Die Entwicklung der Geschlechtsunterschiede

1. Die Entwicklung der Geschlechtsunterschiede


Das Geschlecht eines Menschen wird bei der Befruchtung festgelegt. Allerdings sind in den ersten Wochen ihres Lebens männliche und weibliche Embryos noch nicht zu unterscheiden. Ihre Geschlechtszugehörigkeit wird erst im Laufe der Zeit erkennbar.


Ob ein neugeborenes Kind ein Junge oder ein Mädchen ist, erkennen wir gewöhnlich an den äußeren Geschlechtsorganen. Von diesen Organen abgesehen, sehen Jungen und Mädchen sich jedoch sehr ähnlich. Das typische männliche oder weibliche Aussehen von Erwachsenen ist Ergebnis von Entwicklungen, die erst Jahre später beginnen. Die Geschlechtsunterschiede beim Menschen werden erst dann in vollem Umfang deutlich, wenn Mann und Frau ihre geschlechtliche Reife erreicht haben, das heißt, wenn sie selbst wieder Kinder zeugen können.


Die meisten von uns halten das „Geschlecht" für das erste und einfachste aller Unterscheidungsmerkmale zwischen Menschen. Diese Annahme spiegelt sich auch in unserem Sprachgebrauch wider: Die Worte „Sexus" und „Sexualität" leiten sich vom lateinischen Wort „secare" ab, das schneiden, trennen, teilen bedeutet. Diese Begriffe beziehen sich also ursprünglich auf eine Teilung der Menschheit in zwei verschiedene Gruppen - eine männliche und eine weibliche. Jeder Mensch (und die meisten höheren Tiere und einige Pflanzen) gehören zu einer von diesen beiden Gruppen, also zu einem der beiden Geschlechter. Jeder ist entweder männlichen oder weiblichen Geschlechts.


Das alles scheint ganz einfach. Die wissenschaftliche Forschung hat jedoch in jüngster Zeit gezeigt, dass die üblichen einfachen Definitionen von Männlichkeit und Weiblichkeit völlig unzureichend sind und dass - zumindest in bestimmten Fällen.— die Angelegenheit sehr kompliziert sein kann. Wenn ein heutiger Wissenschaftler jemanden dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen soll, berücksichtigt er zumindest sieben verschiedene Faktoren:


1. Das chromosomale Geschlecht


Die Zellen des männlichen Körpers enthalten ein X- und ein Y-Chromosom, während die Zellen des weiblichen Körpers zwei X-Chromosomen enthalten. Allerdings wurden in neuerer Zeit auch verschiedene andere Kombinationen von Geschlechtschromosomen entdeckt.


2. Das gonadale Geschlecht


Das männliche Geschlecht hat Hoden (männliche Gonaden), das weibliche Geschlecht Eierstöcke (weibliche Gonaden). Allerdings kann in seltenen Fällen ein Mensch gleichzeitig Gewebe der Hoden und der Eierstöcke haben.


3. Das hormonale Geschlecht


Die Hormone, die von Hoden und Eierstöcken produziert werden, spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des männlichen oder weiblichen Körpers vor der Geburt und während der Pubertät. Ein Mangel, eine Unausgewogenheit oder ein Überschuss dieser Hormone kann einen entscheidenden Einfluss auf Anatomie und Physiologie eines Menschen haben.


4. Die inneren Geschlechtsorgane


Das männliche Geschlecht hat Samenleiter, Samenbläschen, eine Prostata usf., während das weibliche Geschlecht Eileiter, einen Uterus, eine Vagina usf. aufweist. In seltenen Fällen sind diese Organe unterentwickelt oder sie fehlen ganz.


5. Die äußeren Geschlechtsorgane


Das männliche Geschlecht hat einen Penis und einen Hodensack; das weibliche Geschlecht eine Klitoris, große und kleine Schamlippen usf. In seltenen Fällen sind diese Organe unterentwickelt oder sie fehlen ganz.


6. Das zugewiesene oder anerzogene Geschlecht


Ein Kind, das männliche Geschlechtsmerkmale aufweist, wird gewöhnlich als Junge erzogen. Ein solches Kind könnte aber auch als Mädchen erzogen werden und umgekehrt.


7. Die geschlechtliche Selbstidentifizierung


Ein Kind, das männliche Geschlechtsmerkmale aufweist und das dazu erzogen wird, eine männliche Rolle anzunehmen, wird sich auch meist selbst als männlich identifizieren. Es ist jedoch möglich, dass sich ein solches Kind trotz aller elterlichen Einflussnahme im Laufe der Zeit als weiblich begreift. Umgekehrt ist es möglich, dass ein Kind, das weibliche Geschlechtsmerkmale aufweist und das dazu erzogen wird, eine weibliche Rolle anzunehmen, sich selbst dennoch als männlich idenfiziert.


Wissenschaftler haben jetzt festgestellt, dass diese sieben Variablen unter Umständen voneinander unabhängig sind. Beispielsweise kann ein neugeborenes Kind weibliche innere Geschlechtsorgane haben, während die äußeren Geschlechtsorgane „unvollständig männlich" erscheinen. Dieses irreführende äußere Erscheinungsbild kann dazu führen, dass man das Kind für einen Jungen hält und so erzieht. (Vgl. Kap. 5.3 „Sexuelle Fehlbildungen",) Ein anderes Beispiel sind Menschen, deren geschlechtliche Selbstidentifizierung dem Geschlecht widerspricht, das ihnen zugewiesen wurde. (Vgl. Kap. 8.4 „Transsexualität",) Solche Widersprüchlichkeiten bringen natürlich unter Umständen erhebliche medizinische und soziale Probleme mit sich. Glücklicherweise können die meisten Menschen nach allen sieben Kriterien klar als männlich oder weiblich eingeordnet werden, und sie benötigen daher keiner besonderen Beratung und Hilfe im Verlauf ihrer sexuellen Entwicklung.


Aber selbst dort, wo Männlichkeit oder Weiblichkeit außer Zweifel stehen, kann Unsicherheit über die angemessenen sozialen Rollen von Männern und Frauen bestehen bleiben. So nahm man in der Vergangenheit oft an, Männer und Frauen hätten wenig gemeinsam. Man erwartete nicht nur, dass sie unterschiedlich aussahen, sie sollten sich auch unterschiedlich verhalten. Solche Rollenerwartungen führten in den meisten Gesellschaften zur Entwicklung verschiedener sozialer Rollen und Sittengebote für beide Geschlechter.


Die neuere Forschung hat erhebliche Zweifel an diesen früheren Selbstverständlichkeiten aufgeworfen; ein wesentlicher Unterschied zwischen den Geschlechtern bleibt jedoch unumstritten: derjenige der Zeugungsfunktion. Zwar bedarf es zur Zeugung neuen menschlichen Lebens beider Geschlechter, aber die Frauen allein empfangen, gebären und nähren Kinder. In jeder anderen Hinsicht sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern aber längst nicht so grundlegend, wie es manchmal scheint. Viele männliche und weibliche Eigenschaften, die man früher als angeboren und unveränderlich


betrachtet hat, haben sich als anerzogen erwiesen, das heißt als Ergebnis kultureller Einflüsse. Es ist natürlich nicht immer einfach, biologisches Erbe von sozialem Einfluss zu trennen. Die wissenschaftliche Untersuchung dieser Fragen steht erst am Anfang. Einstweilen sollten wir uns aber auf die vielen Gemeinsamkeiten der Geschlechter besinnen. Männer und Frauen würden sich sicher viel besser verstehen, wenn sie wüssten, wie vieles sie anatomisch und physiologisch gemeinsam haben.


 

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