Geschlecht und Geschlechtsrolle

9.1 Geschlecht und Geschlechtsrolle


An anderer Stelle des Buches wurde unterschieden zwischen


• dem biologischen Geschlecht (den männlichen oder weiblichen Körpermerkmalen),


• der Geschlechtsrolle (der sozialen Rolle als Mann oder Frau) und


• der sexuellen Orientierung (der Bevorzugung männlicher oder weiblicher Sexualpartner).


Dabei wurde ausgeführt, dass der Begriff „biologisches Geschlecht" Männlichkeit oder Weiblichkeit, der Begriff „Geschlechtsrolle" Maskulinität oder Femininität und der Begriff „sexuelle Orientierung" Hetero- oder Homosexualität bezeichnet. An dieser Stelle soll nur auf die beiden ersten Begriffe im Hinblick auf Frauen eingegangen werden. (Eine ausführlichere Diskussion dieser drei Begriffe findet sich in der Einleitung zu Kap, 6.)


Eingangs wurde erklärt, dass biologisches Geschlecht und Geschlechtsrolle nicht immer im Einklang miteinander stehen. Ein Mensch kann sehr wohl männlich und feminin oder weiblich und maskulin sein. Darüber hinaus haben wir gesehen, dass sowohl das biologische Geschlecht als auch die Geschlechtsrolle unterschiedlich stark ausgeprägt sein können: Menschen sind in dem Maße männlich oder weiblich, wie sie bestimmte Körperkriterien aufweisen. Menschen sind in dem Maße maskulin oder feminin, wie ihr Charakter und ihr Verhalten im Einklang mit bestimmten kulturellen und sozialen Normen ist. Wenn wir über das biologische Geschlecht eines Menschen befinden, also über seine Männlichkeit oder Weiblichkeit, dann untersuchen wir seinen Körper. Wollen wir seine Geschlechtsrolle bestimmen, also angeben, wie maskulin oder feminin er ist, dann untersuchen wir Charakter und Verhalten.


Ist der grundlegende Unterschied zwischen den Begriffen „biologisches Geschlecht" und „Geschlechtsrolle" einmal verstanden, ist der erste Schritt getan zum Verständnis dessen, was es heißt, „Mann" oder „Frau" zu sein. Das reicht jedoch bei weitem nicht aus. Wenn wir diesen Zusammenhang richtig verstehen wollen, müssen wir noch eine weitere Unterscheidung treffen: diejenige zwischen „Geschlechtsrolle" und „Geschlechtsidentität".


Bisher wurde „Geschlechtsrolle" allgemein als die männliche oder weibliche soziale Rolle definiert, das heißt wie sich Menschen maskulin oder feminin verhalten. Das ist jedoch eine zu große Vereinfachung, weil jede soziale Rolle zumindest zwei Aspekte hat: Man kann denjenigen, der eine Rolle spielt, danach beurteilen, wie er auf andere wirkt, aber auch danach, wie er auf sich selbst wirkt. Denn schließlich können Menschen eine Rolle spielen, ohne von ihr überzeugt zu sein. Sie können sich mit ihrer vorgegebenen Rolle identifizieren oder nicht.


Das gilt auch für die Geschlechtsrolle. Von Kindern mit männlichem Körper erwartet man beispielsweise, dass sie eine maskuline Rolle spielen, und in den meisten Fällen werden sie das von selbst tun. In manchen Fällen ist es jedoch möglich, dass diese Rolle nur oberflächlich und halbherzig ausgefüllt wird und dass ein männliches Kind sich trotz seiner äußeren Erscheinungsform insgeheim mit der weiblichen Rolle identifiziert. Diese feminine Selbsteinschätzung kann sich sogar im Laufe der Zeit als so stark erweisen, dass sowohl das „maskuline" Verhalten als auch die männlichen Körpermerkmale durch eine freiwillige „Geschlechtsumwandlung" aufgegeben werden. In diesen Fällen könnte man durchaus die Ansicht vertreten, dass es von Anfang an besser gewesen wäre, den „Jungen" als Mädchen zu erziehen. Glücklicherweise sind solche Fälle selten, aber sie zeigen, dass das hauptsächliche Kriterium weder die körperlichen Merkmale noch das Verhalten nach außen, sondern vor allem die Selbsteinschätzung des Betroffenen ist. Wenn wir daher von der „Geschlechtsrolle" sprechen, müssen wir von zwei verschiedenen Aspekten ausgehen:


• der Geschlechtsrolle (der männlichen und weiblichen sozialen Rolle) und


• der Geschlechtsidentität (der Einschätzung der eigenen Person als männlich oder weiblich),


Bei den meisten Menschen stimmen Geschlechtsrolle und -identität natürlich überein. So spielen zum Beispiel die meisten Frauen nicht nur eine feminine Rolle, sie fühlen sich auch als Frauen. Sie entwickeln und zeigen nicht nur feminine Eigenschaften, sondern glauben auch, dass diese der wirkliche Ausdruck ihres „Ichs" seien. Viele empfinden ihre Feminität aber auch als lähmend und einengend und versuchen, ihr eine neue Definition zu geben. Das bedeutet aber nicht, dass sie jede Weiblichkeit im Prinzip nicht akzeptieren; sie identifizieren sich mit ihrer Rolle und wünschen lediglich, nicht zu stark auf diese Rolle fixiert zu werden. Frauen mit wirklichen Problemen hinsichtlich ihrer Geschlechtsidentität sind selten. Wenn wir daher über soziale Zusammenhänge und ihre Auswirkungen auf Frauen im allgemeinen sprechen, können wir die Wechselbeziehung zwischen Rolle und Identität beiseite lassen und uns auf die umfassenderen Begriffe von Geschlecht und Geschlechtsrolle konzentrieren.


Wie wir gesehen haben, ist „Geschlecht" ein biologischer, „Geschlechtsrolle" ein psychologischer und sozialer Begriff. Geschlecht ist die Basis, auf der sich die Geschlechtsrolle aufbaut. Bei der Geburt eines Säuglings lässt sich durch einen Blick auf die äußeren Geschlechtsorgane sein Geschlecht meist bestimmen; unmittelbar danach beginnt die Entwicklung der Geschlechtsrolle. Zunächst mag die Geschlechtsrolle durch nichts weiter als durch den Vornamen ausgedrückt werden oder eine blaue oder rosa Decke. Bald beginnen jedoch verschiedene elterliche Verhaltensweisen, Zärtlichkeiten, Bestrafungen, Spiele, Spielzeuge, Kleidung, Haartracht, Bücher, Möbel, Schmuck usw. die verschiedenen Geschlechtsrollen von Jungen und Mädchen zu verdeutlichen. Verwandte, Freunde, Spielkameraden, Babysitter, Kinderschwestern und Lehrer zeigen dann, dass sie die Unterschiede als gegeben ansehen und verstärken sie ihrerseits. So lernen Kinder innerhalb ihrer ersten Lebensjahre nicht nur, sich selbst als männlich oder weiblich zu identifizieren, sondern sie nehmen auch das „richtige" maskuline oder feminine Verhalten an. Das bedeutet, dass die Geschlechtsrolle eines Menschen schon lange bevor er sich dessen bewusst wird, seinem Geschlecht „angepasst" wird und dann dauerhaft bestehen bleibt.


Theoretisch müssen aus den unterschiedlichen Geschlechtsrollen nicht unbedingt Probleme erwachsen. Sie könnten ein sehr erfreulicher Aspekt des menschlichen Zusammenlebens sein, aber in der Praxis sind sie, wie immer mehr Menschen bewusst wird, der Ausdruck von Ungerechtigkeiten und fehlender Gleichberechtigung. In vielen Gesellschaftsformen, einschließlich unserer eigenen, wird dem weiblichen Geschlecht ein niedrigerer sozialer Status zugewiesen als dem männlichen, femininen Eigenschaften wird weniger Respekt entgegengebracht als maskulinen. Für Frauen wird damit ihre Geschlechtsrolle zum Zeichen eines minderen Ranges. Männer hingegen fassen ihre maskuline Geschlechtsrolle wie selbstverständlich als Garantie für ihre beherrschende Position auf. Das heißt, dass die Geschlechtsrolle auch im Zusammenhang mit sozialer Macht und Ohnmacht steht. Letzten Endes offenbart sie sich damit als eine vor allem politische Frage.


Die moderne Frauenbewegung hat daher seit langem die politische Erziehung von Frauen und ihre Beteiligung am öffentlichen Leben gefordert. Sie hat für das Frauenwahlrecht gekämpft, in der Hoffnung, hierdurch - und durch eine Reihe weiterer politischer und anderer Rechte - das herrschende Ungleichgewicht der Kräfte zwischen den Geschlechtern zu verändern. Darüber hinaus haben Feministinnen seit langem die Ansicht vertreten, dass mit der Erlangung gleicher Rechte Frauen und Männer auch unter vielen anderen Aspekten als gleich erscheinen werden. Bestimmte Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden natürlich immer bestehen bleiben, aber die gegenwärtigen Unterschiede der Geschlechtsrolle werden sicherlich weniger deutlich und wichtig sein. Es wird jedenfalls interessant sein zu sehen, was von ihnen übrigbleibt.


Die grundlegenden biologischen Fakten sind unbestritten: Kinder gebären und stillen kann nur die Frau; Männer sind im allgemeinen größer, stärker und schneller. Der erwachsene Mann hat einen höheren Androgenspiegel als die erwachsene Frau, Die Menschen geben sich jedoch nie damit zufrieden, diese Tatsachen einfach festzustellen; sie ziehen daraus immer - oft voreilige - interpretierende Schlüsse in bezug auf psychische Auswirkungen. So ist der feminine Charakter in unserer Gesellschaft als passiv, unterwürfig, schwach, impulsiv und sentimental definiert, während der maskuline Charakter mit Aktivität, Aggression, Stärke, Selbstkontrolle und Vernunft gleichgesetzt wird. Männer gelten daher als diejenigen, die besser kämpfen, Gewichte heben, technische Probleme bewältigen und abstrakter denken können. Frauen sollen dadurch ausgezeichnet sein, dass sie Kinder erziehen, kleine komplizierte Instrumente besser handhaben, eine Wohnung dekorieren und einfühlsame Gespräche führen können. Dies sind höchst fragwürdige Verallgemeinerungen, aber selbst wenn wir sie als zutreffend annähmen, müssten wir immer bedenken, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich ist zu sagen, ob sie auf biologisches Erbgut oder auf soziale Lernprozesse zurückzuführen sind. Denn tatsächlich werden das männliche und das weibliche Geschlecht von Geburt an unterschiedlich behandelt. Solange diese Ungleichbehandlung fortbesteht, wird der „wahre" Charakter solcher Eigenschaften immer eine Frage von Vermutungen bleiben.

 


Andersgeschlechtliche Kleidung in der Geschichte:


Der griechische Dichter Homer berichtet, dass Achilles als Mädchen aufgezogen wurde und Frauenkleider trug, bis er in den Krieg gegen Troja zog. Neben solchen legendären Gestalten sind viele historische Persönlichkeiten bekannt, die Kleidung des anderen Geschlechts trugen. Diese Beispiele reichen vom heidnischen römischen Kaiser Heliogabal (3. Jh. n. Chr.) bis zum christlichen Abbé de Choisy (17. Jh. n. Chr.), von der bäuerlichen Jungfrau von Orleans (15. Jh. n. Chr.) bis zur Königin Christina von Schweden (17. Jh. n. Chr.). Sicher hatten diese Menschen nicht alle die gleichen Beweggründe für ihr Verhalten, und es wäre sicher viel zu einfach, sie alle als „Transvestiten" zu bezeichnen. Wahrscheinlich waren einige von ihnen transsexuell, anderen machte es Freude, ihre Zeitgenossen zu schockieren, anderen gefiel die andersgeschlechtliche Mode aus noch anderen, nichtsexuellen Gründen. Manche kleideten sich nur eine Zeitlang wie das andere Geschlecht und gaben später dieses Verhalten wieder auf.


(Oben links) Edward Hyde, Lord Cornbury, kolonialer Gouverneur von New York und New Jersey. Er war biologisch ein Mann, liebte es jedoch, Frauenkleider zu tragen und so auch öffentlich zu erscheinen. Das hier abgebildete offizielle Portrait bezeugt die Selbstverständlichkeit, mit der er zu dieser Vorliebe stand, und die Toleranz seiner Zeitgenossen.
(Oben rechts) George Sand (Lucille Aurore Dupin), französische Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts. Sie war biologisch eine Frau, nahm jedoch einen Männernamen an und kleidete sich entsprechend. Eine Zeitlang genoss sie ihre so erreichte Freiheit und ihren zwielichtigen Ruf, führte jedoch später wieder ein konventionelleres Leben.

(Unten) Der Chevalier d'Eon, französischer Diplomat des 18. Jahrhunderts und bekannter Degenfechter. Er war biologisch ein Mann, wechselte aber im Laufe seiner Karriere mehrmals von der männlichen zur weiblichen Geschlechtsrolle und lebte zeitweilig als Mann (links), zeitweilig als Frau (rechts). Mit seinem fechterischen Können trat er jedoch in beiden Geschlechtsrollen hervor.


 


Anthropologen haben inzwischen Gesellschaften gefunden und beschrieben, in denen die maskuline und feminine Rolle fast gegensätzlich zur unsrigen ist, das heißt, wo die Frauen kämpferische Ernährer und die Männer geduldig-passive Haushalter sind. (Vgl. zum Beispiel Margaret Mead mit ihrer Untersuchung „Geschlecht und Temperament in drei primitiven Gesellschaften".) Darüber hinaus kann man bei vielen „unterentwickelten" Völkern beobachten, dass Frauen als Wasserträger arbeiten und dass man von ihnen verlangt, schwere Gewichte über große Strecken zu tragen. Viele von ihnen betreiben unter „Anleitung" ihrer Männer Ackerbau und Fischfang, Die leichteren Arbeiten behalten sich die Männer selbst vor.


Auch in unserer Gesellschaft überlässt mancher Mann seiner Frau und seinen Töchtern die schwere Arbeit, während er sie gleichzeitig als das „schwache Geschlecht" bezeichnet. Machtverhältnisse müssen eben keinen logischen Sinn ergeben, sie werden nicht schon dadurch verändert, dass sie einer rationalen Betrachtung nicht standhalten. Schon im alten Rom vertrauten die reichen Bürger die Erziehung ihrer Nachkommen Sklaven an, die sie eigentlich als minderwertig verachteten, und die späteren unumschränkten Herrscher Europas benutzten Männer von „niederer Geburt", um ihre Länder zu verwalten und damit die Überlegenheit aristokratischer Herrschaft zu beweisen. Vom rein logischen Standpunkt aus ist es schwierig, die heute mit unseren Geschlechtsrollen verbundene Zuweisung von Eigenschaften zu rechtfertigen oder deren weitverbreitete Anerkennung zu erklären. Man kann nur feststellen, dass diese Einteilung besteht und dass sie sich oft in Verunglimpfung und Unterdrückung von Frauen ausdrückt.


Männliches Privileg und weibliche Unterdrückung haben wiederum ihre Auswirkungen auf die maskulinen und femininen Charaktereigenschaften. Viele Männer entwickeln in ihrer Maskulinität einen fanatischen und angstvollen Stolz, der sie in nahezu allen Handlungen beeinflusst und einschränkt. Diese Haltung, die auf andere bedrohlich oder lächerlich wirken kann, wird am besten mit dem spanischen Begriff „machismo" bezeichnet (von span. macho: männliches Tier). Frauen dagegen müssen eine unrealistische Idealvorstellung „reiner Weiblichkeit" anstreben, die sie jeglicher Initiative beraubt und sie der Ungerechtigkeit sexueller Doppelmoral preisgibt.


 

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