Die doppelte Moral

9.2 Die doppelte Moral


Der Begriff „doppelte Moral" bezieht sich auf die Tatsache, dass wir unterschiedliche Normen für das Sexualverhalten von Männern und Frauen haben. Das bedeutet, dass nicht nur in unserer, sondern auch in den meisten anderen Gesellschaften über lange Zeit Frauen größere sexuelle Beschränkungen auferlegt wurden als Männern. Mädchen und Frauen wurden traditionell in ihren sexuellen Möglichkeiten erheblich eingeschränkt, um sich „rein" und „unschuldig" zu bewahren. Jungen und Männer hingegen wurden immer dazu angehalten, sich „die Hörner abzustoßen", wie es ihre „animalische Natur" verlangte. Aus diesem Grunde wurden Frauen für die kleinste sexuelle Übertretung gestraft, während man Männern erhebliche sexuelle Freiheiten zugestand. Heute ist diese doppelte Moral vor allem in Form indirekter sozialer Unterdrückung wirksam, aber auch durch Moralvorschriften, Verhaltensregeln Sitten, Gewohnheiten und Tabus. In der Vergangenheit fand sie direkte und brutale Anwendung, indem Männer ihre Frauen, Töchter und Schwestern wegen „ungebührlichen" sexuellen Verhaltens schlugen oder gar töteten. Das Gesetz, von Männern gemacht, verteidigte den männlichen Standpunkt und sorgte dafür, dass weiblicher Ehebruch und der Verlust der „Jungfräulichkeit" vor der Ehe hart bestraft wurden. Ehebruch und Vergewaltigung von seiten der Männer wurden nur in dem Ausmaß bestraft, in dem hierdurch die Rechte anderer Männer verletzt wurden. Das bedeutet, dass die Frauen als „Besitz" ihren Vätern, Ehemännern oder Brüdern gehörten. Wenn also der Wert einer Frau durch Ehebruch oder Vergewaltigung gemindert worden war, musste man ihrem Herrn den Schaden ersetzen. Zum Beispiel war im alten Israel der Verführer eines Mädchens verpflichtet, ihrem Vater „Geld im Werte einer Jungfrauenmitgift" zu zahlen. Und selbst noch im England des 19. Jahrhunderts konnte ein Ehemann rechtmäßig eine finanzielle Entschädigung vom Verführer seiner Frau verlangen.


Die „doppelte Moral" erweist sich in diesem Zusammenhang also nicht mehr nur als eine Frage sexueller Moral. Sie weist auf einen grundlegenderen Sachverhalt hin, den man in jüngerer Zeit als „Sexismus" bezeichnet. Sexismus ist eine Einstellung, die das Geschlecht einer Person zur Grundlage aller möglichen sozialen Diskriminierungen macht. Moderne Frauenrechtlerinnen haben hierfür auch den Hegriff des „männlichen Chauvinismus" geprägt (nach dem überpatriotischen Franzosen Chauvin). und sie bezeichnen damit ein fanatisches und uneinsichtiges Bestehen auf männlichen Privilegien.


Dabei haben die männlichen Privilegien eine lange Geschichte und sind mit unseren gesellschaftlichen Institutionen nach wie vor eng verflochten. Ursprünglich reflektierte die doppelte sexuelle Moral die Tatsache, dass Männer nahezu umfassende ökonomische, juristische und sexuelle Macht über die Frauen hatten. Die Gesellschaft war so organisiert, dass die Frauen von ihren Männern abhingen, die alle wichtigen Entscheidungen trafen. Die Männer hatten politische, religiöse und kulturelle Autorität, während die Frauen sich auf den häuslichen Bereich beschränkten und in öffentlichen Angelegenheiten kein Mitspracherecht hatten, das heißt, sie lebten in einem sozialen System, das man als Patriarchat (griech. wörtl. „Vater-Herrschaft") bezeichnet.


Dieses Patriarchat hat sich natürlich in der Zwischenzeit gewandelt. Einige der schlimmsten Auswüchse sind korrigiert worden, aber vor allem Frauen können feststellen, dass es im Prinzip bis zum heutigen Tage überlebt hat. Von vielen Männern wird es nach wie vor als „natürlich" und unumgänglich verteidigt. Sie führen geschichtliche und anthropologische Beweise an, dass das Patriarchat seit frühester Zeit eine universelle Einrichtung sei. Diese Ansicht ist jedoch in den letzten 100 Jahren wiederholt in Frage gestellt worden, Verschiedene Wissenschaftler haben behauptet, die gesamte Menschheit habe in einer fernen Vergangenheit unter dem menschlicheren System des Matriarchats („Mutter-Herrschaft") gelebt und so sei unsere patriarchalische Kultur kaum mehr als eine bedauerliche Abweichung von der gesunden Ordnung der Dinge. In dem hier vorliegenden Zusammenhang ist es nicht notwendig, in der Auseinandersetzung Partei zu ergreifen, aber man muss feststellen, dass bis heute kein endgültiger Beweis eines matriarchalischen Systems, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart, gefunden worden ist. Man fand in der Tat eine Anzahl matrilinearer Systeme, das heißt Gesellschaftsformen, wo die familiäre Abstammung von der Mutter her bestimmt wird. Das gibt der Mutter zweifelsohne einen besonderen Status, muss aber nicht unbedingt heißen, dass es ihr eine beherrschende Rolle zuteilt. Eine Gesellschaft kann durchaus zugleich matrilinear und patriarchalisch sein.


 

Schönheitswettbewerbe


Schönheitswettbewerbe unter Männern und Frauen sind bei vielen Völkern von alters her bekannt.


Das Urteil des Paris (oben). Der erste und berühmteste Schönheitswettbewerb unter Frauen im westlichen Kulturkreis fand zwischen den griechischen Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite statt, die den trojanischen Schafhirten Paris zu ihrem Schiedsrichter machten. Weil er sich außer Stande sah, sich für eine von ihnen zu entscheiden, machten sie ihm verschiedene Versprechen. Er erwählte schließlich Aphrodite, die ihm die Liebe der Helena versprach, der Frau des Königs von Sparta, Menelaos, die damals als schönste Frau der Welt galt. So führte das Urteil des Paris zum Trojanischen Krieg. - Das hier gezeigte Gemälde stammt von Peter Paul Rubens (17. Jahrhundert).


Die Insel der Frauen (unten). Dieses Bild von Hiroshige, einem japanischen Künstler des 19. Jahrhunderts, betont die sexuellen Aspekte von Schönheitswettbewerben. Das Bild stammt aus einer Geschichte von drei Fischern, die schiffbrüchig auf einer nur von Frauen bewohnten Insel landen. In der dargestellten Szene werden die drei von der Herrscherin der Insel begutachtet, die einen von ihnen als Liebhaber auswählen will.


Dennoch zeigt die einstmals recht große Verbreitung matrilinearer Systeme etwas hier relevantes auf: Es ist sehr viel einfacher, „natürlicher" und genauer, die familiäre Abstammung von der Mutter abzuleiten als vom Vater. An der Mutter eines Kindes besteht nie ein Zweifel, während der Vater oft schwer zu ermitteln ist. Daraus folgt, dass ein patrilineares System nur dann anwendbar ist, wenn Frauen so lückenlos kontrolliert werden, dass man jede ihrer Schwangerschaften auf den richtigen Vater zurückführen kann. Das beste wäre daher, wenn sie „unberührt" in die Ehe gingen und ihren Partnern „treu" blieben. Vor- und außereheliche Beziehungen einer Frau müssen aus dem gleichen Grunde ihren Ehemann vor die Frage stellen, ob er der Vater seiner Kinder ist. Es könnte schließlich sein, dass er zwar ihr legitimer und offizieller, nicht aber ihr biologischer Vater ist. Zwar sind in manchen Gesellschaften die Väter um ihre biologische Vaterschaft wenig besorgt und geben sich mit ihrer offiziellen Rolle zufrieden, in vielen anderen Gesellschaften aber, einschließlich der unsrigen, haben Männer traditionsgemäß darauf bestanden, ihr „eigen Fleisch und Blut" aufzuziehen. Diese Gewissheit konnten sie indes nur erlangen, indem sie ihren Frauen jede sexuelle Freiheit untersagten. Folgerichtig waren bei uns die Gesetze und Moralvorschriften für Frauen immer strenger als für Männer.


Merkwürdigerweise hat es bis ins frühe 20. Jahrhundert noch Menschen gegeben, denen die Tatsache, dass Schwangerschaft durch Geschlechtsverkehr verursacht wird, nicht bewusst war. Für sie konnte die biologische Vaterschaft kaum zur Streitfrage werden. Sie glaubten statt dessen, dass eine Frau durch einen Geist schwanger würde, der beim Schwimmen oder Baden oder bei anderer Gelegenheit in ihren Körper fahre. Für diese Naturvölker hatten Sexualität und Fortpflanzung nichts miteinander zu tun, mit Ausnahme eines Stammes, bei dem die Menschen glaubten, der Mann müsse den Fötus ernähren, indem er seinen Samen in die Scheide der schwangeren Frau abgibt.


Wir wissen nicht, zu welchem Zeitpunkt der Entwicklung den Menschen die Verbindung zwischen Koitus und Schwangerschaft bewusst wurde. Wir können jedoch davon ausgehen, dass die meisten Gesellschaften dies schon vor langer Zeit entdeckt haben. Wir wissen auch, dass unterschiedliche Völker verschiedene Schlussfolgerungen aus dieser Entdeckung zogen. Einige waren der Auffassung, dass die weibliche Rolle bei der Fortpflanzung besonders wichtig sei. Daher spielten dann Männer auch nur eine periphere Rolle. Bei anderen Gesellschaften wurde beiden Geschlechtern gleiche Bedeutung zugemessen. Wieder andere erachteten den männlichen Beitrag als entscheidend. Dieser Standpunkt wurde in unserer westlichen Zivilisation schließlich durchgehend akzeptiert. Der weibliche Körper galt lediglich als Gefäß für den „Lebenssaft" des Mannes. Frauen waren der Boden, auf dem die Männer ihren „Samen" aussäten (auch diese Wortwahl weist noch heute auf eine solche Vorstellung).


So fanden sich Frauen alsbald in einer untergeordneten, zweitrangigen Stellung. Ihre Kinder gehörten in Wirklichkeit nicht ihnen, sondern den männlichen „Befruchtern", ebenso wie die Getreideernte dem Bauern gehört, der sie ausgesät hat, nicht dem Feld. Es gab in der Tat Zeiten, in denen man glaubte, jeder Tropfen Samen enthalte ein winziges Menschenwesen, einen „Homunculus", der nach seiner Ablagerung im Leib der Frau wie eine Blume im Blumenbeet heranwachse. Auf jeden Fall war die Frau im gesamten Fortpflanzungsprozess kaum mehr als ein passiver Nährboden. Sie nährte das Leben lediglich, erschuf es aber nicht. Der wahre Erzeuger war der Mann. Dieser allgemeine Vorstellungswandel spiegelte sich natürlich auch in der Religion wider. Ursprünglich hatten die Menschen fast in der gesamten Antike einer großen oder einer lebensspendenden Göttin der Wiedergeburt und Fruchtbarkeit gehuldigt, wie etwa der Istar (in Babylon), Astarte (in Phönizien), Kybele (in Phrygien) und Isis (in Ägypten). Die Funktionen dieser


großen weiblichen Gottheiten wurden indes nach und nach von männlichen Ebenbildern übernommen. Unter den hebräischen Nomaden entstand zum Beispiel ein neuer Glaube, der später vom Christentum übernommen wurde und so einen großen Einfluss auf die Geschichte der westlichen Zivilisation hatte: der Glaube an den männlichen Gott Jahwe, der die Welt erschuf und Adam, den ersten Menschen. Jahwe schuf auch die Frau Eva aus der Rippe Adams zu dessen Gefährtin. Eva ließ sich jedoch von der Schlange verführen und wurde damit der Grund für Adams Sündenfall.


Zwangsläufig wurde der Frau, da sie der kreativen Rolle beraubt war und ihr die Verantwortung für die Erbsünde aufgebürdet wurde, ein niederer sozialer Status zugewiesen. Im alten Israel nannte eine Ehefrau ihren Mann „Herr" ('adôn) oder „Meister" (ba'al). Während er sie verstoßen durfte, stand ihr kein solches Recht zu, sie blieb vielmehr ihr Leben lang unmündig. Die zehn Gebote registrieren die Frau als Besitz des Mannes. Daher überrascht es nicht, dass Männer in einem traditionellen jüdischen Gebet Gott bitten: „. . . wohl dem, dessen Kinder männlich, und wehe dem, dessen Kinder weiblich sind". Und froh wiederholen sie jeden Tag: ,,. . . gepriesen (sei Gott), dass er mich nicht als Weib geschaffen hat".


Im antiken Griechenland ging es den Frauen kaum besser. Im frühen Heldenzeitalter besaßen die griechischen Frauen ein gewisses Maß an Freiheit, aber zur Zeit des Perikles (5. Jahrhundert vor Christus) glich ihr Dasein dem der Haussklaven. Eine Ausnahme machte der militaristische Staat Sparta, in dem sich Frauen bestimmter Privilegien erfreuten. Gemeinsam mit allen Männern unterlagen sie jedoch einem totalitären Regime. In der römischen Republik wurden die Frauen ebenfalls von ihren Ehemännern und Vätern beherrscht. Erst in der Zeit der römischen Kaiser gelang ihnen ein Stück Emanzipation. Die Bekehrung Europas zum Christentum bewirkte für die Befreiung der Frauen sehr wenig. In bezug auf Ehe und Ehescheidung versagte man ihnen sogar die Rechte, die sie zuvor hatten. Lediglich in einigen „unzivilisierten" nordischen Ländern sorgte die Kirche für etwas mehr sexuelle Gleichberechtigung. Im Prinzip wurden die Frauen jedoch immer noch als minderwertig betrachtet. In den Gemeinden waren sie respektiert und gern gesehen, solange sie sich „sittsam" und „anständig" verhielten, aber sie hatten weder in religiösen noch in öffentlichen Fragen ein Mitspracherecht. Das drückte der Apostel Paulus so aus: „Ich lasse euch aber wissen, dass Christus ist eines jeglichen Mannes Haupt; der Mann aber ist des Weibes Haupt ... der Mann aber ... ist Gottes Bild und Ehre; das Weib aber ist des Mannes Ehre. Denn der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib ist vom Manne" (1. Korinther 11; 3-9). Paulus fährt fort: „. . . lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sie sollen Untertan sein, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie aber etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es stehet den Weibern übel an, in der Gemeinde zu reden" (1. Korinther 14; 34-35),


Im Gegensatz zu älteren, „heidnischen" Religionen schloss das Christentum die Frauen vom Priesteramt und anderen Kirchenämtern aus. Gleichzeitig erwartete man von ihnen, dass sie den Männern im Hause dienstbar seien. Das einzige und eher verspätete religiöse Zugeständnis an das weibliche Geschlecht war der Kult um die Jungfrau Maria, der im Laufe des Mittelalters entstand. Maria, unbefleckt von sexuellen Erlebnissen, diente als Gottes Werkzeug, indem sie seinen Sohn gebar. So konnte sie zur Erlösung der Menschheit beitragen und die Schuld Evas zum Teil wiedergutmachen. Dies verlieh der Frau in den Augen der Gläubigen neue Würde. In der höfischen Liebe und im Kult des Rittertums wurde das weibliche Mysterium noch weiter verehrt. In Dichtung und Gesang priesen die Troubadoure und andere sinnesfrohe Männer die Tugenden ihrer vornehmen, untadeligen und weitgehend unerreichbaren Damen. Gleichwohl standen die Jungfrau Maria und die „edlen Damen" der mittelalterlichen Poeten für Treue, Reinlichkeit und Schicklichkeit, und sie versinnbildlichten damit nur den passiven Aspekt des Frauseins. Der aktive, bejahende und sinnliche Aspekt wurde durch das Bild von der Frau als Verführerin und sexuell unersättlichem Tier verkörpert, das ihrem Opfer die lebenserhaltenden Säfte entzog und es in ewige Verdammnis führte. Für diese Vorstellung lieferte die Bibel, besonders das Alte Testament, die entsprechende Ideologie. Christliche Frauenverächter zitierten beifällig den Prediger Salomon:... . . und fand, dass bitterer sei denn der Tod ein solches Weib, dessen Herz Netz und Strick ist und deren Hände Bande sind. Wer Gott gefällt, der wird ihr entrinnen; aber der Sünder wird durch sie gefangen" (Prediger 7; 26).


Die Angst vor der Frau als Verführerin wurde schließlich so groß, dass sie in offene Aggression umschlug. Man beschuldigte zunehmend Frauen, mit dem Teufel im Bunde zu sein, und folterte sie, bis sie gestanden. Dann wurden sie verbrannt, gehenkt oder ais Hexen ertränkt. Im Jahre 1486 erklärten die Dominikaner Sprenger und Krämer in ihrer Abhandlung über Hexerei „Malleus Maleficarum" (der Hexenhammer):


„Was sonst ist die Frau, als ein Widersacher der Freundschaft, eine unentrinnbare Strafe, ein notwendiges Übel, eine natürliche Versuchung... ein Übel der Natur, gemalt in schönen Farben! . . . Intellektuell sind Frauen wie Kinder. . . ein natürlicher Grund ist, dass Frauen fleischlicher sind als Männer . . . Und es sollte beachtet werden, dass bei der Gestaltung der ersten Frau ein Fehler gemacht wurde, denn sie wurde aus einer krummen Rippe geformt, das heißt einer Brustrippe, die so gekrümmt ist, dass sie in die entgegengesetzte Richtung des Mannes weist. Da sie aber durch diesen Mangel ein fehlerhaftes Tier ist, täuscht sie immer. Frauen haben auch ein schlechtes Gedächtnis, und ihnen wohnt ein natürlicher Feind inne, der nicht zu züchtigen ist."


Die Hexenverfolgung hielt mehrere Jahrhunderte sowohl in katholischen als auch in protestantischen Ländern an und forderte Tausende von Frauen als Opfer. Erst im Zeitalter der Aufklärung verschwand die Angst vor weiblicher Hexerei aus den Köpfen männlicher Christen.


Die „aufgeklärten" Philosophen und Schriftsteller des 18. Jahrhunderts versuchten, das Bild der Frau in eine humanere Dimension zu rücken. Für sie waren Frauen weder unbefleckte Heilige noch teuflische Verführerinnen, sondern eher erfreuliche und nützliche Gefährtinnen, Sie behandelten sie mit Bewunderung und Höflichkeit, wenngleich nur sehr wenige von ihnen sie als naturbedingt gleichwertig ansahen. Jean-Jaques Rousseau sprach eigentlich für die meisten Männer seiner Zeit, als er im „Emile" (1762) erklärte: „Der Mann sollte stark und aktiv sein; die Frau . . . sanft und passiv ... Die Natur selbst sieht vor, dass Frauen . . . dem Urteil des Mannes preisgegeben sein sollten .. . geniale Werke sind außerhalb ihrer Reichweite, und sie haben weder die Genauigkeit noch die Aufmerksamkeit, um in den exakten Wissenschaften erfolgreich zu sein . . . Die Ungleichheit der von Männern gemachten Gesetze . . . rührt nicht vom Machen des Mannes her, oder ist auf jeden Fall nicht das Ergebnis bloßen Vorurteils, sondern das der Vernunft." Ihrem Wesen nach ist diese Ansicht vom weiblichen Intellekt sicher kaum anders als die der frühen Hexenjäger. Rousseaus „Natur" und „Vernunft" waren nicht natürlicher oder vernünftiger als im Mittelalter.


Unter diesen Umständen bestand für die Männer wenig Veranlassung, die sexuelle Doppelmoral aufzugeben. So erinnert sich James Boswell im Jahre 1791 in seiner Biographie über „Das Leben des Doktor Samuel Johnson", wie dieser bedingungslos das patriarchalische und patrilineare System verteidigte und wie folgt über den Ehebruch sprach: „Die Verwirrung über die Nachfahren stellt den wesentlichen Gehalt dieses Verbrechens dar. Daher ist eine Frau, die ihr Ehegelübde bricht, sehr viel schlimmer als ein Mann, der dies tut," Andererseits ging Doktor Johnson aber auch davon aus, dass es einer Frau leichter falle, treu zu sein, weil er annahm, dass ihr sexuelles Verlangen weniger drängend sei. Frauen mussten tugendhafter sein als Männer oder, wie er es Boswell einmal erklärte: ,,. . . Frauen geraten nicht in die gleichen Versuchungen wie wir: sie können immer in tugendhafter Gesellschaft leben; Männer müssen wahllos in der Welt verkehren."
 


Sexuelle Herrschaft


Zwar hat tatsächlich das männliche Geschlecht zu fast allen Zeiten über das weibliche Geschlecht die Vorherrschaft ausgeübt, die traditionelle Malerei hat jedoch viele Bilder geschaffen, in denen auch der umgekehrte Fall dargestellt wird. Die hier gezeigten Bilder sollen beides veranschaulichen.


(Oben) Der Holzschnitt von Hans Baldung Grien aus dem 16. Jahrhundert zeigt die berühmte Anekdote von dem Philosophen Aristoteles, der für die Prostituierte Phyllis ein Pferd spielt. Dieses Thema, die Schönheit, die die Weisheit besiegt und lächerlich macht, findet sich in der Literatur vieler Kulturen.

(Unten) Dieser Holzschnitt aus dem 17. Jahrhundert verspottet die nahezu absolute und gesetzlich verankerte Macht der Männer über ihre Ehefrauen. - Das Bild ist auch aus zwei weiteren Gründen bemerkenswert: 1. Es zeigt das Innere eines großen Wohnhauses der damaligen Zeit, mit seinen offenen, für verschiedenste Zwecke genutzten Räumen zum Kochen, Kartenspiel, Spinnen, Kinderwiegen und zum Empfang von Gästen (vgl. a. Kap. 11.2 „Die Familie in historischer Sicht"). 2, Das Bild zeigt auch, dass in früheren Jahrhunderten „Unterwäsche" für Frauen unbekannt war und unter den Röcken keine „Slips" oder „Höschen" getragen wurden.



Der Kampf der Geschlechter


Die komischen Bilder einer Pergamentrolle des Malers Kuroda Seiki (1866 - 1924) zeigen ganz drastisch den "Kampf der Geschlechter" als Ringkampf im Stil des Sumo.

 



Natürlich war Doktor Johnson der Inbegriff des Bourgeois, und was seine Bemerkungen über den Mangel an Versuchung für Frauen angeht, so traf dies bis zu einem gewissen Grade für die damalige Zeit zu. Die emporsteigende Bourgeoisie fesselte ihre Frauen ans Haus und schloss ihre Töchter ein, um sie vor Einflüssen von außen zu schützen. Das Familienleben wurde intimer und ausschließlicher. Außenstehende bat man, die Privatsphäre der Familie und die „Heiligkeit der Familie" zu respektieren. In der Folge wurden die Frauen noch abhängiger und noch mehr an die Familie gebunden als je zuvor. Tatsächlich wurde ihr Leben im Laufe des folgenden Jahrhunderts so eingeschränkt, dass man oft den Eindruck gewann, sie seien engstirnig, unverständig und leidenschaftslos. Und so entstand - in völliger Umkehr des Bildes, das man früher von ihnen hatte - der Eindruck, sie seien weniger „sinnenfroh" als Männer. Ohne Angst vor Widerspruch versicherte daher der englische „Sexualexperte" des 19. Jahrhunderts, Sir William Acton, in seiner Studie „Funktion und Krankheiten der Fortpflanzungsorgane" (1875) seinen männlichen Lesern:,,.. . die Mehrheit der Frauen ist (zum Glück der Gesellschaft) nicht sehr von sexuellen Gefühlen, gleich welcher Art, geplagt.. . die besten Mütter, Ehefrauen und Verwalterinnen des Haushalts wissen wenig oder gar nichts von sexueller Befriedigung. Die Liebe zu Haus, zu Kindern und zu den häuslichen Pflichten ist die einzige Leidenschaft, derer sie fähig sind."


Ohne Zweifel akzeptierten nicht nur die englischen Männer des 19. Jahrhunderts, sondern auch viele Frauen diese „wissenschaftliche" Auffassung, Auch wenn sie selbst nicht in dieses Klischee passten, suchten die Frauen die Fehler bei sich selbst und bemühten sich, sie zu berichtigen oder zumindest zu verheimlichen. Dennoch machte die sexuelle Unterdrückung und Selbstunterdrückung viele von ihnen unglücklich oder krank. Das zeigte sich auch in den zahlreichen Fällen weiblicher „Hysterie" gegen Ende des Jahrhunderts. Einige bürgerliche Frauen waren jedoch außerhalb des sexuellen Bereichs schon lange anspruchsvoller geworden. Die Französische Revolution von 1789 hatte die Hoffnung der Frauen auf volle gesetzliche Gleichberechtigung geweckt; und obwohl diese Hoffnungen später zerschlagen wurden, fuhr doch eine Reihe von Feministinnen fort, für das Stimmrecht der Frauen zu kämpfen. Tatsächlich war zur Zeit Actons der Kampf um das Frauenwahlrecht sowohl in Europa als auch in Nordamerika längst im Gange. Die meisten „Suffragetten" waren „ordentliche" und „respektable" Frauen, die sich nicht länger mit ihrer häuslichen Rolle zufrieden gaben. Und sie standen nicht allein. Immer mehr Frauen entwickelten ein politisches Bewusstsein und lernten so, ihren minderwertigen Status abzulehnen. Dies wiederum verhalf ihnen zu der Erkenntnis, dass nicht nur die soziale Diskriminierung, sondern auch die geschlechtliche Doppelmoral abgeschafft werden müsste und dass dies für Männer und Frauen nützlich sein könnte. Die Frauen erkannten, dass es ohne die Emanzipation der Frau keine wirklich akzeptablen, neuen politischen, ökonomischen und sexuellen Wert-Systeme geben konnte. So wurde der Kampf um sexuelle Gleichberechtigung immer mehr auch ein Kampf um eine menschlichere Gesellschaft. Durch die Befreiung der Frauen sollten so auch ihre Unterdrücker befreit werden. Die grundlegende feministische Auffassung wurde im Laufe der Jahre immer wieder neu artikuliert. Der französische Sozialutopist Charles Fourier fasste sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts wohl am treffendsten zusammen: „Das Maß, in dem Frauen emanzipiert sind, ist wohl der natürliche Maßstab der allgemeinen Emanzipation."

 

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