Pioniere der Sexualerziehung

13.2.1 Pioniere der Sexualerziehung


Zu Beginn unseres Jahrhunderts wurde das Recht auf sexuelles Wissen erneut öffentlich zur Sprache gebracht. Besonders nach dem Ersten Weltkrieg begann man in vielen westlichen Ländern zu diskutieren, ob es nicht sinnvoll sei, jede Zensur von sexueller Information für Erwachsene aufzuheben und Sexualerziehung in die Lehrpläne der Schulen aufzunehmen. Sexualforscher und Ärzte schrieben neue Bücher zum Thema Sexualität und hielten öffentlich Vorträge. Es überrascht jedoch kaum, dass die ersten Verfechter der neuen Sexualerziehung auf erheblichen Widerstand stießen. Dennoch führten ihre beharrlichen Bemühungen im Laufe der Zeit zu einer rationaleren Einstellung in der Öffentlichkeit. Beispielhaft für viele sollen an dieser Stelle drei Personen aus verschiedenen Lebensbereichen und eine Organisation dargestellt werden. Die Personen gehören der jüngsten Vergangenheit der Vereinigten Staaten an, die Organisation ist noch heute aktiv.


Benjamin B. Lindsey (1869-1943)


Benjamin B. Lindsey war Jugendrichter in Denver im Bundesstaat Colorado, wo ihm die Zusammenhänge von Armut und Jugendkriminalität deutlich wurden. Er brachte zahlreiche Gesetzesvorschläge ein und leistete erhebliche Beiträge zur Verbesserung des Jugendstrafvollzuges im Staat Colorado und in anderen Bundesstaaten.


Sein soziales Engagement führte dazu, dass er überall im Land Vorträge hielt. Im Jahre 1925 schrieb er gemeinsam mit dem Journalisten Wainwright Evans eine Serie von Aufsätzen über sexuelle Probleme Jugendlicher, die unter dem Titel „The Revolt of Modern Youth" (Die Revolte der modernen Jugend) als Buch erschienen. Dieses Buch führte zu erheblichen Kontroversen, denn Lindsey behandelte unkonventionelles sexuelles Verhalten in rationaler und vorurteilsfreier Weise.Viele konservative Politiker und religiöse Führer beschuldigten ihn daher, die Moral der Jugend zu untergraben. Sein zweites Buch „The Companionate Marriage" (Die Kameradschaftsehe), das er ebenfalls mit Evans zusammen schrieb, führte 1927 zu noch heftigeren Diskussionen in der Öffentlichkeit. In diesem Buch sprach sich Lindsey unter anderem für Sexualerziehung und Information über Geburtenkontrolle an den Schulen aus. Angesichts der anhaltenden sexuellen Unterdrückung der Jugend schlug er eine neue Form der Ehe vor, die „Kameradschaftsehe", die er definierte als „rechtsgültige Ehe, mit legaler Geburtenkontrolle und dem Recht auf Scheidung im gegenseitigen Einvernehmen bei kinderlosen Paaren, gewöhnlich ohne gegenseitige Unterhaltszahlungen".


Mit diesem Buch gewann Lindsey internationale Anerkennung. Während seine gemäßigten und sinnvollen Vorschläge in den Vereinigten Staaten und in Europa weitgehend unterstützt wurden, beschuldigten ihn einige konservative religiöse Gruppen offen der Unmoral. Von seinen politischen Gegnern wurde er bald aus seinem Richteramt in Colorado entfernt. Lindsey ging dann nach Kalifornien, wo er bis zu seinem Tode als Richter in Los Angeles arbeitete.


Heute ist der Richter Lindsey fast vergessen, er war jedoch zu seiner Zeit ein weltweit bekannter engagierter und erfolgreicher Verfechter der Sexualreform.


Margaret Sanger (1883-1966)


Als Krankenschwester in den ärmeren Stadtteilen New Yorks sah Margaret Sanger vor allem bei Frauen viel sexuelles Elend. Sie erkannte bald, dass sie ihren Patientinnen nur dann sinnvoll helfen konnte, wenn sie sie über die Verhütung unerwünschter Schwangerschaften informierte. Sie begann deshalb, über dieses Thema zu schreiben. Von ihr stammt auch der Begriff der „Geburtenkontrolle".


Margaret Sanger war davon überzeugt, dass jeder Frau das Recht über ihren eigenen Körper zustehe, und sie vertrat ab 1914 diese Ansicht in ihrer Zeitschrift „The Woman Rebel''. Von den neun erschienenen Ausgaben wurden sieben von den Bundesbehörden konfisziert, Margaret Sanger selbst wurde wegen „Versands obszöner Literatur durch die Post" angeklagt. Da ihre Arbeit in der Öffentlichkeit eine erhebliche Unterstützung fand, wurde ihr Fall jedoch im Jahre 1916 niedergeschlagen.


Im gleichen Jahr eröffneten Margaret Sanger und ihre Schwester eine Klinik für Geburtenkontrolle in Brooklyn. Diese Klinik wurde als „öffentliches Ärgernis" von der Regierung sofort wieder geschlossen. Man klagte die Schwestern wegen Verletzung der Sittengesetze des Staates New York an und verurteilte sie zu 30 Tagen Arbeitshaus. Nach Verbüßung ihrer Strafe setzte Margaret Sanger ihre Arbeit unbeirrt fort, bis die Klinik im Jahre 1929 durchsucht und alle Unterlagen konfisziert wurden. Wieder führte entschiedene öffentliche Unterstützung dazu, dass der Fall niedergeschlagen wurde. 1936 bestätigte schließlich das oberste Bundesgericht Ärzten das Recht, Verhütungsmittel zu verschreiben, „um Leben zu erhalten und zum besseren Wohle der Patientinnen".


1921 gründete Margaret Sanger die „Amerikanische Liga für Geburtenkontrolle", 1929 rief sie ein „Nationalkomitee für eine Bundesgesetzgebung zur Geburtenkontrolle" ins Leben. Zehn Jahre später vereinigte sich die „Liga" mit einer weiteren Organisation, um die „Amerikanische Förderation für Geburtenkontrolle" zu gründen, aus der 1942 die noch heute bestehende „Planned Parenthood Federation of America" hervorging. 1953 wurde Margaret Sanger die erste Präsidentin der „International Planned Parenthood Federation", und sie widmete die ihr verbleibende Zeit und Energie vor allem den Problemen der Geburtenkontrolle in Asien.


Trotz ihres großen persönlichen Erfolgs und der Durchsetzung einer Reihe ihrer Forderungen blieben auch nach ihrem Tode weiterhin juristische Hindernisse für die Verbreitung von Informationen über Geburtenkontrolle in den Vereinigten Staaten bestehen. Bundesgesetze verhinderten weiterhin die Versendung entsprechender Informationen auf dem Postwege, und viele Bundesstaaten hielten Gesetze gegen Benutzung und Verkauf von Verhütungsmitteln aufrecht. Bis 1965 gab es im Bundesstaat Connecticut ein Gesetz, das die Verwendung von Verhütungsmitteln selbst bei verheirateten Paaren verbot. Dieses Gesetz wurde schließlich für verfassungswidrig erklärt, was dazu führte, dass der Staat Massachusetts im Jahre 1966 sein Gesetz dahingehend änderte, dass Verhütungsmittel nach ärztlicher Verordnung zulässig waren, allerdings nur bei Ehepaaren. Es dauerte weitere sechs Jahre, bis auch dieses abgeänderte Gesetz für verfassungswidrig erklärt wurde. Erst im Jahre 1970 beseitigte der Kongress der Vereinigten Staaten die letzten staatlichen Beschränkungen im Zusammenhang mit Empfängnisverhütung.


Bertrand Russell (1872-1970)


Bertrand Russell, der englische Mathematiker und Philosoph, leistete im Laufe seines langen Lebens erhebliche Beiträge in vielen verschiedenen Wissensbereichen und setzte sich für eine große Zahl humanitärer Initiativen ein. Dies alles ist bekannt und muss hier nicht wiederholt werden. Besonderen Dank schulden ihm jedoch die modernen Sexualpädagogen für seinen mutigen Kampf um sexuelle Rechte und seine vernünftige Einstellung zu sexuellen Problemen.


Als Russells eigene Kinder heranwuchsen, gründete er zusammen mit seiner Frau eine gemischte Schule, die den Schülern erhebliche Freiheiten zugestand. Seine Erfahrungen in dieser Schule (1927-1932) prägten seine Auffassung in Erziehungsfragen ganz erheblich. 1929 veröffentlichte er das Buch „Ehe und Moral" (deutsche Ausgabe 1951), das sich mit sexuellen Beziehungen innerhalb und außerhalb der Ehe befasste. Er forderte in diesem Buch eine intensivere und sachkundigere Sexualerziehung der Jugend, Geschlechtsverkehr vor der Ehe, die Freiheit zu außerehelichen Beziehungen für beide Partner sowie die Scheidung im gegenseitigen Einvernehmen für kinderlose Paare. Er macht diese Vorschläge, weil er an die soziale Funktion der Ehe glaubte und sie dadurch stärken wollte, dass er gegen Ignoranz, Heuchelei und sexuelle Ausbeutung kämpfte. In mancher Hinsicht war seine Situation der des Richters Ben Lindsey sehr ähnlich. Ebenso wie dieser vor ihm wurde er bald als unmoralisch beschimpft, und als er während des Zweiten Weltkrieges nach Amerika ging, versuchten empörte konservative Gruppen sich an ihm zu rächen.


1940 wurde Russell Philosophieprofessor an der Universität New York. Einige Eltern seiner Studenten gingen jedoch vor Gericht und versuchten, seine Berufung rückgängig zu machen. Der Rechtsanwalt dieser Eltern brachte vor, die Bücher Russells seien „wollüstig, zotig, lüstern, geil, erotoman, geschlechtlich erregend, atheistisch, respektlos, engstirnig, unwahr und bar jeder Moral". Russell sei persönlich tolerant gegenüber Homosexualität und habe in England eine nudistische Vereinigung geleitet. Seine philosophischen Schriften seien „billig, geschmacklos und abgenutzt, gespickt mit Fetischen und unbewiesenen Behauptungen, Werkzeuge um die Menschen in die Irre zu führen".


Der Richter teilte die Ansicht, dass Russells Bücher „Schmutz und unmoralische Lehren" enthielten und verbot Russell umgehend, Vorlesungen zu halten. Nach Ansicht des Gerichts war schon seine Berufung der Versuch, einen „Lehrstuhl für Unanständigkeiten" einzurichten, was gegen die „öffentliche Gesundheit, Sicherheit und Moral" verstoße. Da Russell selbst an dem Prozess nicht beteiligt war, hatte er auch keine Gelegenheit zu widersprechen oder die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Die Behörde für Höhere Bildung in New York legte keinen Widerspruch ein, weil der Bürgermeister La Guardia politische Folgen befürchtete. Bertrand Russell hielt daraufhin Vorlesungen in Harvard und später an der Barnes Foundation bei Philadelphia. Die New Yorker Erfahrungen warfen jedoch einen Schatten auf seinen weiteren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten.


Die „Internationale Organisation für Familienplanung"


Es ist den Bemühungen von Margaret Sanger und anderen Verfechtern der Geburtenkontrolle zu danken, dass 1942 die Organisation „Planned Parenthood Federation of America" gegründet werden konnte. Neben dem Hauptsitz in New York gibt es mehrere regionale Büros überall im Lande.


Die Organisation ist im Laufe der Zeit stark gewachsen. Sie bietet Informationen zur Fortpflanzung an und ermöglicht freiwillige Geburtenkontrollen. Fach- und Hilfskräfte werden für die Arbeit in den Familien ausgebildet.


Die „International Planned Parenthood Federation" ist eine weltweite Organisation, in der Organisationen zur Familienplanung aus 79 Ländern vertreten sind und die in über 100 Ländern in der Geburtenkontrolle tätig ist. Die Aktivitäten von „Planned Parenthood" sind heute wohl die umfangreichsten organisierten Bemühungen, um Männern und Frauen überall in der Welt zumindest ein gewisses Maß theoretischen und praktischen Wissens in sexuellen Fragen zu vermitteln.


Die Deutsche Gesellschaft für Sexualberatung und Familienplanung e. V., „Pro Familia", ist eine Tochtergesellschaft von „Planned Parenthood". Sie unterhält in der Bundesrepublik Deutschland 145 Haupt- und Nebenberatungsstellen, deren Anschriften am Ende dieses Buches verzeichnet sind. Die kostenlosen Beratungen verfolgen Ziele im Sinne von „Planned Parenthood".


[Titelseite] [Inhalt] [Vorwort z. dt. Ausgabe] [Vorwort z. 2. Auflage] [Der menschl. Körper] [Das Sexualverhalten] [Sexualität & Gesellsch.] [Die sozialen Rollen] [Anpassung] [Ehe und Familie] [Sexuell Unterdrückte] ["Sexuelle Revolution"] [Anhang (Akt. Themen)] [Bildnachweis]