Die Fortpflanzung

4. Die Fortpflanzung


Menschliches Leben pflanzt sich durch eine bestimmte Form des Geschlechtsverkehrs zwischen Männern und Frauen fort. Die Geschlechtsorgane der Partner können so vereinigt werden, daß infolge dieser Vereinigung (Kopulation oder Koitus) männliche und weibliche Keimzellen (Samenzelle und Eizelle) miteinander verschmelzen können. Aus dieser Verschmelzung entsteht eine neue Zelle, die sich zu einem neuen Menschen entwickeln kann. Fortpflanzung ist in der Regel zwar ohne geschlechtliche Aktivität nicht möglich, sehr wohl jedoch Geschlechtsverkehr ohne Fortpflanzung. Männer und Frauen sind jederzeit zu sexuellen Reaktionen fähig und sie können vielerlei Formen nicht-koitalen Geschlechtsverkehrs ausüben. Zur Fortpflanzung bedarf es jedoch, außer in Fällen medizinischer Eingriffe, des Koitus, der zudem nur in einer kurzen Phase, wenn eine Eizelle verfügbar ist, zur Befruchtung führt.


Trotz dieser biologischen Tatsachen glaubte man in unserem Kulturkreis lange Zeit, Zweck und Rechtfertigung sexueller Handlungen sei ausschließlich die Fortpflanzung. Religiöse Dogmen, die Rechtsprechung, selbst bestimmte traditionelle medizinische Theorien sind Ausdruck dieser Vorstellung. Wir alle sind eigentlich dazu erzogen worden, jede Art der Sexualität, die nicht der Fortpflanzung dient, als sündhaft, strafbar oder krankhaft anzusehen.


Allerdings gab es in der Vergangenheit auch Völker, die nicht wußten, daß eine Schwangerschaft Folge von Geschlechtsverkehr ist. Sie waren statt dessen der Ansicht, ein „Geist" müsse in den Körper der Frau fahren und wüchse dort zum Kind heran. Diese Auffassung führte natürlich zu einer Sexualmoral, die mit der unseren nichts gemeinsam hatte.


Ein Beispiel mag dies veranschaulichen: Ein Mann, der nie etwas von der ** Verbindung zwischen Sexualität und Fortpflanzung gehört hat, kann natür-


lich den Geschlechtsverkehr ohne Hemmungen, nur um der Lust willen, genießen. Wenn man ihm jedoch die Zusammenhänge erklärte, könnte sich f|i||; möglicherweise seine Einstellung ändern. Dann würde das Ende seiner Unwissenheit auch eine neue moralische Einstellung bewirken. Das könnte sogar dahin führen, daß er schließlich die in unserer Gesellschaft gültigen sexuellen Normen annähme. Sollte er jedoch andererseits nach einiger Zeit entdecken, daß er unfruchtbar ist, könnte er seine neue Moral als für sich irrelevant abtun und zu seinem früheren Wertsystem zurückkehren. Er würde einfach feststellen, daß in seinem besonderen Fall eben doch kein Zusammenhang zwischen : Sexualität und Fortpflanzung besteht.


Dieses theoretische Beispiel ist nicht so weit hergeholt, wie es vielleicht scheinen mag. Ja, man kann mit seiner Hilfe ein recht verbreitetes Problem 4*> illustrieren. Wir wissen, daß es in jeder Gesellschaft Männer und Frauen gibt, bei denen Geschlechtsverkehr nicht zur Schwangerschaft führt. Das kann daran liegen, daß sie zu jung oder zu alt oder vielleicht unfruchtbar sind, oder daran, daß sie gleichgeschlechtliche Interessen haben. Auf jeden Fall haben sie alle eines gemeinsam: sie müssen eine sexuelle Moral entwickeln, die sich nicht von einem Fortpflanzungsgebot ableitet. In der Vergangenheit fanden sich nur wenige Menschen in dieser Lage. Durch die Einführung wirksamer Verhütungsmittel wurde jedoch in unserer Zeit Geschlechtsverkehr ohne folgende Schwangerschaft für fast jeden möglich. Andererseits können Paare zur Fortpflanzung auch auf künstliche Befruchtung zurückgreifen, bei der es überhaupt keines sexuellen Kontaktes mehr bedarf. Beides führte dazu, daß Sexualität und Fortpflanzung ein für alle Male voneinander getrennt wurden, und es stellen sich nun ganz neue moralische Fragen. In der Öffentlichkeit beginnt man, diesen Tatsachen bereits Rechnung zu tragen. Ein gutes Beispiel ist die öffentliche Auseinandersetzung um die Sexualerziehung. Die herkömmliche sexuelle Aufklärung betonte überwiegend die wesentlichen Fakten über die Fortpflanzung. Was Lehrer mit ihren Schülern als sogenannte „Fragen des Lebens" besprachen, ging meist nicht über die Information hinaus, wie Kinder gezeugt und geboren werden. So gut wie nie wurde erklärt, wie man diese Zeugung verhindern kann. Die meisten Menschen hatten vermutlich Sorge, daß das Verbreiten solcher Kenntnisse zu breiter Unmoral führen würde. Heute hat sich jedoch die Auffassung weitgehend durchgesetzt, daß es noch weniger moralisch ist, jungen Menschen diese Kenntnisse vorzuenthalten. Daneben hat die Überbevölkerung in vielen Ländern der Welt dazu geführt, daß ganz offiziell moralische Wertsysterne überdacht und die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung allgemein gefordert wurde. In fast allen Ländern gibt es heute öffentliche oder private Einrichtungen, die Informationen zu Empfängnisverhütung durch Bücher, Filme, Flugblätter Werbungen und persönliche Beratung erteilen.


Es steht außer Zweifel, daß die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung unser aller Leben grundlegend verändern wird. Wenn Geschlechtsverkehr nicht länger zu unerwünschten Schwangerschaften führt, wenn die Zeugung eines Kindes eine Frage bewußter Entscheidung wird, muß sich auch das Verhältnis der Partner zueinander verändern. Sehr wahrscheinlich führt dies zu einem besseren Verstehen und Zusammenleben der Geschlechter. Viele Paare planen heute ihre Familien gemeinsam und erleben die Schwangerschaft der Frau gemeinsam bis zur Geburt des Kindes. Viele Krankenhäuser machen dem werdenden Vater Mut, bei der Geburt anwesend zu sein und bieten Säuglingspflegekurse für beide Partner an. Ein solches Verständnis gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Verantwortung kann in naher Zukunft dazu führen, daß die überkommenen engen sozialen Rollen von Männern und Frauen überwunden werden und erstmals in der Geschichte der Menschheit vollkommene sexuelle Gleichberechtigung erreicht wird.


Zunächst ist es jedoch wichtig, daß sich beide Geschlechter mit den grundlegenden biologischen Tatsachen vertraut machen. Die Wissenschaft hat in der Erforschung der menschlichen Fortpflanzung große Erfolge zu verzeichnen gehabt, und obwohl viele Fragen noch ungeklärt sind, konnten viele zeitbedingte Vorstellungen und Irrtümer bereits widerlegt werden. Für Männer und Frauen, die die Fortpflanzungsfunktion ihrer Körper verstehen, gibt es heute bessere Möglichkeiten denn je, glückliche Eltern von gesunden Kindern zu werden. Die folgenden Ausführungen geben eine Zusammenfassung des gegenwärtigen biologischen und medizinischen Wissens über die menschliche Fortpflanzung. Zwei gesonderte Kapitel sind der Empfängnisverhütung und dem Schwangerschaftsabbruch gewidmet. Die verschiedenen sozialen Aspekte dieser Themen werden im dritten Teil des Buches behandelt.


 

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