Der Schwangerschaftsabbruch

4.5 Der Schwangerschaftsabbruch


Eine Schwangerschaft kann infolge einer spontanen Entwicklung vorzeitig enden. Das vorzeitige Ende einer Schwangerschaft kann jedoch auch absichtlich herbeigeführt werden. Die unbeabsichtigte Beendigung einer Schwangerschaft wird als Abort bezeichnet, wenn das Embryo oder der Fötus nicht lebt und weniger als 37 cm Körperlänge misst. Danach spricht man von einer Frühgeburt oder Totgeburt. In der nicht-medizinischen Umgangssprache wird mit dem Wort Abort jedoch oft der absichtlich herbeigeführte Abbruch einer unerwünschten Schwangerschaft bezeichnet.


Für unerwünschte Schwangerschaften gibt es viele Ursachen. Manchmal wissen Menschen, die Koitus miteinander haben, nichts von Verhütung, sie haben keine Verhütungsmittel zur Verfügung oder sie verwenden solche, die wirkungslos sind. Was immer die Ursache sein mag, eine unerwünschte Schwangerschaft stellt Menschen oft vor sehr ernste Probleme.


Wenn Eltern bereits Schwierigkeiten haben, ihre vielen Kinder ausreichend zu ernähren, bedeutet eine weitere Geburt unter Umständen Elend und Verzweiflung für die ganze Familie. Eine werdende Mutter, die körperlich schwach ist oder die unter bestimmten Krankheiten leidet, die vielleicht alkohol- oder drogenabhängig ist, kann ihrer Gesundheit durch eine Schwangerschaft erheblich schaden oder sie kann ein krankes oder behindertes Kind bekommen. Eine junge ledige Frau kann unvorbereitet, nicht fähig oder willens sein, die Verantwortung einer Mutterschaft auf sich zu nehmen. So kann eine unerwünschte Geburt nicht nur für die Mutter, sondern auch für das Kind zur Katastrophe werden.


In solchen Fällen entscheidet sich eine Frau möglicherweise zu einem Schwangerschaftsabbruch als einzigem Ausweg. Leider greifen manche Frauen in ihrer Verzweiflung und in Unkenntnis möglicher Hilfen zu unüberlegten Mitteln und setzen dabei ihre Gesundheit oder ihr Leben aufs Spiel, indem sie versuchen, allein oder mit Hilfe eines unfähigen, kriminellen Abtreibers die Schwangerschaft zu beenden. Sie tun dies, weil es ihnen die Gesellschaft oft schwer macht, einen legalen und risikoarmen Abbruch vornehmen zu lassen. Nach wie vor besteht eine heftige Auseinandersetzung zwischen Frauen, Ärzten und Politikern, Repräsentanten der Kirche und der Rechtsprechung, ob und in welcher Weise man Schwangerschaftsabbrüche zulassen sollte.


Manche Gegner des Schwangerschaftsabbruchs sehen sich selbst als Hüter ungeborenen Lebens, die die „Unantastbarkeit menschlichen Lebens" schützen müssen. Dieses Argument muß man sehr ernst nehmen. Und dennoch hat eben dieses Argument andere Menschen dazu veranlasst, sich auf die Seite der Frau zu stellen, die eine Schwangerschaft abbrechen will und für dieses Recht kämpft. Vertreter dieser beiden Positionen stehen sich heute noch wenig dialogbereit gegenüber, und es erscheint sicher, dass man diesen Konflikt nicht mit wissenschaftlichen Argumenten lösen kann. Es gibt einfach keine eindeutige wissenschaftliche Antwort auf die Frage, wann menschliches Leben beginnt, oder unter welchen Voraussetzungen es beendet werden darf. Dies sind grundsätzliche ethische Probleme, die jedem einzelnen eine persönliche Gewissensentscheidung abverlangen.


In der Vergangenheit haben die etablierten Religionen und Philosophien für diese Fragen immer moralische Orientierungen geboten. Sie stimmen heute in ihren Ansichten jedoch nicht immer überein. Einige zeitgenössische religiöse Gruppen akzeptieren den Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen im Anfangsstadium der Schwangerschaft, während andere unter allen Umständen dagegen sind, ja, ihn als Mord betrachten, es sei denn, es gelte, das Leben der Mutter zu retten. Die Katholische Kirche vertritt heute die Ansicht (im Gegensatz zu ihren eigenen Lehren im Mittelalter), dass ein Embryo „vom Augenblick der Empfängnis an" menschliches Leben sei. Wissenschaftler sind sich jedoch keineswegs einig, ob sich ein solcher Augenblick definieren lässt und wann er anzusetzen wäre. Das scheint vor allem eine Frage der Definition zu sein. Wissenschaftlich wird die Empfängnis beim Menschen am besten nicht als plötzliches Ereignis dargestellt, sondern als langsamer und komplizierter Prozess, der mit der Vereinigung von Eizelle und Samenzelle beginnt und über die verschiedenen Entwicklungsstadien weiterführt, bis sich der Zellverband schließlich in der Uterusschleimhaut einnistet. Dieser Prozess ist von einer ganzen Reihe besonderer Umstände abhängig, die nicht immer gegeben sind. In manchen Fällen nimmt die Entwicklung einen völlig anderen Verlauf, es kommt nicht zur Implantation, und das befruchtete Ei löst sich auf. Deshalb spricht man in der allgemeinen medizinischen Fachsprache erst von einer Schwangerschaft, wenn die Implantation im Uterus stattgefunden hat.


Bis vor wenigen Jahren waren eingeleitete Schwangerschaftsabbrüche verboten. Aber selbst die restriktiveren Strafgesetze haben üblicherweise die weniger enge wissenschaftliche Auslegung des Begriffs der Empfängnis akzeptiert. So wurde die Benutzung der „Pille danach" oder von Intrauterin-pessaren nicht bestraft, obwohl sie erst nach einer möglichen Befruchtung eine Schwangerschaft verhindern. Auch die Tatsache, dass solche Mittel allgemein als Verhütungsmittel und nicht als Abtreibungsmittel eingeschätzt werden, lässt darauf schließen, dass die breite Öffentlichkeit die Auffassung der Katholischen Kirche nicht teilt. Unsere Gesetze haben auch niemals nach der Auffassung argumentiert, Abtreibung sei Mord. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte man Menschen, die eine Schwangerschaft abgebrochen haben, mit wesentlich höheren Strafen belegen müssen: mit dem Tode oder lebenslanger Haft. In der Realität fielen die Strafen jedoch immer weniger hart aus. Darüber hinaus stand oft die zentrale Person in dieser Straftat, die abtreibende Frau selbst nicht im Zentrum des Strafverfahrens. Solche Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten in der Rechtspraxis zeigen, dass ein


moderner weltlicher Staat nicht für einzelne moralische oder religiöse Auffassungen eintreten kann, sondern versuchen muss, einen Kompromiss zu finden. Ein Staat, der sich mit vielen Anhängern verschiedener, oft gegensätzlicher Auffassungen auseinandersetzen muss und ihre Interessen schützen will, kann diese Aufgabe nur dadurch bewältigen, dass er seine Rechtsprechung auf rationalen Grundlagen aufbaut. In der Frage des Schwangerschaftsabbruchs orientieren solche Entscheidungen ganz klar dahin, dass diese Frage ausschließlich sachkundiger medizinischer Beurteilung und dem Gewissen des einzelnen unterliegen sollte.


Man sollte sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die Verbotsgesetze gegen den Schwangerschaftsabbruch erst im späten 19. Jahrhundert erlassen wurden und dass dies vor allem medizinische Gründe hatte. Zu dieser Zeit war ein Schwangerschaftsabbruch eine gefährliche Operation, die sehr leicht zum Tode der Frau führen konnte. Die Möglichkeiten der Medizin sind in der Zwischenzeit erheblich verbessert worden, dass ein Abbruch zu Beginn der Schwangerschaft ein deutlich geringeres Risiko bedeutet als früher. Daher kann der Staat diese Schwangerschaftsabbrüche zulassen, was jedoch keineswegs bedeuten soll, dass Schwangerschaftsabbrüche empfohlen werden. Wer davon überzeugt ist, ein Schwangerschaftsabbruch sei Mord, kann ihn für sich persönlich ablehnen. Das erscheint unbedingt richtig, denn ein erzwungener Schwangerschaftsabbruch bedeutet, ebenso wie erzwungene Mutterschaft, einen Verstoß gegen die Grundsätze von Gleichheit, Freiheit und Selbstbestimmung. In der Vergangenheit war tatsächlich, bezogen auf Schwangerschaftsabbruch, eine offensichtliche Ungerechtigkeit an der Tagesordnung. Frauen, die finanziell in der Lage dazu waren, konnten in andere Länder fahren, wo sie jederzeit einen fachgerechten und legalen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen konnten. Es waren in der Mehrzahl die Armen und Unaufgeklärten, die die Konsequenzen einer unerwünschten Schwangerschaft oder eines gefahrvollen kriminellen Schwangerschaftsabbruchs zu tragen hatten.


Wenngleich die Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch inzwischen klar ist, sieht die Praxis noch sehr unterschiedlich aus. Es gibt immer noch Personen und Organisationen, die „das Recht auf Leben" für das Ungeborene verlangen und für eine verfassungsrechtliche Veränderung eintreten. Es steht außer Frage, dass vieles in dieser Bewegung hohen Idealen entspringt, denn prinzipiell sind Schwangerschaftsabbrüche nichts Erfreuliches und sie sollten nicht leicht genommen werden. Wer sich für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden muss, trifft immer eine zweischneidige Entscheidung. Außerdem ist, selbst wenn man Embryo und Fötus außer acht lässt, eine Abtreibung immer ein operativer Eingriff, der für die Frau mit der Gefahr von Komplikationen verbunden ist. Nur wenige kompetente Fürsprecher einer liberalen Handhabung der Abtreibung würden sie deshalb als Routineeingriff empfehlen. Es wäre demgegenüber viel sinnvoller, Voraussetzungen zu schaffen, die Schwangerschaftsabbrüche überflüssig machten. Dieses Ziel könnte jedoch nur durch eine planmäßige und breite Anwendung von Verhütungsmitteln erreicht werden.


So bleiben die Menschen, die den Schwangerschaftsabbruch mit Strafgesetzen bekämpfen wollen, wenig überzeugend, solange sie nicht bereit sind, Empfängnisverhütung zu unterstützen. Die derzeit gültige Rechtslage scheint jedoch vernünftig und praktikabel und eine vertretbare juristische Lösung eines nach wie vor ungelösten moralischen Zwiespalts.


Trotz aller moralischen Vorbehalte ist eines heute sicher: Jede Frau, die hierzulande legal ihre Schwangerschaft abbrechen lassen will, hat hierfür die Möglichkeit, wenn sie sich ausreichend bemüht. Unter keinen Umständen sollte sie sich in die Hände eines unausgebildeten, kriminellen Abtreibers begeben oder gar versuchen, selbst abzutreiben. Der einzig vernünftige Weg


116 Der menschliche Körper


zu einem legalen und fachgerechten Schwangerschaftsabbruch ist der Weg zum Arzt, In vielen Städten bieten daneben Familienplanungseinrichtungen, Initiativen, kirchliche Verbände, Frauenverbände und medizinische Beratungseinrichtungen Rat und Hilfe. Folgendes gilt es zu bedenken:


• Wenn es um einen Schwangerschaftsabbruch geht, wendet man sich an Fachleute.


• Je früher ein Abbruch vorgenommen wird, desto günstiger ist der Verlauf.


• Ein legaler und risikoarmer Abbruch kann im Krankenhaus oder in einer Arztpraxis durchgeführt werden.


• Ein unqualifizierter krimineller Abtreiber sollte in keinem Fall aufgesucht werden.


• Es sollte nie der Versuch unternommen werden, selbst abzutreiben.


 

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