen Punkt gelangen, wo „Sexualität" kein bedrohliches besonderes Problem mehr darstellt. Statt dessen wird sie wieder ein natürlicher Aspekt des menschlichen Lebens werden, dem nicht zu viel und nicht zu wenig Bedeutung zugemessen wird. Wie in früheren, weniger repressiven Zeiten wird Sexualerziehung dann einfach Teil der allgemeinen Erziehung jedes Menschen sein.


 

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