Empfängnisverhütung

4.4 Empfängnisverhütung


Die einfachste und sicherste Methode, eine Schwangerschaft zu verhindern, ist Verzicht auf Koitus. Schon immer haben die Menschen jedoch nach Methoden gesucht, die es ihnen gestatten sollten, trotz Koitus eine Schwangerschaft zu vermeiden. Für Jahrtausende blieben diese Methoden aber unzureichend und unsicher. Erst die moderne Wissenschaft hat neue Methoden entdeckt (und alte verbessert), so dass heute ein breites Spektrum guter Verhütungsmittel zur Verfügung steht. Unerwünschte Schwangerschaften können heute mit größtmöglicher Sicherheit vermieden werden. Die Suche nach zuverlässigen, nebenwirkungsarmen, einfachen und billigen Verhütungsmitteln geht jedoch weiter.


Die Entwicklung sicherer Methoden zur Empfängnisverhütung hatte einen nachhaltigen Einfluss auf das Sexualverhalten der Menschen. In der Vergangenheit waren Sexualität und Fortpflanzung unmittelbar miteinander verknüpft, Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau beschränkte sich weitgehend auf den Koitus, und dabei bestand immer die Möglichkeit, dass ein Kind gezeugt wurde. In diesem Fall war es offensichtlich im Interesse der Kinder, dass die Eltern zusammenblieben, um es zu versorgen. Deshalb versuchte die Sexualmoral der meisten Gesellschaften, den Geschlechtsverkehr auf die Ehe zu beschränken. Geschlechtsverkehr vor und außerhalb der Ehe galt als unmoralisch und wurde oft streng bestraft. Innerhalb der Ehe selbst aber sollten so viele Kinder als möglich gezeugt werden. Fortpflanzung wurde zur wahren „Natur" und zum einzigen Zweck sexueller Betätigung erklärt, und alle Formen der Sexualität, die nicht diesem Zweck dienten, wurden als widernatürlich angesehen.


Inzwischen ist dieser Auffassung durch die Entwicklung wirksamer Methoden der Empfängnisverhütung der Boden weitgehend entzogen worden. Durch sie wurde die früher unlösbare Verbindung zwischen Sexualität, Elternschaft und Ehe aufgehoben. Eheleute können sich heute sehr wohl dafür entscheiden, kinderlos zu bleiben oder erst Jahre nach der Eheschließung Kinder zu haben. Aus demselben Grund werden heute weniger junge Menschen als früher durch eine unerwünschte Schwangerschaft in eine ungewollte Ehe hineingedrängt. Damit beginnt auch die Funktion der Ehe sich zu verändern. Heute wird eine Ehe nicht mehr unbedingt mit dem Ziel geschlossen, Kinder zu bekommen. Liebe, Kameradschaft, berufliche Zusammenarbeit oder soziale Sicherheit sind oft ausreichende Gründe, die die Ehepartner zusammenbringen oder zusammenhalten. Hinzu kommt, dass vor- und außerehelicher Geschlechtsverkehr völlig von der Fortpflanzungsfunktion getrennt werden kann. Statt dessen hat er eine neue Bedeutung als Mittel der persönlichsten, intimsten Kommunikation gewonnen.


Dies alles hat zu einer grundlegenden Veränderung zwischenmenschlicher Beziehungen geführt. Neue Freiheiten sind entstanden und neue Forderungen nach persönlicher Verantwortlichkeit. Der Herausforderung dieser veränderten Situation kann nicht mit dogmatischer Moralphilosophie, Verboten oder Repressionen begegnet werden. Im Gegenteil: es sollten alle Chancen genutzt werden, dass die Menschen sich selbst bestimmen und ihre neuen Möglichkeiten voll ausschöpfen lernen.

 

Die „Bevölkerungsexplosion"

In den letzten Jahrhunderten ist die Weltbevölkerung in einem ungeheuren Ausmaß gewachsen, eine noch bedrohlichere Zunahme ist zu erwarten. Wie aus der Abbildung weiter hervorgeht, wird der größte Bevölkerungszuwachs die ärmsten Regionen der Welt betreffen. Angesichts dieser Entwicklung werden Maßnahmen der Empfängnisverhütung heute von immer zahlreicheren Regierungen propagiert.

 
 

Es ist natürlich schwer, mit überkommenen Sitten und Gebräuchen aufzuräumen. Es gibt immer noch viele Menschen, die die weitreichenden Möglichkeiten und Folgen der Empfängnisverhütung nicht sehen wollen oder die ganz einfach Angst vor ihr haben. So ist zum Beispiel die Auffassung noch immer verbreitet, eine einfache und sichere Schwangerschaftsverhütung begünstige sexuelle Ausschweifung und moralischen Verfall. Andererseits wird die Gefahr einer Überbevölkerung der Erde immer bedrohlicher. Es besteht kein Zweifel, dass ein unkontrolliertes Anwachsen der Bevölkerung in vielen Teilen der Erde zu immer größeren Problemen führen wird.


Diese widersprüchlichen Ansichten über die Empfängnisverhütung haben in einer Reihe von Ländern ganz unterschiedliche Auswirkungen auf die staatliche Bevölkerungspolitik gehabt. Bestimmte Regierungen begünstigen Empfängnisverhütung bei Verheirateten, nicht aber bei Alleinstehenden oder Minderjährigen. In anderen Ländern wird die Anwendung von Empfängnisverhütungsmitteln gefördert, um - nach wie vor verbotene - Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden. Andere sehen Abtreibung als ein akzeptables Mittel zur Bevölkerungskontrolle an. Allgemein gilt, dass dort, wo die Empfängnisverhütung erschwert wird, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche steigt. Ist der Abbruch einer Schwangerschaft jedoch erlaubt, wird der Empfängnisverhütung unter Umständen nicht die notwendige Beachtung geschenkt. Es gibt aber auch Länder, in denen sowohl Schwangerschaftsabbrüche als auch Empfängnisverhütung verboten sind, Wieder andere zögern, eine freiwillige Empfängnisverhütung öffentlich zu unterstützen, haben aber andererseits wenig Skrupel, bestimmte Menschen zur Sterilisation zu zwingen. Diese Sterilisationen werden meist damit gerechtfertigt, dass es die Vererbung bestimmter genetischer Defekte zu verhindern gelte (vgl. a. Kap. 5.2 „Genetische Defekte"). Manchmal werden diese Zwangssterilisationen aber weniger aus medizinischen Gründen als aus Gründen der sozialen Kontrolle durchgeführt, das heißt, gesunde Männer und Frauen werden gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht, weil sie arm oder aus anderen Gründen „unerwünscht" sind.


Schon die Sprache, in der sich staatliche Stellen mit dem Thema Empfängnisverhütung auseinandersetzen, spiegelt ihre ideologische Einstellung dazu wider. So sprechen heute zum Beispiel viele Leute lieber von ,,Geburtenkontrolle". Dies ist ein Begriff, der auch den Schwangerschaftsabbruch einbezieht. In den meisten Fällen geht es jedoch nicht darum, Geburten zu verhindern, sondern Schwangerschaften, daher sind auch Begriffe wie „Schwangerschaftsverhütung", „Konzeptionsverhütung" (oder kurz „Kontrazeption") treffender. Manche Menschen bestehen auf der Bezeichnung „Familienplanung". Diese Wortwahl legt nahe, Empfängnisverhütung sei lediglich ein Mittel, um die Größe einer Familie zu bestimmen, was gleichzeitig bedeutet, dass sie nur bei Verheirateten statthaft ist. Ein Begriff wie „Schwangerschaftsplanung" wäre hier ohne Zweifel neutraler. Eine andere Bezeichnung, „verantwortungsbewusste Elternschaft", betont die moralische Verantwortung von Männern und Frauen, die möglichen Schwangerschaften vielleicht zu fatalistisch und passiv gegenüberstehen. Der etwas neutralere Begriff „geplante Elternschaft" wird weltweit von einer Organisation („Planned Parenthood") benutzt, die Empfängnisverhütung all denen anbietet, die sie wünschen, ob sie verheiratet sind oder nicht.


Diesem Vorgehen liegt die Feststellung zugrunde, dass langfristig die Anwendung empfängnisverhütender Mittel nicht bestimmten sozialen Gruppen oder Individuen vorbehalten bleiben darf, obwohl es in den meisten Gesellschaften noch so ist. Und so wächst die Zahl der Menschen, die umfassende Selbstbestimmung über ihre Fortpflanzungsfunktion als Grundrecht fordern. Die Anerkennung dieses Rechts würde einen weiteren Schritt zu einem würdigeren und menschlicheren Leben bedeuten. Menschen, die wissen, dass sie krank sind oder die sich durch eine Elternschaft überfordert fühlten, können sich dafür entscheiden, keine Kinder zu bekommen. Andere werden so lange keine Kinder bekommen wollen, bis die familiären, beruflichen oder finanziellen Voraussetzungen dafür bestehen. Junge Leute werden nicht länger „in Schwierigkeiten geraten" oder „heiraten müssen". Jedes Kind könnte dann ein Wunschkind sein und in einer optimalen Umgebung aufwachsen.


Die meisten Menschen werten diese Errungenschaften positiv, andere betonen jedoch die Kehrseite der Medaille: Es könnte ja sein, dass mehr unverheiratete Paare und sehr junge Menschen Geschlechtsverkehr miteinander haben, Aus diesem Grunde vermeidet der Sexualkundeunterricht in Schulen, Kirchen und Jugendorganisationen häufig das Thema „Empfängnisverhütung". Außerdem geraten die meisten Erzieher, obwohl sie wenig Schwierigkeiten haben, Grundwissen über die menschliche Fortpflanzungsfunktion zu vermitteln, in Verlegenheit, wenn es um die Beschreibung von Methoden der Empfängnisverhütung geht, weil sie dabei über Einzelheiten sexueller Handlungen sprechen müssten. Auch Eltern haben da ihre Probleme. Wenn sie ihren Kindern Verhütungsmittel zugänglich machen, kann das so aussehen, als würden sie sie zum Geschlechtsverkehr ermuntern; ignorieren sie das Problem, könnte eine unerwünschte Schwangerschaft die Folge sein,


Die Rechtslage in bezug auf Empfängnisverhütung bei Minderjährigen ist in der Bundesrepublik Deutschland heute weitgehend der Beurteilung des verschreibenden Arztes überlassen. Dabei wird von Juristen und Ärzten die Auffassung vertreten, dass die fehlende Geschäftsfähigkeit der Jugendlichen


kein wesentliches Kriterium sein kann, sondern dass die Einsichtsfähigkeit der Patientinnen entscheidend ist. Sie sollten also die Problematik der Verordnung von Ovulationshemmern verstehen. Unter dieser Voraussetzung kann die „Pille" ohne Einwilligung der Eltern auch Mädchen über 14 Jahre verordnet werden.


Verantwortungsbewusstere Eltern sollten allerdings dafür Sorge tragen, dass ihre Kinder sich bei der Verwendung von Verhütungsmitteln aller Vorteile - aber auch möglicher Nachteile - bewusst sind. Kinder, die auf diesem Gebiet keine befriedigende Auskünfte von ihren Eltern bekommen, sollten sich an die hierfür eingerichteten Beratungsstellen, zum Beispiel der Organisation „Pro Familia", wenden. (Die Anschriften von „Pro Familia" sind vor dem Sachregister am Ende dieses Buches verzeichnet.)


Die meisten Organisationen, die Beratungen für Jugendliche über Empfängnisverhütung anbieten, sind sich der Problematik durchaus bewusst. Sie stellen deshalb nicht kurzerhand irgendwelche Verhütungsmittel zur Verfügung, sondern versuchen auch, zu einem selbstverantwortlichen Umgang mit dieser Problematik anzuleiten.


Es muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass Empfängnisverhütung die Aufgabe beider Partner ist. Grundsätzlich gilt:


• Jedes Kind sollte ein Wunschkind sein.


• Ungewollte Schwangerschaften können durch gewissenhafte Anwendung von Verhütungsmitteln verhindert werden.


• Empfängnisverhütung liegt in der Verantwortung beider Partner.


• Nicht jede Verhütungsmethode ist bei jedem gleich wirksam und gleich empfehlenswert.


• Verhütungsmethoden können nur dann wirksam sein, wenn sie richtig angewandt werden.

 

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